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FÜNF
 
Nachdem alle verschwunden waren – im Ernst, sie waren in zig Millionen verschiedene Richtungen losgezogen -, beschloss ich, den Rat der Cheerleaderin zu befolgen, und versuchte, auszusehen wie jemand, der hier einfach nur rumhing. Aber in Wahrheit war das natürlich alles nur Show. Innerlich war ich unruhig und fühlte mich zutiefst gedemütigt, während ich hier ganz allein herumstand und vollkommen verloren und ratlos aussah.
Wie eine totale Versagerin am ersten Tag in meiner neuen Schule.
Und ich wusste, dass jeder, der mich jetzt sah, sich meiner Meinung anschließen würde.
Ich ließ mich auf eine kunstvoll geschnitzte Holzbank fallen und tat so, als würde ich mich nur um meinen eigenen Kram kümmern, während ich die wasserspeienden Putten aus Stein, die den Brunnen vor mir umringten, betrachtete und eigentlich darüber nachdachte, was die Cheerleaderin wohl gemeint haben konnte, als sie gesagt hatte, dass die richtige Person mich finden und mir den Weg zeigen würde.
Meinte sie so etwas wie einen Fremdenführer?
So etwas wie einen Berater oder eine Art Schutzengel?
Und wenn das so war, musste ich irgendetwas unternehmen, um denjenigen wissen zu lassen, dass ich jetzt im Hier war? Bereit, richtig loszulegen, bevor mich der Mut verließ und ich beschloss, nach Hause zurückzukehren und nie wieder zurückzukommen.
Um mich herum lichtete sich die Menge, während ich an meinen Nägeln kaute und damit deren Zustand von ungepflegt zu einfach nur noch erbärmlich herunterstufte. Und ich hörte nicht damit auf, bis meine Nägel bis zum Fleisch abgekaut waren, bis das ganze Gelände menschenleer war und nur noch ich und er übrig blieben – der komische Typ, der während der Versammlung vor mir gesessen hatte.
Der Typ, der mir Psst! zugezischt hatte.
Derjenige mit den fettigen, glatt nach hinten gestrichenen Haaren und der schwarzen Streberbrille, die ganz oben auf seiner Nase saß und so dicke, schwere Gläser hatte, dass seine Augen derart verzerrt waren, dass ich sie kaum erkennen konnte.
Der Junge mit dem satten grünen Leuchten, der erstaunlich viele Pfiffe und Zurufe geerntet hatte, als er auf die Bühne gestiegen war.
Je länger ich ihn betrachtete, umso mehr war ich davon überzeugt, dass diese Beifallsbezeugungen eher ironisch als ernst gemeint waren. Und als ich mir seine uncoolen Schuhe und den merkwürdigen dunklen Anzug mit dem weißen Hemd und der schmalen schwarzen Krawatte ansah, mit der er so aussah, als wäre er entweder auf dem Weg zu einem Kongress von Computerfreaks oder zu einem Bewerbungsgespräch bei der CIA, war ich mir dessen ganz sicher.
Und alles, was ich dachte, als ich ihn vor mir stehen sah, war: Großartig! Mein erster Tag in der Mittelstufe, und ich stehe hier allein mit Mr. Loser.
Und dieser Loser war auch noch tot.
Damit wurde mein so ziemlich schlimmster Albtraum wahr.
Leider hatte ich vorübergehend vergessen, dass Gedanken aus Energie bestehen – sie können im Hier von jedem gehört werden. Er drehte sich zu mir um und fragte: »Loser?« Er blaffte mich so an, dass seine Augen weit hervortraten, beinahe gegen seine Brillengläser stießen, und glotzte mich an, als hätte ihn noch nie jemand so genannt, was ich, tut mir leid, eigentlich nicht glauben konnte. »Hast du mich gerade tatsächlich Loser genannt?«, wiederholte er, offensichtlich ernsthaft gekränkt.
Ich stand einfach nur da, verzog die Lippen und zuckte verlegen die Schultern. Mir war klar, dass ich das nicht mehr zurücknehmen konnte – zumindest nicht auf eine elegante Weise. Also beschloss ich, die Verteidigung nach vorne anzutreten und sagte: »Na ja, wenn du nicht diesen Anzug und die Krawatte tragen würdest und deine Haare nicht so fettig wären, würdest du nicht so … äh …« Ich hielt inne und zögerte, das beleidigende Wort noch einmal zu verwenden, obwohl es eindeutig das Einzige war, das genau auf ihn zutraf.
»Dann würde ich nicht so trottelig aussehen? Wie ein Loser? Wie der einzige Einwohner von Trottelhausen?« Er starrte mich an, zog die Augenbrauen zusammen, presste die Lippen aufeinander und glühte in keiner Weise mehr so wie vorher. »Hast du das gemeint?«
Ich zuckte die Schultern, nicht sicher, wie ich jetzt weitermachen sollte, aber dann sah ich ihm direkt in die Augen und sagte: »Hör zu, ich bin neu hier, und für mich ist das alles noch ziemlich verwirrend. Anscheinend habe ich von der Erdebene ein paar schlechte Angewohnheiten mitgebracht, und ich habe auch noch nicht gelernt, meine Gedanken unter Kontrolle zu haben – falls das überhaupt machbar ist. Die Sache ist die, dass ich keine Ahnung habe, wo ich eigentlich sein sollte. Ich weiß nur, dass ich irgendwo hingehöre. Also, wenn es dir recht ist, dann werde ich jetzt einfach …«
Ich wollte mich auf den Weg machen und mich an ihm vorbeischieben, aber er baute sich vor mir auf mit seinen dicken Brillengläsern und den fettigen Haaren. Er verschränkte die Arme vor der Brust, neigte den Kopf zur Seite und musterte mich. »Zufälligerweise weiß ich genau, wo du sein solltest. Du musst mir nur folgen.«
Ich verdrehte die Augen. Das bezweifelte ich stark. Außerdem würde ich auf keinen Fall mit ihm gehen. Er war zu merkwürdig, zu trottelig und ganz offensichtlich beleidigt, weil ich ihn so bezeichnet hatte. Ich wich nicht von der Stelle und sah zu, wie er auf diesen riesigen, auf allen Seiten verglasten Pavillon zusteuerte. Er lief die Stufen in großen Schritten hinauf und ging einfach davon aus, dass ich ihm folgen würde. Und da ich keine andere Wahl hatte, tat ich das schließlich auch, wie ich zu meiner Schande gestehen muss.
»Hey … äh …« Ich schielte auf seinen Hinterkopf und fragte mich, wie ich ihn ansprechen sollte. Loser war auf jeden Fall ab sofort tabu, das war mir hundertprozentig klar. »Wo sind wir hier?«, fragte ich. Mir graute vor der Peinlichkeit, zu meiner ersten Unterrichtsstunde zu spät zu kommen und dann sofort für den Rest des Schuljahrs als die ahnungslose Neue abgestempelt zu werden. »Im Ernst, wo bringst du mich hin?«, rief ich, starrte auf seinen Rücken und stellte fest, dass er für sein Alter ziemlich groß war. Ich schätzte ihn auf ungefähr vierzehn Jahre, obwohl er sich eher so anzog wie sein eigener Vater.
Ich folgte ihm um die Ecke und konnte es gerade noch verhindern, mit ihm zusammenzustoßen, als er vor einer großen Rauchglastür stehen blieb. Er öffnete die Tür weit und sagte: »Sie sind alle dort drin und warten auf dich.«
Ich spähte an ihm vorbei durch den Türspalt und sah, wie er mir ermutigend zunickte. Also steckte ich meinen Kopf in den Raum und schaute mich um. Das große Zimmer war leer, und dort wartete niemand auf mich – oder überhaupt auf irgendjemanden. Nachdem sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah ich eine große Bühne, die teilweise von schweren roten Samtvorhängen verborgen war, und davor Sitzreihen mit weich gepolsterten, bequemen Stühlen. Obwohl der Raum sehr nett aussah und in keiner Weise etwas Bedrohliches an sich hatte, konnte ich das schreckliche Gefühl nicht unterdrücken, das in meinem Bauch aufstieg und mir befahl, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, bevor es zu spät war. Und gerade als ich mich umdrehte, um ihn zu fragen, ob es sich hier um einen Schabernack handelte, eine Art lahmes Aufnahmeritual für eine neue Schülerin, drückte er mir eine Hand zwischen meine Schulterblätter und schob mich hinein.
»Viel Glück – du wirst es brauchen!«, sagte er und schlug die Tür hinter mir zu.