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DREIUNDZWANZIG
 
Wir schwebten durch flauschige Nebelwolken.
Wir flogen über schneebedeckte Berggipfel, über Gebäude und Flüsse und Seen.
Wir schossen vorbei an großen Vögelschwärmen. Buttercup bellte sie an und jagte ihnen hinterher, wild entschlossen, sich einen Vogel zu schnappen und ihn stolz als Trophäe zurückzubringen, so wie er es oft getan hatte, als er noch am Leben war. Jedes Mal, wenn er anstatt einen Vogel zu fangen, direkt durch den Schwarm hindurchflog, warf er Bodhi und mir einen völlig verwirrten Blick zu.
Als wir London erreichten, wusste ich sofort, dass wir da waren.
Bodhi musste es mir nicht sagen – nicht mit einem einzigen Wort.
Ich warf einen Blick auf den breiten, gewundenen Fluss mit Brücken und Schiffen, an dessen Ufer hohe Bauten standen, und ich erkannte sofort, wo wir waren.
Die Themse, die Westminster Bridge, das House of Parliament – über all das flogen wir hinweg. Wir flogen sogar ganz nah an der obersten Gondel des London Eye vorbei, das, falls ihr das nicht wisst, das coolste Riesenrad auf der Erdebene ist. Wir ließen uns nach unten sinken, hängten uns ganz vorsichtig an und ließen uns nach oben in den Himmel ziehen.
Danach wandten wir uns den Straßen zu, glitten über einen dieser roten Doppeldeckerbusse, für die London berühmt ist, vorbei an bunten Vorhängen an den Fenstern von Apartmenthäusern oder Mietshäusern, wie die Einheimischen dazu sagen.
Dann gingen wir noch tiefer, bis wir die Kronen der hohen Bäume streiften, und dann noch ein Stück nach unten, so dass wir uns direkt über den Köpfen der Leute befanden.
Ich streckte einen Finger aus, tippte leicht an die Hutkrempe eines verblüfften Mannes und schubste ihm den Hut vom Kopf. Bodhi drehte sich zu mir um, warf mir einen missbilligenden Blick zu und verzog das Gesicht. Aber ich lachte nur und streckte ihm die Zunge heraus, bevor ich das Ganze gleich noch einmal wiederholte, um das Maß vollzumachen.
Wir flogen weiter zu einem belebten Platz, den ich, wie ich glaubte, bereits auf Bildern gesehen hatte und als Picadilly Circus wiedererkannte. Und dann sah ich es.
Oder besser gesagt sah ich sie.
Eine riesige Menschenmenge.
Alle hasteten ins Büro, in die Schule oder wohin auch immer Menschen gehen, wenn sie gefrühstückt und sich angezogen haben.
Alle hatten etwas gemein – sie waren alle irgendwohin unterwegs und entschlossen, so schnell wie möglich dorthin zu gelangen.
All diese Menschen hatten ein Ziel, und keiner von ihnen bemerkte mich.
Sie hatten keine Ahnung davon, dass ich direkt über ihnen schwebte.
Keinen blassen Schimmer, dass sie die leichte Berührung im Nacken und den Lufthauch an ihren Wangen mir zu verdanken hatten.
Und sie konnten mich nicht wahrnehmen, so wie ich sie sehen konnte.
Klar.
Deutlich.
Bis zum letzten Detail.
Sie waren lebendig, atmeten und waren für mich ganz klar zu sehen, und trotzdem hatte keiner von ihnen die geringste Ahnung, dass wir existierten.
Ein Mädchen, ihr Führer und ihr Hund schwebten direkt über ihren Köpfen.
Und sie starrten auf diese ahnungslosen Menschenmassen herunter.
Mir schnürte sich die Kehle zusammen, und meine Augen begannen zu brennen, also zwang ich mich rasch, meine Aufmerksamkeit etwas anderem zuzuwenden. Ich beobachtete Buttercup, der immer noch Vögel jagte, Loopings drehte, abtrudelte, herumwirbelte, hochsprang und sich vollkommen vergeblich immer mehr abmühte. Er hatte nach wie vor nicht begriffen, warum er keinen Erfolg hatte.
Ich warf einen verstohlenen Blick auf Bodhi, der vor unserem Abflug seine Streberklamotten abgelegt hatte. Er hatte mir hastig erklärt, dass er dachte, ein Anzug würde bei den Leuten (womit er mich und seinen Führer meinte) mehr Respekt erwecken als das, was er üblicherweise trug.
Ich glaube allerdings, wir konnten uns darauf einigen, dass dieses Experiment ein gewaltiger Fehler gewesen war.
Jetzt, da er die Langweilerkluft gegen eine viel passendere Jeans, ein Sweatshirt und Sneakers eingetauscht hatte, die Jungen in seinem Alter üblicherweise tragen, war er weit davon entfernt, wie ein Langweiler auszusehen. Ich schätze, das war der Grund, warum er vorher so merkwürdig rübergekommen war. Die Zurufe bei der Abschlussfeier auf seinem Weg zur Bühne, seine zwanglose, lässige Art dazustehen und ganz zu schweigen von seinen Künsten beim Skateboardfahren – das alles passte einfach nicht zu dem Look, den er sich hatte zulegen wollen. Es war, als hätte er sich verkleidet, eine Art Kostüm getragen, fest entschlossen, die Tatsache zu verbergen, dass er ein ganz normaler vierzehnjähriger Junge war.
Aber Bodhi war nicht normal.
Ganz und gar nicht.
Nicht nur, weil er tot war. Nicht nur, weil er mein Führer war. Jetzt, da sein Haar nicht mehr mit Pomade zurückgekämmt war, seine Klamotten nicht mehr aussahen wie aus einem Spießerladen, sein Gesicht nicht mehr zur Hälfte von diesem grauenhaften Brillengestell verdeckt war, sah er, na ja, richtig süß aus.
Nein, streicht das. Denn die Wahrheit ist, er war viel mehr als nur süß.
Er war der Zac Efron des Jenseits.
Aber als er zu mir herübersah und mich dabei ertappte, wie ich ihn musterte, schaute ich rasch zur Seite.
Er sollte auf keinen Fall diese Gedanken lesen können.
Und um mich davor zu schützen, und nur damit alles seine Ordnung hatte, beschloss ich, ihn insgeheim weiterhin Langweiler zu nennen – mochte er auch noch so süß und nett bleiben.
So war es leichter für mich.
Ich drückte meine Beine aneinander und streckte meine Zehen wie Pfeile aus, denn ich hatte festgestellt, dass ich so den Luftwiderstand kaum spürte und noch schneller und höher fliegen konnte. Ich hörte Buttercup hinter mir bellen. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er mir oder dem Vogelschwarm, in den er geflogen war, nachjagen sollte. Bodhi rief mir zu. »Hey, Riley, sag mir Bescheid, wenn du bereit für eine Landung bist!« Doch ich tat so, als würde ich die beiden nicht hören.
Die Wahrheit ist, dass ich, nach all dem, was ich gesehen hatte, es nicht über mich brachte, zu landen.
Mir war plötzlich etwas klar geworden, das mir vorher nicht bewusst gewesen war.
Die Erde drehte sich immer noch.
Menschen liebten, lachten und atmeten immer noch.
Alle waren eifrig damit beschäftigt, ihr Leben zu gestalten.
Und keiner von ihnen spürte meine Existenz.
Keiner von ihnen wusste, dass ich mich unter ihnen bewegte.
Und es war an der Zeit, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass selbst die Menschen, die mich gekannt hatten – meine Freunde und Lehrer und so weiter -, bereits weitergezogen waren. Sie hatten sich von mir entfernt und ihr Leben weitergeführt. Für sie war ich nur noch eine verborgene Erinnerung an ein armes, bedauernswertes, zwölfjähriges Mädchen, das abrupt aus dem Leben gerissen wurde. Sie wollten nicht länger daran denken, dass sie mich verloren hatten, damit sie nicht über ihr eigenes immer kürzer werdendes Leben nachdenken mussten.
Ich wusste, dass Ever und meine Tante Sabine mich vermissten, aber was die anderen betraf … Die Zahl derjenigen, die hin und wieder noch an mich dachten, war auf einige wenige gesunken.
Ich presste meine Augenlider zusammen, als ich spürte, wie sich dieses schreckliche Brennen in hervorquellende Tränen verwandelte. Rasch listete ich alle sehr guten und stichhaltigen Punkte auf, warum ich absolut keinen überzeugenden Grund hatte, jetzt zu weinen.
Ich fühlte mich lebendiger als je zuvor, obwohl ich unsichtbar war.
Ich hatte soeben meine Aufgabe erfüllt, Bodhi hatte seine ebenfalls erledigt, und wir beide hatten unseren Mitseelen wirklich helfen können und etwas Gutes getan.
Ich konnte fliegen! Über einen Teil der Welt segeln, den ich schon immer hatte sehen wollen, und, was die Sache noch besser machte, mein Hund schoss an meiner Seite mit mir durch die Luft.
Es hatte sich herausgestellt, dass mein Führer ganz und gar nicht der langweilige Trottel war, für den ich ihn am Anfang gehalten hatte, und das hieß, dass es wohl doch nicht so schlimm werden würde, in Zukunft mit ihm zusammenzuarbeiten. Und nicht zuletzt hatte ich vielleicht eine sehr wichtige Lektion gelernt, nämlich, dass man Menschen nicht nur nach ihrem Aussehen beurteilen sollte.
 
Oder vielleicht auch nicht.
Der letzte Teil blieb noch abzuwarten.
Als ich über all das nachdachte und dabei die Augen immer noch fest geschlossen hielt, um alles auszublenden, kam plötzlich Bodhi von hinten herangeschossen und rief: »Hey, Riley, Achtung!«
Ich riss die Augen auf und sah, dass ich mit dem Kopf voran auf ein großes Glasgebäude zusteuerte, in dem sich die ganze Umgebung spiegelte.
Und ich erschrak.
Nicht, weil ich Angst hatte, denn ich wusste, dass ich mich nicht in Gefahr befand. Wenn ich nicht abbremsen oder anhalten konnte, würde ich einfach hindurchsegeln.
Nein, ich war erschrocken von mir.
Verblüfft von meinem Anblick.
Mein ganzer Körper glühte auf eine Art und Weise wie noch nie zuvor.
Glühte so, wie die Cheerleaderin geglüht hatte.
Ähnlich wie Bodhi und die anderen, die ich auf der Bühne gesehen hatte.
Mein Glühen war zwar lange nicht so strahlend wie ihres, aber ich strahlte.
Das konnte man nicht leugnen.
Ich schwenkte nach rechts ab, vermied es in der letzten Sekunde, durch mein eigenes Spiegelbild zu segeln, schoss nach unten, um in einem großen Bogen wieder zurückzufliegen und mich noch einmal anzuschauen.
Und sah alles glasklar vor mir.
Meinen ziemlich kleinen, schlanken Körper, meine flache Brust, mein glattes blondes Haar mit dem Pony, der mir in die hellblauen Augen fiel, meine Nase, die nach unten hin unbestreitbar ein wenig knubbelig wurde. Aber meine Wangen waren leicht gerötet und zogen sich auseinander, als ein breites Grinsen über mein Gesicht glitt, während ich auf das blassgrüne Leuchten starrte, das schimmernd um mich herumtanzte.
»Siehst du das?«, fragte mich Bodhi und kam an meine Seite. Sein Grinsen war beinahe ebenso breit wie meines.
Ich nickte, so überwältigt von meiner Erscheinung, dass ich kein Wort hervorbrachte. Ich räusperte mich mehrmals. »Ja, ich sehe es. Aber was bedeutet das?«, erwiderte ich dann. Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor ich mich wieder auf meine neue, strahlende Gestalt konzentrierte.
»Das bedeutet, dass du dein Glühen bekommen hast.« Lächelnd schwebte er neben mir. »Das heißt, du bist auf dem Weg.«