016
 
FÜNFZEHN
 
Ich knirschte mit den Zähnen und kniff die Augen zu. Ich wollte das alles nicht mehr sehen. Leise verfluchte ich Bodhi dafür, dass er eine Anfängerin wie mich praktisch ohne Vorwarnung und ohne angemessenes Training in eine solche Situation gebracht hatte. Und ich verfluchte auch Buttercup, weil er mich in einem Moment im Stich gelassen hatte, in dem ich dringend Hilfe brauchte.
Ich war kurz davor, ihn anzuflehen, mit alldem aufzuhören. Ich wollte ihm sagen, dass er meinetwegen die nächsten hundert Jahre hier herumspuken konnte. Doch dann stieß er ein so lautes Gebrüll aus, dass ich nicht umhinkam, einen Blick zu riskieren. Ich konnte nicht anders, als in dieses gruselige, verwüstete Gesicht zu schauen.
Entsetzt beobachtete ich, wie er sich von dem verrückten Clown mit den glühenden Augen in jedes Monster verwandelte, das man in den letzten dreißig Jahren in Filmen gesehen hatte.
Und dann kapierte ich es: Er kannte mich gar nicht!
Er hatte nicht mein tiefstes Inneres angezapft, wie ich gedacht hatte.
Er machte sich lediglich alle üblichen Ängste zu Nutze – die Ängste, die wir fast alle hatten.
Und dass ich hier nicht wegkam und zu Tode erschrocken an diesen Stuhl gefesselt war, lag daran, dass ich glaubte, er habe irgendeine Art Macht über mich.
Es lag an meiner Überzeugung, dass die durch die Luft fliegenden Möbel mich hätten verletzen können, dabei wären sie doch direkt durch mich hindurchgegangen.
Meine Gedanken waren schuld, dass ich glaubte, nichts gegen die Schlangen und gegen die Zahnarztinstrumente ausrichten zu können, dass sie mächtiger als ich waren und sich nicht bekämpfen ließen.
Aber das war gar nicht so.
Und bei ihm ebenso wenig.
Ganz und gar nicht.
Als ich das begriffen hatte, waren zwar die Schlangen und die Bohrer immer noch da, aber ich fühlte mich stärker – stark genug, um meine Ängste zu besiegen. Und als er seine Arme nach mir ausstreckte und seinen Kopf in den Nacken warf, zuckte ich nicht zurück.
Tatsächlich tat ich nicht viel.
Ich löste in aller Ruhe die Riemen und Gurte und sah, wie der Radiant Boy … wankte.
Er schwankte so stark, dass er komplett das Gleichgewicht verlor.
Er strauchelte – und teilte sich plötzlich in drei Personen!
Mir stand der Mund offen, als ich das beobachtete, und ein ungehörter Schrei steckte tief in meiner Kehle fest. Das Einzige, was noch Furcht erregender war als ein zorniger Radiant Boy, war ein halbes Sechserpack von wütenden Radiant Boys.
Aber nur, als sie sich kurz vor dem Fall zu einer Pyramide auftürmten. Nachdem sie das Gleichgewicht verloren hatten und auf den Boden stürzten, gab es keinen Zweifel mehr daran, dass ich jetzt die Oberhand hatte.
Ich rutschte von dem Stuhl herunter und beseitigte die Schlangen auf dem Fußboden, indem ich mir einfach nur wünschte, sie würden verschwinden. Dann schob ich meine Hüften vor, warf mein Haar über die Schulter, neigte den Kopf zur Seite und sagte: »Aha, ihr arbeitet also im Team.« Ich nickte und hielt einen Moment inne, um sie mir alle anzuschauen. »Tja, das erklärt wohl, warum es in all den Jahren niemand geschafft hat, euch davon zu überzeugen, endlich weiterzuziehen. Wahrscheinlich habt ihr die letzten Jahrhunderte damit verbracht, entweder in Schichten zu arbeiten oder alle Leute mit diesem schaurigen Pyramidenmanöver zu verschrecken. Kein sehr fairer Kampf, wenn ihr mal darüber nachdenkt, oder?«
Alle drei rappelten sich mühsam auf und versuchten, sich wie harte Typen zu geben, aber dafür war es zu spät. Zwei von ihnen beschlossen, sich zurückzuhalten, während einer als ihr Anführer nach vorne trat. Ich fragte mich, warum sie gerade ihn ausgesucht hatten, denn für mich sahen sie alle gleich aus. Doch als er näher kam – als alle näher kamen -, entdeckte ich, dass sie nicht identisch waren.
Als sie alle in einem Haufen zusammengesteckt und ihre Energie gebündelt hatten, hatten sie alle den gleichen strahlenden Glanz von sich gegeben. Jetzt, da sie voneinander getrennt als Individuen auftraten, sah man einige eindeutige Unterschiede. Einer war hochgewachsen, der andere eher kleiner und einer von mittlerer Größe. Zwei von ihnen hatten eine Haarfarbe, die man wohl am besten als platinblond bezeichnen konnte, während der dritte – derjenige, der zuerst nach vorne getreten war – einen rotblonden Schopf hatte. Und dieser Junge straffte die Schultern, warf sich in die Brust, reckte sein Kinn nach oben und sprach mich an.
»Ich befehle dir, zu gehen«, sagte er mit fester, kräftiger Stimme, die recht einschüchternd klang.
Und obwohl die Bilder von den Schlangen und dem verrückten Clown mit den Zahnarztinstrumenten noch frisch in meinem Gedächtnis waren, musste ich das jetzt überwinden und die Gedanken daran komplett verbannen. Wenn ich mit den Jungs weiterkommen und Fortschritte machen wollte, dann musste ich ihnen unbedingt zeigen, dass ich nicht mehr das verängstigte kleine Geistermädchen wie noch vor einem Moment war.
»Bitte sag mir, dass du das nicht ernst meinst«, entgegnete ich. Mir war klar, dass ich ihn damit wahrscheinlich noch wütender machte, aber das nahm ich in Kauf. Obwohl sie zu dritt waren, und ich allein, handelte es sich nur um ein paar Zehnjährige. Und das machte mich, so wie ich das sah, zu ihrem Boss. »Ich meine, du willst mich nicht allen Ernstes herumkommandieren, oder?« Ich sah mich um und prägte mir jedes Detail ein, weil ich mich an diesen bestimmten Moment ganz genau erinnern wollte. Wie der Raum aussah und wie sie aussahen war wichtig, weil ich wusste, dass das meine Lieblingsstellen in der Geschichte werden würden, wenn ich sie später erzählte. Ich schüttelte den Kopf, als ich das plötzliche Aufglühen in seinen Augen sah, das, wie ich richtig deutete, Zorn bedeutete. »Meine Güte, es sieht so aus, als würdest du es tatsächlich ernst meinen. Okay.« Ich nickte und versuchte, bei seinem Anblick nicht zurückzuzucken. »Aber schau, es geht um Folgendes. Ich kann nicht gehen – zumindest noch nicht. Ich habe eine Aufgabe bekommen, und, na ja, bevor ich sie nicht erledigt habe, verschwinde ich nicht von hier. Also haben wir anscheinend ein kleines Problem, wenn du mir Befehle geben willst und so.«
Er warf einen Blick über seine Schulter und sah die anderen an, die seine Bemühungen mit halbherzigem Schulterzucken beantworteten. Das reichte ihm jedoch, um sich mir wieder zuzuwenden und zu sagen: »Ich erkläre dir hiermit, dass du gehen musst! Und zwar sofort!« Er hob seine Arme und streckte die Handflächen nach oben, während sich weitere dreiköpfige Schlangen über seine Arme schlängelten und in meine Richtung schnellten.
Ich schlug sie jedoch einfach weg, weil ich wusste, dass sie nur echt waren, wenn ich ihnen das gestattete. Im Großen und Ganzen konnte er mir nichts anhaben.
Ich zuckte die Schultern und ging zu dem mit blauem Stoff bezogenen Stuhl hinüber. Ich stellte ihn wieder auf seine Füße und ließ mich darauffallen. Da ich wohl zu Recht annahm, dass diese Sache wegen all dieser Vorschriften und Verkündigungen ein wenig länger dauern würde, als ich mir das wünschte, konnte ich es mir zumindest ein wenig bequem machen.
Er baute sich vor mir auf. Seine rötlichblonden Augenbrauen zogen sich über den vor Wut sprühenden Augäpfeln zusammen. Aber ich reagierte nicht darauf – ich weigerte mich, ihm diesen Gefallen zu tun. Und nachdem er noch einige weitere Befehle und Anordnungen von sich gegeben hatte und einige Drohungen ausgestoßen hatte, sah er plötzlich so aus, als hätte man ihn ausgeknipst.
Tatsächlich waren alle drei abgeschaltet.
Sie glühten nicht mehr, ihre Augen waren nicht mehr rot, und drei normale rosafarbene Münder ersetzten die abgrundtiefen schwarzen Löcher, die soeben noch dort gewesen waren.
Vor mir standen ein paar Zehnjährige, wie man sie überall sah. Na ja, bis auf die echt grauenhaften, einfach unglaublichen – ich wünschte, das hättet ihr sehen können – grässlichen weißen Anzüge mit kurzen Hosen und den dazu passenden weißen Kniestrümpfen und den glänzenden schwarzen Schuhen.
Ich konnte nicht anders, als zu hoffen, dass das die Klamotten waren, die man ihnen für die Beerdigung angezogen hatte, denn falls sie sich dieses Outfit selbst ausgesucht hatten, dann bezweifelte ich, dass ich jemals zu ihnen durchdringen würde.
»Warum hast du keine Angst vor uns?«, fragte der Junge, den ich in Gedanken Erdbeerkopf nannte.
Ich zuckte die Schultern, musterte ihn kurz und erwiderte dann: »Na ja, wenn du dich dann besser fühlst … Ich hatte zuerst schon Angst vor euch. Ich meine, ihr habt doch gesehen, dass ich kurz davor war, abzuhauen. Und dann dieses schreckliche Theater mit dem Clown und den Bohrern und Haken …« Ich schüttelte mich bei dem Gedanken daran. »Tja, ihr habt mich beinahe geschafft! Aber als ihr mit diesem Monstergetue angefangen habt, war das ein todsicheres Zeichen.« Ich grinste und fügte hinzu: »Die Doppeldeutigkeit war durchaus beabsichtigt.« Ich brach in Gelächter aus, aber sie stimmten nicht mit ein. Rasch sprach ich weiter. »Wie auch immer, das war es eigentlich, was mich darauf gebracht hat. Ich meine, die meisten dieser Filme wurden lange vor meiner Zeit gedreht, und daher kapierte ich es in diesem Moment.«
»Was hast du kapiert?« Er presste seine Lippen zusammen und sah mich auf diese nervige Art an, wie sie nur Zehnjährige draufhatten.
»Mir wurde klar, dass du auf meine Angst bautest. Eine Angst, die mich übermannte und mich nicht mehr sehen ließ, dass ich eigentlich alles unter Kontrolle hatte – und die dazu führen würde, dass die Furcht die Oberhand gewinnen würde. Und ich begriff, dass meine Weigerung, diese Angst zu schüren und sie Besitz von mir ergreifen zu lassen, die Macht über mich schwächen würde – deine Macht über mich.« Ich nickte und, obwohl ich versuchte, es zu unterdrücken, glitt ein triumphierendes Lächeln über mein Gesicht. Das schien ihn noch mehr zu verärgern. »Ganz abgesehen davon, dass ich bereits ebenso tot bin wie du und es somit nicht viel gibt, was du tun könntest, um mir wehzutun, oder?«, fügte ich hinzu.
»Oh, wir könnten einiges tun! Wir könnten …«, meldete sich der Blonde zu Wort, stürmte vorwärts und schüttelte seine kleine Faust in der Luft, bis der Erdbeerkopf seine Hand hob und ihn zurück an seinen Platz verwies.
»Wir gehen nicht von hier weg, falls das der Grund deines Besuchs sein sollte. Weißt du, vor dir haben schon viele versucht, uns zu vertreiben. Viele, das kannst du mir glauben. Aber wir sind immer noch hier. Und das bereits seit Hunderten von Jahren. Also, vielleicht wäre es besser, wenn du von hier verschwindest, denn wir haben nicht vor, hiermit aufzuhören. Und falls du weiter hartnäckig bleibst, dann wirst du feststellen, dass du nur deine Zeit verschwendet hast.«
»Vielleicht.« Ich zuckte die Schultern, zupfte an einem losen Faden an einem der blauen Kissen und tat so, als sei ich an alldem nur geringfügig interessiert und als stünde nicht einiges für mich auf dem Spiel. »Aber vielleicht auch nicht.« Ich hob den Blick und sah ihm in die Augen. »Ich meine, hast du dir jemals überlegt, dass möglicherweise ihr Jungs diejenigen seid, die hier ihre Zeit verschwenden? Im Ernst, denk mal darüber nach. Seit Hunderten von Jahren rennt ihr in euren altmodischen kurzen Hosen hier herum, nur um ein wenig Spaß dabei zu haben, Geisterjägertouristen zu Tode zu erschrecken.« Ich schüttelte den Kopf. »Hunderte Jahre die gleiche lahme Routine«, seufzte ich und sah jeden der Jungs gezielt an. Allein der Gedanke daran schien ermüdend und sinnlos. »Und wozu, wenn ich fragen darf? Was soll der Sinn und Zweck bei alldem sein? Und was genau habt ihr davon? Also im Ernst. Sehnt ihr euch nicht danach, mal Urlaub zu machen? Oder zumindest eine Woche lang eine Pause einzulegen?«
»Wir legen Pausen ein! Wir arbeiten in Schichten, das wirst du schon noch sehen!«, rief der andere Blondschopf.
Schichtarbeit oder nicht – sie kapierten es nicht. Überhaupt nicht. Ich hatte zwölf Jahre damit verbracht, meine ältere Schwester zu nerven – bis zu einem Punkt, an dem mein Verhalten absolut lächerlich war. Aber das war nichts im Vergleich zu dieser enormen Zeitverschwendung, für die diese Jungs sich in den vergangenen Jahrhunderten entschieden hatten. Das nenne ich vergeudete Zeit.
»Was ich damit sagen will …« Ich drückte das Kissen kurz an meine Brust, bevor ich es zur Seite schleuderte. Bevor ich fortfuhr, vergewisserte ich mich, dass ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. »Was ist der Lohn dafür? Im Ernst, warum macht ihr euch die Mühe mit den flammendroten Augen, den klaffenden schwarzen Mündern und dem ganzen anderen Zeug?« Ich deutete auf sie und zog eine unsichtbare Linie von ihren Lockenköpfen bis zu ihren makellos polierten Schuhen.
Dann meldete sich der andere zu Wort, der neben dem Erdbeerkopf stand. »Was der Lohn dafür ist?« Er starrte mich mit seinen blauen Augen an und warf dann einen Blick auf seine Freunde, die kicherten und sich zugrinsten. »Ruhm. Darum geht es. Weltweiter Ruhm ist der Lohn dafür.« Sie schüttelten die Köpfe, verdrehten die Augen und feixten, als wäre ich eine hochgradige Idiotin.
Ich blinzelte – ich war mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden hatte. Ich meine, das konnten sie doch nicht wirklich ernst meinen.
»Wir sind berühmt«, wiederholte er mit fester Stimme und sah mich entschlossen an. »Unser Name ist bekannt. Die Leute kommen aus der ganzen Welt hierher, in der Hoffnung, einen kurzen Blick auf uns zu erhaschen, eine Möglichkeit zu haben, uns zu photographieren, eine Aufnahme unserer Stimmen machen zu können, uns zu begegnen. Und das alles, um dann ihren Freunden zu Hause erzählen zu können, dass sie eine Nacht mit uns überlebt haben.« Er sah seine Kumpel an, die in Gelächter ausbrachen, und richtete dann seinen Blick wieder auf mich. »Das ist übrigens eine fette Lüge, denn es hat noch nie jemand geschafft, eine ganze Nacht in diesem Zimmer auszuharren. Niemand. Ohne Ausnahme.« Sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. »Und nicht zu vergessen all die Bücher, Artikel und Fernsehshows über uns. Wir sind berühmt. Internationale Superstars! Und das bereits seit Jahren. Wir sind … wir sind in gewisser Weise vergleichbar mit den Backstreet Boys – nur, dass wir tot sind.«
Meine Güte. Plötzlich taten sie mir furchtbar leid. Ich meine, sie hatten nicht nur Wahnvorstellungen, sondern waren auch noch auf tragische Weise vollkommen von gestern. Ich meine, die Backstreet Boys … Mussten sie sich auf so uralte Typen beziehen? Ich schüttelte den Kopf und musterte sie. Sie erinnerten mich sehr an einige meiner früheren Mitschüler, deren einziges Ziel im Leben war, berühmt zu werden. Und wozu? Das wussten sie selbst nicht. Sie bildeten sich einfach nur ein, fürs Rampenlicht bestimmt zu sein.
Und ihre erste Anlaufstelle war YouTube.
Ich ließ meinen Blick über sie wandern. Sie waren so entrüstet und so sicher, dass sie Recht hatten, und mir wurde klar, dass ich ihnen jetzt die Wahrheit beibringen musste.
Ich räusperte mich und atmete aus reiner Gewohnheit tief durch, bevor ich loslegte. »Ähm, es tut mir leid, euch das sagen zu müssen, aber ihr habt keinerlei Ähnlichkeit mit den Backstreet Boys. Woher kennt ihr diese Band überhaupt? Ihr lebt in einem Schloss weitab vom Schuss.«
Sie starrten mich an, eine Einheitsfront mit weißen kurzen Hosen, weißen Kniestrümpfen und vor Zorn geröteten Wangen.
»Du bist nicht die Erste, die in den Habseligkeiten von anderen Leuten herumschnüffelt. Wir verfügen über Computer, und wir haben uns auch den einen oder anderen iPod genauer angeschaut«, erklärte der kleinste Blondschopf. Seine Kumpel kicherten und lachten und sahen mich kopfschüttelnd an.
»Nur weil wir in einem Schloss ›weitab vom Schuss‹ leben, heißt das nicht, dass wir nicht all das kennen, was du auch kennst«, fügte der Erdbeerkopf hinzu.
Ich nickte. Das hatte ich nicht vorhergesehen. Alle Achtung. Allerdings verstand ich nicht, warum jemand, der die Boybands des letzten Jahrzehnts kannte, immer noch in solchen Klamotten herumlief. Andererseits musste man sich nur Bodhi anschauen – ein Junge, der beinahe professioneller Skater geworden wäre und sich – aus welchem Grund auch immer – anzog wie ein totaler Langweiler. Menschen waren eben schwer zu verstehen – die Lebenden ebenso wie die Toten, da war ich mir sicher.
»Also gut. Mein Fehler. Es tut mir leid, dass ich eure Kenntnisse über Popmusik falsch eingeschätzt habe. Trotzdem muss ich euch leider noch einmal sagen, dass ihr nichts mit den Backstreet Boys gemein habt. Millionen Menschen auf der ganzen Welt haben sie geliebt. Tja, und wie viele Menschen lieben euch?«
Ich beobachtete, wie sie sich verblüffte Blicke zuwarfen. Ihre Gedanken der Verwirrung und Verzweiflung flogen vibrierend und grollend durch den Raum.
Der Erdbeerkopf schüttelte heftig den Kopf. Er war entschlossen, das Kommando wieder zu übernehmen und alles unter seine Kontrolle zu bringen. »Hört nicht auf sie. Das ist alles nicht wahr! Sie will sich nur mit uns anlegen. Es gehört zu ihrer Mission oder zu dem Plan, den sie hat, wie immer der auch lauten mag.« Er warf mir einen hasserfüllten Blick zu, der beinahe genauso schlimm war wie die Flammen, die vorher aus seinen Augen geschlagen hatten. »Vielleicht lieben sie uns nicht wirklich, aber sie genießen es, sich vor uns zu fürchten. Die Leute kommen aus der ganzen Welt hierher – nur unseretwegen! Ohne uns wäre Warmington Castle ruiniert! Niemand würde es besichtigen. Es könnte nicht länger unterhalten werden und müsste ganz sicher geschlossen werden.«
Die beiden Blondschöpfe an seiner Seite nickten bekräftigend.
»Vielleicht – vielleicht auch nicht.« Ich runzelte die Stirn. Ich wusste, dass er Recht haben könnte, aber das war hier nicht entscheidend. »Aber welchen Unterschied macht das für euch? Ich meine, seid ihr irgendwie beteiligt? Bedankt sich jemand für eure ehrenamtliche Tätigkeit hier? Was bringt euch all die Zeit ein, die ihr damit verbringt? Was ist euer Lohn für diese vielen Stunden? Ehrlich, habt ihr euch nicht schon einmal Gedanken darüber gemacht, dass ihr total ausgenützt werdet? Im schlimmsten Sinn benützt werdet? Ihr Jungs gebt dem Begriff Nachtschicht eine völlig neue Bedeutung. Und was ist für euch – außer dem fragwürdigen Ruhm – dabei drin?«
Sie sahen sich an, und ihre Gedanken wirbelten rauschend zwischen ihnen hin und her.
»Hört mal zu.« Ich stand von dem Stuhl auf, glättete meinen Rock und ging auf sie zu. »Hier ist mein Vorschlag. Ich weiß, dass ihr euch davor fürchtet, unbedeutend und unsichtbar zu sein – Niemande, von denen kein Mensch mehr weiß, dass sie jemals existiert haben. Und glaubt mir, ich weiß genau, was ihr empfindet, denn als ich noch lebte, hatte ich ebenfalls genau davor Angst. Ich verschwendete eine Menge Zeit damit – eigentlich mein ganzes Leben -, meiner älteren Schwester nachzustellen und zu versuchen, genau so zu sein wie sie. In meinen Augen war sie wichtig, enorm wichtig. Sie war hübsch und beliebt und, na ja, ein ganz besonderer Mensch. Und ich glaubte, wenn ich so wäre wie sie, sie ganz genau nachahmen würde, dann wäre ich auch etwas Besonderes. Aber in Wahrheit haben mich meine Versuche, so zu sein wie Ever, nicht zu einem wichtigen oder besonderen Menschen gemacht – ich war nur ein lästiges Anhängsel. Und vielleicht manchmal auch ein Quälgeist.«
Ich sah sie der Reihe nach an und hoffte, dass meine Worte allmählich irgendwie zu ihnen vordrangen. »Ich möchte euch damit sagen, dass ihr eine Wahl habt. Ihr könnt entweder hierbleiben und weiter die Leute zu Tode erschrecken oder ihr könnt an einen Ort umziehen, der, na ja …« Ich zögerte. Ich wollte nicht lügen und sagen, dass dieser Ort besser war, da ich wusste, dass das nicht wirklich der Wahrheit entsprach. Aber irgendwie musste ich ihn beschreiben. »Es ist ein neuer Ort. Und … anders. Dort ist alles viel aufregender als hier.« Ich deutete auf den Raum, der so verwüstet war, als hätte darin soeben ein Rugby Match stattgefunden. Und ich dachte an das Manifestieren, an die Strände, an die sich ständig verändernden, wunderschönen Landschaften im Hier und Jetzt und wusste, dass das zumindest wahr war. »Ich bin davon überzeugt, dass es euch dort gefallen wird. Ihr müsstet der Sache einfach nur eine Chance geben, das ist alles.« Nachdem ich das ausgesprochen hatte, fragte ich mich, ob der letzte Rat nicht auch auf mich zutraf.
»Aber wenn es uns dort nicht gefällt? Wenn wir dort ankommen und feststellen, dass wir es schrecklich finden und lieber wieder hier sein würden?«
Ich sah sie an und war versucht, sie zu belügen, um diese Sache endlich hinter mich zu bringen. Ich könnte ihnen vorlügen, dass sie die Erdebene nicht vermissen würden, kein kleines bisschen.
Aber das brachte ich nicht fertig.
Ich konnte sie nicht so hinters Licht führen.
Also sah ich ihnen nacheinander in die Augen. »Die Sache ist die, dass ihr es vermissen werdet. Ich befürchte, darum kommen wir nicht herum – das steht eigentlich schon fest. Aber, wenn ihr es richtig anstellt, dann könnt ihr zu Besuch zurückkommen. Ich meine, schaut mich an – ich bin hier, oder? Ganz zu schweigen von all den anderen, die vor mir hier waren, um euch zu holen. Also, was sagt ihr? Seid ihr bereit für ein Abenteuer? Bereit dazu, zur Abwechslung mal etwas anderes auszuprobieren?«
Sie wandten sich einander zu und berieten sich. Und sie ließen sich Zeit und gingen alles Punkt für Punkt durch, bevor sie sich wieder an mich wandten. Der Erdbeerkopf übernahm wieder die Führung. »Ist das der Zeitpunkt, an dem du das Licht erscheinen lässt?«, wollte er wissen.
Ich schüttelte lachend den Kopf. »Nein, du Dummerchen. Ich werde euch jetzt zur Brücke führen.«