FÜNFZEHN
Ich knirschte mit den Zähnen und kniff die Augen zu.
Ich wollte das alles nicht mehr sehen. Leise verfluchte ich Bodhi
dafür, dass er eine Anfängerin wie mich praktisch ohne Vorwarnung
und ohne angemessenes Training in eine solche Situation gebracht
hatte. Und ich verfluchte auch Buttercup, weil er mich in einem
Moment im Stich gelassen hatte, in dem ich dringend Hilfe
brauchte.
Ich war kurz davor,
ihn anzuflehen, mit alldem aufzuhören. Ich wollte ihm sagen, dass
er meinetwegen die nächsten hundert Jahre hier herumspuken konnte.
Doch dann stieß er ein so lautes Gebrüll aus, dass ich nicht
umhinkam, einen Blick zu riskieren. Ich konnte nicht anders, als in
dieses gruselige, verwüstete Gesicht zu schauen.
Entsetzt beobachtete
ich, wie er sich von dem verrückten Clown mit den glühenden Augen
in jedes Monster verwandelte, das man in den letzten dreißig Jahren
in Filmen gesehen hatte.
Und dann kapierte
ich es: Er kannte mich gar
nicht!
Er hatte nicht mein
tiefstes Inneres angezapft, wie ich gedacht hatte.
Er machte sich
lediglich alle üblichen Ängste zu Nutze – die Ängste, die wir fast
alle hatten.
Und dass ich hier
nicht wegkam und zu Tode erschrocken an diesen Stuhl gefesselt war,
lag daran, dass ich glaubte, er habe
irgendeine Art Macht über mich.
Es lag an meiner
Überzeugung, dass die durch die Luft fliegenden Möbel mich hätten
verletzen können, dabei wären sie doch direkt durch mich
hindurchgegangen.
Meine Gedanken waren
schuld, dass ich glaubte, nichts gegen die Schlangen und gegen die
Zahnarztinstrumente ausrichten zu können, dass sie mächtiger als
ich waren und sich nicht bekämpfen ließen.
Aber das war gar
nicht so.
Und bei ihm ebenso
wenig.
Ganz und gar
nicht.
Als ich das
begriffen hatte, waren zwar die Schlangen und die Bohrer immer noch
da, aber ich fühlte mich stärker – stark genug, um meine Ängste zu
besiegen. Und als er seine Arme nach mir ausstreckte und seinen
Kopf in den Nacken warf, zuckte ich nicht zurück.
Tatsächlich tat ich
nicht viel.
Ich löste in aller
Ruhe die Riemen und Gurte und sah, wie der Radiant Boy …
wankte.
Er schwankte so
stark, dass er komplett das Gleichgewicht verlor.
Er strauchelte – und
teilte sich plötzlich in drei
Personen!
Mir stand der Mund
offen, als ich das beobachtete, und ein ungehörter Schrei steckte
tief in meiner Kehle fest. Das Einzige, was noch Furcht erregender
war als ein zorniger Radiant Boy, war ein halbes Sechserpack von
wütenden Radiant Boys.
Aber nur, als sie
sich kurz vor dem Fall zu einer Pyramide auftürmten. Nachdem sie
das Gleichgewicht verloren hatten und auf den Boden stürzten, gab
es keinen Zweifel mehr daran, dass ich jetzt die Oberhand
hatte.
Ich rutschte von dem
Stuhl herunter und beseitigte die Schlangen auf dem Fußboden, indem
ich mir einfach nur wünschte, sie
würden verschwinden. Dann schob ich meine Hüften vor, warf mein
Haar über die Schulter, neigte den Kopf zur Seite und sagte: »Aha,
ihr arbeitet also im Team.« Ich nickte und hielt einen Moment inne,
um sie mir alle anzuschauen. »Tja, das erklärt wohl, warum es in
all den Jahren niemand geschafft hat, euch davon zu überzeugen,
endlich weiterzuziehen. Wahrscheinlich habt ihr die letzten
Jahrhunderte damit verbracht, entweder in Schichten zu arbeiten
oder alle Leute mit diesem schaurigen Pyramidenmanöver zu
verschrecken. Kein sehr fairer Kampf, wenn ihr mal darüber
nachdenkt, oder?«
Alle drei rappelten
sich mühsam auf und versuchten, sich wie harte Typen zu geben, aber
dafür war es zu spät. Zwei von ihnen beschlossen, sich
zurückzuhalten, während einer als ihr Anführer nach vorne trat. Ich
fragte mich, warum sie gerade ihn ausgesucht hatten, denn für mich
sahen sie alle gleich aus. Doch als er näher kam – als alle näher
kamen -, entdeckte ich, dass sie nicht identisch
waren.
Als sie alle in
einem Haufen zusammengesteckt und ihre Energie gebündelt hatten,
hatten sie alle den gleichen strahlenden Glanz von sich gegeben.
Jetzt, da sie voneinander getrennt als Individuen auftraten, sah
man einige eindeutige Unterschiede. Einer war hochgewachsen, der
andere eher kleiner und einer von mittlerer Größe. Zwei von ihnen
hatten eine Haarfarbe, die man wohl am besten als platinblond
bezeichnen konnte, während der dritte – derjenige, der zuerst nach
vorne getreten war – einen rotblonden Schopf hatte. Und dieser
Junge straffte die Schultern, warf sich in die Brust, reckte sein
Kinn nach oben und sprach mich an.
»Ich befehle dir, zu
gehen«, sagte er mit fester, kräftiger Stimme, die recht
einschüchternd klang.
Und obwohl die
Bilder von den Schlangen und dem verrückten Clown mit den
Zahnarztinstrumenten noch frisch in meinem Gedächtnis waren, musste
ich das jetzt überwinden und die Gedanken daran komplett verbannen.
Wenn ich mit den Jungs weiterkommen und Fortschritte machen wollte,
dann musste ich ihnen unbedingt zeigen, dass ich nicht mehr das
verängstigte kleine Geistermädchen wie noch vor einem Moment
war.
»Bitte sag mir, dass
du das nicht ernst meinst«, entgegnete ich. Mir war klar, dass ich
ihn damit wahrscheinlich noch wütender machte, aber das nahm ich in
Kauf. Obwohl sie zu dritt waren, und ich allein, handelte es sich
nur um ein paar Zehnjährige. Und das machte mich, so wie ich das
sah, zu ihrem Boss. »Ich meine, du willst mich nicht allen Ernstes
herumkommandieren, oder?« Ich sah mich
um und prägte mir jedes Detail ein, weil ich mich an diesen
bestimmten Moment ganz genau erinnern wollte. Wie der Raum aussah
und wie sie aussahen war wichtig, weil
ich wusste, dass das meine Lieblingsstellen in der Geschichte
werden würden, wenn ich sie später erzählte. Ich schüttelte den
Kopf, als ich das plötzliche Aufglühen in seinen Augen sah, das,
wie ich richtig deutete, Zorn bedeutete. »Meine Güte, es sieht so
aus, als würdest du es tatsächlich
ernst meinen. Okay.« Ich nickte und versuchte, bei seinem Anblick
nicht zurückzuzucken. »Aber schau, es geht um Folgendes. Ich
kann nicht gehen – zumindest noch
nicht. Ich habe eine Aufgabe bekommen, und, na ja, bevor ich sie
nicht erledigt habe, verschwinde ich nicht von hier. Also haben wir
anscheinend ein kleines Problem, wenn du mir Befehle geben willst
und so.«
Er warf einen Blick
über seine Schulter und sah die anderen an, die seine Bemühungen
mit halbherzigem Schulterzucken beantworteten. Das reichte ihm
jedoch, um sich mir wieder zuzuwenden und zu sagen: »Ich erkläre
dir hiermit, dass du gehen musst! Und zwar sofort!« Er hob seine
Arme und streckte die Handflächen nach oben, während sich weitere
dreiköpfige Schlangen über seine Arme schlängelten und in meine
Richtung schnellten.
Ich schlug sie
jedoch einfach weg, weil ich wusste, dass sie nur echt waren, wenn
ich ihnen das gestattete. Im Großen und Ganzen konnte er mir nichts
anhaben.
Ich zuckte die
Schultern und ging zu dem mit blauem Stoff bezogenen Stuhl hinüber.
Ich stellte ihn wieder auf seine Füße und ließ mich darauffallen.
Da ich wohl zu Recht annahm, dass diese Sache wegen all dieser
Vorschriften und Verkündigungen ein wenig länger dauern würde, als
ich mir das wünschte, konnte ich es mir zumindest ein wenig bequem
machen.
Er baute sich vor
mir auf. Seine rötlichblonden Augenbrauen zogen sich über den vor
Wut sprühenden Augäpfeln zusammen. Aber ich reagierte nicht darauf
– ich weigerte mich, ihm diesen Gefallen zu tun. Und nachdem er
noch einige weitere Befehle und Anordnungen von sich gegeben hatte
und einige Drohungen ausgestoßen hatte, sah er plötzlich so aus,
als hätte man ihn ausgeknipst.
Tatsächlich waren
alle drei abgeschaltet.
Sie glühten nicht
mehr, ihre Augen waren nicht mehr rot, und drei normale rosafarbene
Münder ersetzten die abgrundtiefen schwarzen Löcher, die soeben
noch dort gewesen waren.
Vor mir standen ein
paar Zehnjährige, wie man sie überall sah. Na ja, bis auf die echt
grauenhaften, einfach unglaublichen – ich wünschte, das hättet ihr
sehen können – grässlichen weißen Anzüge mit kurzen Hosen und den
dazu passenden weißen Kniestrümpfen und den glänzenden schwarzen
Schuhen.
Ich konnte nicht
anders, als zu hoffen, dass das die Klamotten waren, die man ihnen
für die Beerdigung angezogen hatte, denn falls sie sich dieses
Outfit selbst ausgesucht hatten, dann bezweifelte ich, dass ich
jemals zu ihnen durchdringen würde.
»Warum hast du keine
Angst vor uns?«, fragte der Junge, den ich in Gedanken Erdbeerkopf
nannte.
Ich zuckte die
Schultern, musterte ihn kurz und erwiderte dann: »Na ja, wenn du
dich dann besser fühlst … Ich hatte zuerst schon Angst vor euch.
Ich meine, ihr habt doch gesehen, dass ich kurz davor war,
abzuhauen. Und dann dieses schreckliche Theater mit dem Clown und
den Bohrern und Haken …« Ich schüttelte mich bei dem Gedanken
daran. »Tja, ihr habt mich beinahe geschafft! Aber als ihr mit
diesem Monstergetue angefangen habt, war das ein todsicheres
Zeichen.« Ich grinste und fügte hinzu: »Die Doppeldeutigkeit war
durchaus beabsichtigt.« Ich brach in Gelächter aus, aber sie
stimmten nicht mit ein. Rasch sprach ich weiter. »Wie auch immer,
das war es eigentlich, was mich darauf gebracht hat. Ich meine, die
meisten dieser Filme wurden lange vor meiner Zeit gedreht, und
daher kapierte ich es in diesem Moment.«
»Was hast du
kapiert?« Er presste seine Lippen zusammen und sah mich auf diese
nervige Art an, wie sie nur Zehnjährige draufhatten.
»Mir wurde klar,
dass du auf meine Angst bautest. Eine Angst, die mich übermannte
und mich nicht mehr sehen ließ, dass ich eigentlich alles unter
Kontrolle hatte – und die dazu führen würde, dass die Furcht die
Oberhand gewinnen würde. Und ich begriff, dass meine Weigerung,
diese Angst zu schüren und sie Besitz von mir ergreifen zu lassen,
die Macht über mich schwächen würde – deine Macht über mich.« Ich nickte und, obwohl ich
versuchte, es zu unterdrücken, glitt ein triumphierendes Lächeln
über mein Gesicht. Das schien ihn noch mehr zu verärgern. »Ganz
abgesehen davon, dass ich bereits ebenso tot bin wie du und es
somit nicht viel gibt, was du tun könntest, um mir wehzutun,
oder?«, fügte ich hinzu.
»Oh, wir könnten
einiges tun! Wir könnten …«, meldete sich der Blonde zu Wort,
stürmte vorwärts und schüttelte seine kleine Faust in der Luft, bis
der Erdbeerkopf seine Hand hob und ihn zurück an seinen Platz
verwies.
»Wir gehen nicht von
hier weg, falls das der Grund deines Besuchs sein sollte. Weißt du,
vor dir haben schon viele versucht, uns zu vertreiben. Viele, das
kannst du mir glauben. Aber wir sind immer noch hier. Und das
bereits seit Hunderten von Jahren. Also, vielleicht wäre es besser,
wenn du von hier verschwindest, denn wir haben nicht vor, hiermit
aufzuhören. Und falls du weiter hartnäckig bleibst, dann wirst du
feststellen, dass du nur deine Zeit verschwendet
hast.«
»Vielleicht.« Ich
zuckte die Schultern, zupfte an einem losen Faden an einem der
blauen Kissen und tat so, als sei ich an alldem nur geringfügig
interessiert und als stünde nicht einiges für mich auf dem Spiel.
»Aber vielleicht auch nicht.« Ich hob den Blick und sah ihm in die
Augen. »Ich meine, hast du dir jemals überlegt, dass möglicherweise
ihr Jungs diejenigen seid, die hier ihre Zeit verschwenden? Im
Ernst, denk mal darüber nach. Seit Hunderten von Jahren rennt ihr
in euren altmodischen kurzen Hosen hier herum, nur um ein wenig
Spaß dabei zu haben, Geisterjägertouristen zu Tode zu erschrecken.«
Ich schüttelte den Kopf. »Hunderte Jahre die gleiche lahme
Routine«, seufzte ich und sah jeden der Jungs gezielt an. Allein
der Gedanke daran schien ermüdend und sinnlos. »Und wozu, wenn ich
fragen darf? Was soll der Sinn und Zweck bei alldem sein? Und was
genau habt ihr davon? Also im Ernst. Sehnt ihr euch nicht danach,
mal Urlaub zu machen? Oder zumindest eine Woche lang eine Pause
einzulegen?«
»Wir legen Pausen
ein! Wir arbeiten in Schichten, das wirst du schon noch sehen!«,
rief der andere Blondschopf.
Schichtarbeit oder
nicht – sie kapierten es nicht. Überhaupt nicht. Ich hatte zwölf
Jahre damit verbracht, meine ältere Schwester zu nerven – bis zu
einem Punkt, an dem mein Verhalten absolut lächerlich war. Aber das
war nichts im Vergleich zu dieser enormen Zeitverschwendung, für
die diese Jungs sich in den vergangenen Jahrhunderten entschieden
hatten. Das nenne ich vergeudete Zeit.
»Was ich damit sagen
will …« Ich drückte das Kissen kurz an meine Brust, bevor ich es
zur Seite schleuderte. Bevor ich fortfuhr, vergewisserte ich mich,
dass ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. »Was ist der Lohn
dafür? Im Ernst, warum macht ihr euch die Mühe mit den
flammendroten Augen, den klaffenden schwarzen Mündern und dem
ganzen anderen Zeug?« Ich deutete auf sie und zog eine unsichtbare
Linie von ihren Lockenköpfen bis zu ihren makellos polierten
Schuhen.
Dann meldete sich
der andere zu Wort, der neben dem Erdbeerkopf stand. »Was der Lohn
dafür ist?« Er starrte mich mit seinen blauen Augen an und warf
dann einen Blick auf seine Freunde, die kicherten und sich
zugrinsten. »Ruhm. Darum geht es.
Weltweiter Ruhm ist der Lohn dafür.«
Sie schüttelten die Köpfe, verdrehten die Augen und feixten, als
wäre ich eine hochgradige Idiotin.
Ich blinzelte – ich
war mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden hatte. Ich
meine, das konnten sie doch nicht wirklich ernst
meinen.
»Wir sind
berühmt«, wiederholte er mit fester
Stimme und sah mich entschlossen an. »Unser Name ist bekannt. Die
Leute kommen aus der ganzen Welt hierher, in der Hoffnung, einen
kurzen Blick auf uns zu erhaschen, eine Möglichkeit zu haben, uns
zu photographieren, eine Aufnahme unserer Stimmen machen zu können,
uns zu begegnen. Und das alles, um dann ihren Freunden zu Hause
erzählen zu können, dass sie eine Nacht mit uns überlebt haben.« Er
sah seine Kumpel an, die in Gelächter ausbrachen, und richtete dann
seinen Blick wieder auf mich. »Das ist übrigens eine fette Lüge,
denn es hat noch nie jemand geschafft, eine ganze Nacht in diesem
Zimmer auszuharren. Niemand. Ohne
Ausnahme.« Sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. »Und nicht
zu vergessen all die Bücher, Artikel und Fernsehshows über uns. Wir
sind berühmt. Internationale Superstars! Und das bereits seit
Jahren. Wir sind … wir sind in gewisser Weise vergleichbar mit den
Backstreet Boys – nur, dass wir tot sind.«
Meine Güte.
Plötzlich taten sie mir furchtbar leid. Ich meine, sie hatten nicht
nur Wahnvorstellungen, sondern waren auch noch auf tragische Weise
vollkommen von gestern. Ich meine, die Backstreet Boys … Mussten
sie sich auf so uralte Typen beziehen? Ich schüttelte den Kopf und
musterte sie. Sie erinnerten mich sehr an einige meiner früheren
Mitschüler, deren einziges Ziel im Leben war, berühmt zu werden.
Und wozu? Das wussten sie selbst nicht. Sie bildeten sich einfach
nur ein, fürs Rampenlicht bestimmt zu sein.
Und ihre erste
Anlaufstelle war YouTube.
Ich ließ meinen
Blick über sie wandern. Sie waren so entrüstet und so sicher, dass
sie Recht hatten, und mir wurde klar, dass ich ihnen jetzt die
Wahrheit beibringen musste.
Ich räusperte mich
und atmete aus reiner Gewohnheit tief durch, bevor ich loslegte.
»Ähm, es tut mir leid, euch das sagen zu müssen, aber ihr habt
keinerlei Ähnlichkeit mit den Backstreet Boys. Woher kennt ihr
diese Band überhaupt? Ihr lebt in einem Schloss weitab vom
Schuss.«
Sie starrten mich
an, eine Einheitsfront mit weißen kurzen Hosen, weißen
Kniestrümpfen und vor Zorn geröteten Wangen.
»Du bist nicht die
Erste, die in den Habseligkeiten von anderen Leuten
herumschnüffelt. Wir verfügen über Computer, und wir haben uns auch
den einen oder anderen iPod genauer angeschaut«, erklärte der
kleinste Blondschopf. Seine Kumpel kicherten und lachten und sahen
mich kopfschüttelnd an.
»Nur weil wir in
einem Schloss ›weitab vom Schuss‹ leben, heißt das nicht, dass wir
nicht all das kennen, was du auch kennst«, fügte der Erdbeerkopf
hinzu.
Ich nickte. Das
hatte ich nicht vorhergesehen. Alle Achtung. Allerdings verstand
ich nicht, warum jemand, der die Boybands des letzten Jahrzehnts
kannte, immer noch in solchen Klamotten herumlief. Andererseits
musste man sich nur Bodhi anschauen – ein Junge, der beinahe
professioneller Skater geworden wäre und sich – aus welchem Grund
auch immer – anzog wie ein totaler Langweiler. Menschen waren eben
schwer zu verstehen – die Lebenden ebenso wie die Toten, da war ich
mir sicher.
»Also gut. Mein
Fehler. Es tut mir leid, dass ich eure Kenntnisse über Popmusik
falsch eingeschätzt habe. Trotzdem muss ich euch leider noch einmal
sagen, dass ihr nichts mit den Backstreet Boys gemein habt.
Millionen Menschen auf der ganzen Welt haben sie geliebt. Tja, und wie viele Menschen lieben euch?«
Ich beobachtete, wie
sie sich verblüffte Blicke zuwarfen. Ihre Gedanken der Verwirrung
und Verzweiflung flogen vibrierend und grollend durch den
Raum.
Der Erdbeerkopf
schüttelte heftig den Kopf. Er war entschlossen, das Kommando
wieder zu übernehmen und alles unter seine Kontrolle zu bringen.
»Hört nicht auf sie. Das ist alles nicht wahr! Sie will sich nur
mit uns anlegen. Es gehört zu ihrer Mission oder zu dem Plan, den
sie hat, wie immer der auch lauten mag.« Er warf mir einen
hasserfüllten Blick zu, der beinahe genauso schlimm war wie die
Flammen, die vorher aus seinen Augen geschlagen hatten. »Vielleicht
lieben sie uns nicht wirklich, aber sie
genießen es, sich vor uns zu fürchten. Die Leute kommen aus der
ganzen Welt hierher – nur unseretwegen! Ohne uns wäre Warmington
Castle ruiniert! Niemand würde es besichtigen. Es könnte nicht
länger unterhalten werden und müsste ganz sicher geschlossen
werden.«
Die beiden
Blondschöpfe an seiner Seite nickten bekräftigend.
»Vielleicht –
vielleicht auch nicht.« Ich runzelte die Stirn. Ich wusste, dass er
Recht haben könnte, aber das war hier nicht entscheidend. »Aber
welchen Unterschied macht das für euch? Ich meine, seid ihr
irgendwie beteiligt? Bedankt sich jemand für eure ehrenamtliche
Tätigkeit hier? Was bringt euch all die Zeit ein, die ihr damit
verbringt? Was ist euer Lohn für diese vielen Stunden? Ehrlich,
habt ihr euch nicht schon einmal Gedanken darüber gemacht, dass ihr
total ausgenützt werdet? Im schlimmsten Sinn benützt werdet? Ihr
Jungs gebt dem Begriff Nachtschicht eine völlig neue Bedeutung. Und
was ist für euch – außer dem fragwürdigen Ruhm – dabei
drin?«
Sie sahen sich an,
und ihre Gedanken wirbelten rauschend zwischen ihnen hin und
her.
»Hört mal zu.« Ich
stand von dem Stuhl auf, glättete meinen Rock und ging auf sie zu.
»Hier ist mein Vorschlag. Ich weiß, dass ihr euch davor fürchtet,
unbedeutend und unsichtbar zu sein – Niemande, von denen kein
Mensch mehr weiß, dass sie jemals existiert haben. Und glaubt mir,
ich weiß genau, was ihr empfindet, denn als ich noch lebte, hatte
ich ebenfalls genau davor Angst. Ich verschwendete eine Menge Zeit
damit – eigentlich mein ganzes Leben -, meiner älteren Schwester
nachzustellen und zu versuchen, genau so zu sein wie sie. In meinen
Augen war sie wichtig, enorm wichtig. Sie war hübsch und beliebt
und, na ja, ein ganz besonderer Mensch. Und ich glaubte, wenn ich
so wäre wie sie, sie ganz genau nachahmen würde, dann wäre ich auch
etwas Besonderes. Aber in Wahrheit haben mich meine Versuche, so zu
sein wie Ever, nicht zu einem wichtigen oder besonderen Menschen
gemacht – ich war nur ein lästiges Anhängsel. Und vielleicht
manchmal auch ein Quälgeist.«
Ich sah sie der
Reihe nach an und hoffte, dass meine Worte allmählich irgendwie zu
ihnen vordrangen. »Ich möchte euch damit sagen, dass ihr eine Wahl
habt. Ihr könnt entweder hierbleiben und weiter die Leute zu Tode
erschrecken oder ihr könnt an einen Ort umziehen, der, na ja …« Ich
zögerte. Ich wollte nicht lügen und sagen, dass dieser Ort besser
war, da ich wusste, dass das nicht wirklich der Wahrheit entsprach.
Aber irgendwie musste ich ihn beschreiben. »Es ist ein neuer Ort.
Und … anders. Dort ist alles viel
aufregender als hier.« Ich deutete auf den Raum, der so verwüstet
war, als hätte darin soeben ein Rugby Match stattgefunden. Und ich
dachte an das Manifestieren, an die Strände, an die sich ständig
verändernden, wunderschönen Landschaften im Hier und Jetzt und
wusste, dass das zumindest wahr war. »Ich bin davon überzeugt, dass
es euch dort gefallen wird. Ihr müsstet der Sache einfach nur eine
Chance geben, das ist alles.« Nachdem ich das ausgesprochen hatte,
fragte ich mich, ob der letzte Rat nicht auch auf mich
zutraf.
»Aber wenn es uns
dort nicht gefällt? Wenn wir dort
ankommen und feststellen, dass wir es schrecklich finden und lieber
wieder hier sein würden?«
Ich sah sie an und
war versucht, sie zu belügen, um diese Sache endlich hinter mich zu
bringen. Ich könnte ihnen vorlügen, dass sie die Erdebene nicht
vermissen würden, kein kleines bisschen.
Aber das brachte ich
nicht fertig.
Ich konnte sie nicht
so hinters Licht führen.
Also sah ich ihnen
nacheinander in die Augen. »Die Sache ist die, dass ihr es
vermissen werdet. Ich befürchte, darum kommen wir nicht herum – das
steht eigentlich schon fest. Aber, wenn ihr es richtig anstellt,
dann könnt ihr zu Besuch zurückkommen. Ich meine, schaut mich an –
ich bin hier, oder? Ganz zu schweigen von all den anderen, die vor
mir hier waren, um euch zu holen. Also, was sagt ihr? Seid ihr
bereit für ein Abenteuer? Bereit dazu, zur Abwechslung mal etwas
anderes auszuprobieren?«
Sie wandten sich
einander zu und berieten sich. Und sie ließen sich Zeit und gingen
alles Punkt für Punkt durch, bevor sie sich wieder an mich wandten.
Der Erdbeerkopf übernahm wieder die Führung. »Ist das der
Zeitpunkt, an dem du das Licht erscheinen lässt?«, wollte er
wissen.
Ich schüttelte
lachend den Kopf. »Nein, du Dummerchen. Ich werde euch jetzt zur
Brücke führen.«