ZWANZIG
Bodhi war wütend. Richtig sauer. Er warf mir einen
zornigen Blick zu. »Verflixt, Riley, ich bin dein Führer. Das
bedeutet, dass du tun musst, was ich dir sage!«
Nach einer kurzen
Pause fügte er hinzu: »Genau deshalb wollte ich dich nicht hierher
mitnehmen. Das ist meine Aufgabe, nicht deine. Ich bin der Einzige,
der das erledigen kann. Also bitte ich dich zum letzten Mal, dich
wegzudrehen! Bitte!«
Aber auch nach
alldem schaute ich weiter hin. Ich blieb, wo ich war, trieb im
Wasser, kämpfte darum, meinen Kopf über Wasser zu halten, bis sich
die Wogen um mich herum glätteten. Und ich war froh, dass mein Hund
so klug gewesen war und sich davor gedrückt hatte.
»Was soll das
alles?«, fragte ich. Meine Stimme klang schwach, verängstigt und so
hilfsbedürftig, dass es mir peinlich war und ihn auf die Palme
brachte. »Und wo genau sind wir jetzt? Ich verstehe das alles
nicht.«
Bodhi sah mich an.
Sein Haar war feucht und klebte an seinen Wangen. In dem Strudel
hatte er seine Jacke verloren, und ich hoffte, dass seine
Streberbrille auch untergegangen war.
»Wir befinden uns
jetzt in ihrer Welt«, erklärte er. Seine Stimme klang resigniert
und gab mir zu verstehen, dass er es wirklich satthatte, sich mit
mir herumzustreiten. »Und diese Welt ist gefährlich. Kein Ort für
Kinder, und ganz sicher kein Ort für Menschen mit schwachen Nerven.
Wenn du dich also schon weigerst, zu tun, worum ich dich bitte,
wenn du dich nicht abwenden und dich damit retten willst, dann
verhalte dich bitte zumindest ruhig. Das Wasser sollte sich
beruhigt haben. Es ist jetzt so still, dass ich dich hier allein
lassen kann. Aber ich warne dich, Riley – was immer auch als
Nächstes geschehen wird, ganz gleich, was du siehst oder hörst,
halte dich von dem Felsen fern. So schrecklich alles auch werden
mag – hier ist es viel sicherer für dich. Also tu bitte, was ich
dir gesagt habe, und rühr dich nicht vom Fleck. Misch dich nicht
ein, ganz gleich, wie schlimm die Dinge werden mögen. Okay? Kannst
du mir diesen Gefallen tun?«
Ich nickte. Ich war
mir nicht sicher, ob ich dieses Versprechen würde halten könne, vor
allem, wenn so grässliche Sachen passieren würden, wie er
offensichtlich befürchtete. Ganz zu schweigen davon, wenn die
Wellen wieder beängstigend hochschlugen und sich Strudel bildeten.
Dann wäre der Felsen der Ort, auf den ich sofort zusteuern würde.
Aber ich wusste, dass er meine Zustimmung brauchte, um mit seiner
Aufgabe fortfahren zu können, also nickte ich
bestätigend.
Ich beobachtete, wie
er davonschwamm und wendig wie ein Fisch durch die Strömung glitt.
Dann kletterte er auf eine Art kleine Insel irgendwo in der Ferne,
die sich, bei näherem Hinsehen als großer, zerklüfteter Felsen
entpuppte, der aus dem Wasser ragte.
Und dann sah ich
es.
Und ich bin mir
ziemlich sicher, dass auch er es genau in diesem Moment
sah.
In dem Moment, in
dem er hinaufkletterte und sich an dem Felsen festhielt, sahen wir
beide, jeder aus seinem eigenen Blickwinkel, den genauen Grund für
das Leid, das die Geisterfrau in den letzten Jahrhunderten ertragen
hatte.
Sie war eine
Mörderin.
Eine
Kindsmörderin.
Zumindest sagten das
alle über sie.
Sie war
fälschlicherweise des schlimmsten Verbrechens bezichtigt worden,
das ein Mensch jemals begehen konnte – sie hatte angeblich ihre
eigenen Kinder getötet.
Ihre drei geliebten
Söhne, die ich sofort als die drei goldblonden Radiant Boys
wiedererkannte, die ich soeben über die Brücke geschickt
hatte.
Aber sie war
unschuldig. Sie hatte diese Tat nicht begangen.
Sie war lediglich
eine arme, verwitwete Mutter, die ihre Söhne allein aufziehen
musste und gezwungen war, hier im Schloss Arbeit anzunehmen. Naiv
und vertrauensselig hatte sie ihre Söhne in die Obhut einer
falschen Person gegeben, während sie beschäftigt war.
Ein Stallknecht, der
ihr versprochen hatte, ihre Söhne zum Fischen mitzunehmen, hatte,
anstatt die Angel auszuwerfen, alle drei ertränkt. Er hatte alles
gut vertuscht und einige Indizien gestreut, um sie in Verdacht zu
bringen. Dann war er ebenso schnell von der Bildfläche
verschwunden, wie er aufgetaucht war, und man hatte nie wieder
etwas von ihm gesehen oder gehört.
Nachdem sie zum Tode
verurteilt und hingerichtet worden war, warf sie einen Blick auf
das schimmernde Licht, das zur Brücke führte, sah, wie sie glühte
und schwankte und sie lockte. Die Brücke bot ihr Zuspruch, Liebe,
Mitgefühl und Vergebung an – alles, was sie seit Langem nicht mehr
bekommen hatte. Aber anstatt auf dieses Angebot einzugehen und den
Trost anzunehmen, der ihr nur hier zuteilwerden würde, drehte sie
sich um und ging weg. Getrieben von ihrem überwältigenden Schmerz
und einem unüberwindlichen Schuldgefühl, kehrte sie an den Ort
zurück, an dem man ihr die Nachricht überbracht hatte. Sie war
davon überzeugt, dass sie eine große Schuld traf, weil sie so
gutgläubig gewesen war, sich nicht ausreichend um ihre Kinder
gekümmert hatte und nicht annähernd genug für deren Sicherheit
gesorgt hatte.
An diesem Ort
verweilte sie, hielt Ausschau nach ihnen und wartete auf ihre
Rückkehr …
Und plötzlich,
einfach so, wusste ich genau, wo wir beide uns
befanden.
Wir waren nicht in
ihrem Kopf, wie ich anfänglich geglaubt
hatte. Wir saßen auch nicht in der Mitte der ersten Reihe und sahen
uns die Erinnerungen an, die sie in ihrem gequälten, gebrochenen
Herzen trug.
Nein.
Bodhi und ich
befanden uns im dunkelsten Teil ihrer Seele.
An dem Ort, den sie
vor langer Zeit vor der Welt versperrt hatte. An dem Ort, an den
sie sich selbst verdammt hatte. Ein selbst auferlegtes Gefängnis
für die letzten Jahrhunderte.
Und nun hatten wir
uns zu ihr gesellt, ob uns das gefiel oder nicht.
Wir waren mit ihr
eingesperrt.
Und ich hatte keine
andere Wahl, als Bodhi dabei zuzusehen, wie er sich an den Felsen
klammerte, seine Arme weit ausstreckte, seinen Kopf in den Nacken
warf und seinen Mund öffnete, um all das in sich
aufzunehmen.
Fest entschlossen,
alles zu schlucken – jedes kleine bisschen des schrecklichen
Kummers, der sie seit Hunderten von Jahren an die Erdebene
gefesselt hatte.
Fest entschlossen,
alles auf sich zu nehmen.
Es ihr zu entreißen
und es sich anzueignen.