021
 
ZWANZIG
 
Bodhi war wütend. Richtig sauer. Er warf mir einen zornigen Blick zu. »Verflixt, Riley, ich bin dein Führer. Das bedeutet, dass du tun musst, was ich dir sage!«
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Genau deshalb wollte ich dich nicht hierher mitnehmen. Das ist meine Aufgabe, nicht deine. Ich bin der Einzige, der das erledigen kann. Also bitte ich dich zum letzten Mal, dich wegzudrehen! Bitte!«
Aber auch nach alldem schaute ich weiter hin. Ich blieb, wo ich war, trieb im Wasser, kämpfte darum, meinen Kopf über Wasser zu halten, bis sich die Wogen um mich herum glätteten. Und ich war froh, dass mein Hund so klug gewesen war und sich davor gedrückt hatte.
»Was soll das alles?«, fragte ich. Meine Stimme klang schwach, verängstigt und so hilfsbedürftig, dass es mir peinlich war und ihn auf die Palme brachte. »Und wo genau sind wir jetzt? Ich verstehe das alles nicht.«
Bodhi sah mich an. Sein Haar war feucht und klebte an seinen Wangen. In dem Strudel hatte er seine Jacke verloren, und ich hoffte, dass seine Streberbrille auch untergegangen war.
»Wir befinden uns jetzt in ihrer Welt«, erklärte er. Seine Stimme klang resigniert und gab mir zu verstehen, dass er es wirklich satthatte, sich mit mir herumzustreiten. »Und diese Welt ist gefährlich. Kein Ort für Kinder, und ganz sicher kein Ort für Menschen mit schwachen Nerven. Wenn du dich also schon weigerst, zu tun, worum ich dich bitte, wenn du dich nicht abwenden und dich damit retten willst, dann verhalte dich bitte zumindest ruhig. Das Wasser sollte sich beruhigt haben. Es ist jetzt so still, dass ich dich hier allein lassen kann. Aber ich warne dich, Riley – was immer auch als Nächstes geschehen wird, ganz gleich, was du siehst oder hörst, halte dich von dem Felsen fern. So schrecklich alles auch werden mag – hier ist es viel sicherer für dich. Also tu bitte, was ich dir gesagt habe, und rühr dich nicht vom Fleck. Misch dich nicht ein, ganz gleich, wie schlimm die Dinge werden mögen. Okay? Kannst du mir diesen Gefallen tun?«
Ich nickte. Ich war mir nicht sicher, ob ich dieses Versprechen würde halten könne, vor allem, wenn so grässliche Sachen passieren würden, wie er offensichtlich befürchtete. Ganz zu schweigen davon, wenn die Wellen wieder beängstigend hochschlugen und sich Strudel bildeten. Dann wäre der Felsen der Ort, auf den ich sofort zusteuern würde. Aber ich wusste, dass er meine Zustimmung brauchte, um mit seiner Aufgabe fortfahren zu können, also nickte ich bestätigend.
Ich beobachtete, wie er davonschwamm und wendig wie ein Fisch durch die Strömung glitt. Dann kletterte er auf eine Art kleine Insel irgendwo in der Ferne, die sich, bei näherem Hinsehen als großer, zerklüfteter Felsen entpuppte, der aus dem Wasser ragte.
Und dann sah ich es.
Und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch er es genau in diesem Moment sah.
In dem Moment, in dem er hinaufkletterte und sich an dem Felsen festhielt, sahen wir beide, jeder aus seinem eigenen Blickwinkel, den genauen Grund für das Leid, das die Geisterfrau in den letzten Jahrhunderten ertragen hatte.
Sie war eine Mörderin.
Eine Kindsmörderin.
Zumindest sagten das alle über sie.
Sie war fälschlicherweise des schlimmsten Verbrechens bezichtigt worden, das ein Mensch jemals begehen konnte – sie hatte angeblich ihre eigenen Kinder getötet.
Ihre drei geliebten Söhne, die ich sofort als die drei goldblonden Radiant Boys wiedererkannte, die ich soeben über die Brücke geschickt hatte.
Aber sie war unschuldig. Sie hatte diese Tat nicht begangen.
Sie war lediglich eine arme, verwitwete Mutter, die ihre Söhne allein aufziehen musste und gezwungen war, hier im Schloss Arbeit anzunehmen. Naiv und vertrauensselig hatte sie ihre Söhne in die Obhut einer falschen Person gegeben, während sie beschäftigt war.
Ein Stallknecht, der ihr versprochen hatte, ihre Söhne zum Fischen mitzunehmen, hatte, anstatt die Angel auszuwerfen, alle drei ertränkt. Er hatte alles gut vertuscht und einige Indizien gestreut, um sie in Verdacht zu bringen. Dann war er ebenso schnell von der Bildfläche verschwunden, wie er aufgetaucht war, und man hatte nie wieder etwas von ihm gesehen oder gehört.
Nachdem sie zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war, warf sie einen Blick auf das schimmernde Licht, das zur Brücke führte, sah, wie sie glühte und schwankte und sie lockte. Die Brücke bot ihr Zuspruch, Liebe, Mitgefühl und Vergebung an – alles, was sie seit Langem nicht mehr bekommen hatte. Aber anstatt auf dieses Angebot einzugehen und den Trost anzunehmen, der ihr nur hier zuteilwerden würde, drehte sie sich um und ging weg. Getrieben von ihrem überwältigenden Schmerz und einem unüberwindlichen Schuldgefühl, kehrte sie an den Ort zurück, an dem man ihr die Nachricht überbracht hatte. Sie war davon überzeugt, dass sie eine große Schuld traf, weil sie so gutgläubig gewesen war, sich nicht ausreichend um ihre Kinder gekümmert hatte und nicht annähernd genug für deren Sicherheit gesorgt hatte.
An diesem Ort verweilte sie, hielt Ausschau nach ihnen und wartete auf ihre Rückkehr …
Und plötzlich, einfach so, wusste ich genau, wo wir beide uns befanden.
Wir waren nicht in ihrem Kopf, wie ich anfänglich geglaubt hatte. Wir saßen auch nicht in der Mitte der ersten Reihe und sahen uns die Erinnerungen an, die sie in ihrem gequälten, gebrochenen Herzen trug.
Nein.
Bodhi und ich befanden uns im dunkelsten Teil ihrer Seele.
An dem Ort, den sie vor langer Zeit vor der Welt versperrt hatte. An dem Ort, an den sie sich selbst verdammt hatte. Ein selbst auferlegtes Gefängnis für die letzten Jahrhunderte.
Und nun hatten wir uns zu ihr gesellt, ob uns das gefiel oder nicht.
Wir waren mit ihr eingesperrt.
Und ich hatte keine andere Wahl, als Bodhi dabei zuzusehen, wie er sich an den Felsen klammerte, seine Arme weit ausstreckte, seinen Kopf in den Nacken warf und seinen Mund öffnete, um all das in sich aufzunehmen.
Fest entschlossen, alles zu schlucken – jedes kleine bisschen des schrecklichen Kummers, der sie seit Hunderten von Jahren an die Erdebene gefesselt hatte.
Fest entschlossen, alles auf sich zu nehmen.
Es ihr zu entreißen und es sich anzueignen.