VIER
Nachdem ich eine Weile, die mir sehr lang erschien,
Ever beobachtet hatte, verließ ich die Kabine und ließ einen Mann
mittleren Alters mit einem dieser nach oben gezwirbelten
Schnurrbärte hinein, die man viel öfter in Cartoons als im wahren
Leben sieht. Ich verließ den Aussichtsraum und ging mit einem
karierten Rock, einer weißen Bluse und einem blauen Blazer zur
Schule. Ich hatte mich dafür entschieden, in der Hoffnung, mir
damit eine vernichtende, peinliche Katastrophe in Sachen Mode zu
ersparen.
Erleichtert stellte
ich fest, dass ich nicht die Einzige war, die eine Schuluniform
trug – viele der anderen Kinder waren ebenso gekleidet. Manche
trugen aber auch Saris und Kimonos und alle möglichen coolen
Klamotten von überall auf der ganzen Welt. So gut wie jede
Nationalität war vertreten. Und dann wurde mir schlagartig alles
klar – die ganze Tragweite der tatsächlichen Geschehnisse im
Hier.
Ich war endlich die
Austauschschülerin, die ich immer hatte sein wollen.
Als das leise
Klingeln von Windspielen erklang, strömten alle in dieselbe
Richtung, und da ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte oder
was von mir erwartet wurde, folgte ich den anderen.
Ich reihte mich in
die Menge der Schüler ein, und wir gingen einen wunderschön
gestalteten Pfad entlang, vorbei an allen möglichen exotischen
Blumen, Pflanzen und Bäumen, dann über eine schmale Brücke, die
über den größten und fantastischsten Koiteich führte, den ich
jemals gesehen hatte, und dann in ein Bauwerk, das aussah wie der
Parthenon in Griechenland, den ich von Bildern kannte. Allerdings
war dieses Gebäude ganz und gar nicht alt, und es fehlten keine
Säulen oder so etwas. Diese besondere Version davon war aus Marmor
und glänzte so strahlend weiß und makellos, dass man den Eindruck
hatte, es sei erst an diesem Tag erbaut worden.
Wir gingen die
Stufen hinauf und setzten uns auf eine lange Marmorbank. Ich
quetschte mich neben ein Mädchen in einer königsblauen und
knallgelben Cheerleaderuniform. Ein Junge in einer langen
beigefarbenen Baumwolltunika, einer dazu passenden Hose und alten
Ledersandalen zwängte sich auf der anderen Seite neben mich. Ich
wollte mich gerade ihm zuwenden und eine Unterhaltung mit ihm
beginnen, neugierig darauf, zu erfahren, woher er kam und seit wann
er tot war. Doch dann kam dieser alte Kerl in den Raum geschwebt.
Sein langes goldfarbenes Haar glitzerte (ja, es funkelte tatsächlich – ich denke mir das nicht
aus), und er trug eine schimmernde Robe, die so lang war, dass sie
über seine Füße fiel und wie ein Brautschleier hinter ihm her über
den Boden schleifte. Alle standen sofort auf.
Alle außer
mir.
Wisst ihr, ich stand
deshalb nicht auf, weil ich … na ja, er brachte mich ein wenig aus
der Fassung, als ich ihn so vor uns stehen sah.
Ganz zu schweigen
davon, dass mir die Spucke wegblieb.
Ich meine, obwohl
ich schätzte, dass ich seit ungefähr einer Woche im Hier war (ich
versuchte, den Überblick nicht zu verlieren, indem ich zählte, wie
oft ich schlafen ging, und jedes Mal als einen Tag wertete), hatte
ich bisher den großen Meister, der in dieser Gegend auch als »Der
Eine« bekannt war, bisher noch nicht zu Gesicht
bekommen.
Und anscheinend
hatte ich das immer noch nicht begriffen, denn die Cheerleaderin
neben mir packte mich an meinem Blazer und zupfte unaufhörlich an
meinem Ärmel, bis wir Seite an Seite dastanden. In Gedanken zischte
sie mich an: Was machst du denn, Mädchen?
Stell dich gerade hin, damit Perseus dich mitzählen
kann!
»Perseus?« Ich
starrte sie an, ohne zu begreifen, dass ich laut gesprochen hatte,
bis der doofe Typ mit den fettigen Haaren und der Langweilerbrille,
der direkt vor mir stand, sich umdrehte und dachte: Pssst!
Ich presste meine
Lippen zusammen und richtete meinen Blick starr nach vorne, während
mich das Gefühl beschlich, dass dieser Perseus-Typ mich ansah.
Nachdem ich es gewagt hatte, mich kurz umzuschauen, stellte ich
fest, dass ich mich nicht geirrt hatte. Aber er sah nicht nur mich
an, sondern eigentlich alle. Irgendwie schien er eine Art geistigen
Anwesenheitsappell durchzuführen, was wahrscheinlich erklärte,
warum alle sich von ihrer besten Seite zeigten.
Bis dahin hatte ich
noch nie eine so große Gruppe von Schülern gesehen, die sich derart
tadellos verhalten hatten. Vor allem nicht bei einer Versammlung
wie dieser. Und ich konnte nur hoffen, dass das nicht immer so
ablaufen würde. Dass wir uns nicht alle plötzlich in Engel und
Heilige verwandelten, nur weil wir jetzt im Hier waren. Dass sich
in dieser Menge zumindest ein möglicher Verbündeter befand, der ein
wenig Herumblödeln ebenso sehr zu schätzen wusste wie
ich.
Denn wenn das nicht
so war, würde ich vor Langeweile sterben.
Ich war so in meine
Gedanken versunken, dass ich es nicht einmal bemerkte, als die
Musik einsetzte. Die Cheerleaderin stupste mich am Arm an und
deutete auf Perseus, der jetzt auf dem Podium stand. Eine
Elektrogitarre baumelte vor seiner Brust, und er forderte uns auf,
alle im Chor den Song You Can’t Always Get
What You Want von den Rolling Stones zu singen. Er
wiederholte den Refrain öfter, als ich ihn im Gedächtnis hatte, und
spielte sogar noch einige längere Gitarrenriffs dazu, die ich mit
Sicherheit noch nie auf den alten CDs meines Dads gehört hatte.
Endlich war er uns gnädig und beendete den Song. Dann nahm er
erfreut den tosenden Applaus entgegen und streifte umgehend seine
Glitzerrobe ab. Darunter kam nur ein weiterer Hippie alter Schule
zum Vorschein, mit verwaschenen Jeans, einem alten T-Shirt von
einem Rolling-Stones-Konzert und nackten Füßen.
Du hättest letztes Mal dabei sein sollen, als er mit
uns Get Off of My Cloud gesungen
hat, teilte mir die Cheerleaderin in Gedanken mit und
drückte meine Schulter nach unten, um mir zu zeigen, dass wir uns
jetzt wieder setzen sollten. Dann beugte sie sich zu mir vor und
flüsterte: »Es dauerte ewig. Ich schwöre dir, er wartet nur auf den
Augenblick, in dem Mick und Keith auftauchen werden – danach werden
wir ihn nie wiedersehen.« Als sie sich dann zurücklehnte, lächelte
sie so strahlend, dass ihr ganzer Körper plötzlich von einer
herrlichen leuchtend grünen Aura umgeben war.
»Wie machst du
das?«, fragte ich sie und ignorierte alle telepathischen
Botschaften, die Perseus im Augenblick senden mochte. Stattdessen
betrachtete ich ihre langen geflochtenen Zöpfe mit den hübschen
bunten Perlen, die an den Enden baumelten, ihre großen braunen
Augen, ihre vollen rosafarbenen Lippen und ihre dunkle Haut. Als
ich ihren fragenden Blick bemerkte und sah, wie sie ihren Kopf zur
Seite neigte, erklärte ich ihr in Gedanken, was ich meinte:
Du weißt schon, dieses Glühen. Wie machst du
das?
Sie kniff die Augen
zusammen und musterte mich langsam und gründlich. Sie begann mit
meinen Schuhen und ließ ihren Blick nach oben bis zu meinem Pony
wandern, den ich zur Seite gekämmt hatte, so wie ich es vor Kurzem
zum ersten Mal ausprobiert hatte. Gerade als sie bereit zu sein
schien, mir eine Antwort zu geben, stupste mich der Junge zu meiner
Linken an und sagte: »Entschuldige, darf ich mal?«
Ich zog meine Füße
zurück und sah zu, wie er sich an meinen Knien vorbeischob, die
Treppe hinunterging, die Bühne betrat und sich neben Perseus
stellte. Er strahlte so freudig in die Menge, als hätte er soeben
etwas unglaublich Wichtiges und Großartiges geleistet. Ich konnte
mir allerdings beim besten Willen nicht vorstellen, worum es sich
dabei handeln könnte.
Der langweilige Typ
vor mir ging ebenfalls nach unten, und ich war total überrascht,
als er mit Jubelrufen, Applaus und sogar einigen anerkennenden
Pfiffen begrüßt wurde. Nur ein oder zwei Buhrufe waren zu hören.
Kurz darauf wandte sich die Cheerleaderin mir zu, legte ihre Hand
auf mein Knie und sagte mit deutlichem britischen Akzent: »Du bist
neu hier, richtig?«
Ich nickte, obwohl
sie mir kaum Zeit dazu ließ und schon nach einer Sekunde
weitersprach.
»Das erkenne ich
immer sofort. Aber mach dir keine Sorgen. Alle deine Fragen werden
letztendlich beantwortet werden. Jede Einzelne davon. Doch erst
irgendwann.« Sie musterte mich wieder und fügte hinzu: »Und nicht,
bevor du dazu bereit bist.« Und bevor ich etwas darauf sagen
konnte, war sie verschwunden.
Der leuchtende
Schein, der sie umgab, wehte hinter ihr her, als sie die Stufen
hinunterging und die Bühne betrat. Sie winkte uns allen zu, die
noch auf der Tribüne saßen. Unsere Blicke trafen sich, und sie sah
mich einen Moment lang an, während sie dachte: Bleib ganz ruhig. Die richtige Person wird dich finden und
dir den Weg zeigen. Dann wandte sie sich dem doofen Typ zu
und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Ich schaute mich um
und fragte mich, wo genau diese richtige Person sein könnte. Befand
sie sich auf der Bühne? Auf der Tribüne? Oder vielleicht an einem
ganz anderen Ort? Und woher hatten die Leute, die jetzt auf der
Bühne standen, gewusst, wann sie an der Reihe waren, die Treppen
hinunterzusteigen? Ich meine, es war ja nicht so, dass ein Aufruf
in Gedanken erfolgt war, oder dass jemand laut eine lange
Namensliste verlesen hatte. Irgendwie schien es, als wüssten alle
genau, wohin sie gehen mussten, wann es so weit war, und was sie
tun sollten, wenn sie dort angekommen waren.
Jeder schien genau
zu wissen, was hier vor sich ging – und was das alles
bedeutete.
Jeder hatte ein
Ziel.
Jeder, außer
mir.
Für mich war das
alles verwirrend und chaotisch, eine unzusammenhängende Abfolge von
Ereignissen.
Aber nachdem ich
mich noch etwas umgesehen hatte, erkannte ich, dass möglicherweise
doch nicht alles so zufällig ablief, wie es zuerst den Anschein
gehabt hatte, denn die Personen auf der Bühne hatten alle etwas
gemeinsam.
Eine wichtige,
bedeutende Sache, die dem Rest von uns fehlte.
Sie glühten
alle.
Ihre Körper waren
von einem wunderschönen, schimmernden tiefgrünen Glanz
umgeben.
Während der Rest von
uns ein Spektrum von unterschiedlichen, gespenstisch blassen
Schattierungen darstellte.
Ich streckte meine
Hände aus und betrachtete sie gründlich, nur um sicherzugehen, dass
ich nichts übersah. Aber, obwohl ich feststellte, dass eine
Maniküre dringend fällig war, sah eigentlich alles so aus wie
immer. Schlanke Finger, schmale Knöchel, ein oder zwei
Sommersprossen, nur kein Glühen in Sicht. Nicht einmal
andeutungsweise.
Nachdem die Bühne
sich gefüllt hatte, standen alle um mich herum auf und
applaudierten. Und da ich nicht zeigen wollte, dass ich komplett
ahnungslos war, stand ich ebenfalls auf. Nachdem ich auch noch
verstohlen meinen Blazer zurechtgezupft und meinen Rock geglättet
hatte, dauerte es nicht mehr lange, bis alles vorbei war und ich
mich wieder mit der Menschenmenge vorwärtsschob. Jedem, der so
aussah, als wäre er nett genug, meine Frage zu beantworten, rief
ich zu: »Wo gehen wir jetzt hin?«
Ich hoffte, dass
irgendjemand einem Neuling in Not helfen würde – ein kleiner Schubs
in die richtige Richtung oder zumindest in die allgemeine Richtung
hätte mir schon genügt -, denn allmählich fühlte ich mich noch
hilfloser als zu dem Zeitpunkt, als ich hier angekommen war. Und
bisher glich nichts von dem, was ich gesehen hatte, in irgendeiner
Weise einer Schule oder ergab irgendeinen Sinn.
»Wir gehen zu dem
Ort, der uns zugeteilt wurde, und du
gehst zu dem Ort, der dir zugeteilt
wurde«, antwortete der Junge vor mir, warf mir über die Schulter
einen kurzen Blick zu und fügte in einem wenig freundlichen Ton
hinzu: »Wohin denn sonst?« Meine Wangen röteten sich, und ich
presste meine Lippen fest aufeinander.
Ich atmete tief ein
(und, nein, ich muss nicht mehr atmen, aber manche Angewohnheiten
lassen sich nur schwer ablegen) und gab mir Mühe, für mich zu
bleiben und einfach mit der Masse mitzulaufen. Etliche Fragen
schossen mir durch den Kopf. Wo zum Teufel gingen wir hin, warum
verhielten sich hier alle so still und gehorsam? Nicht zu vergessen
– wo genau waren diese angeblichen Freunde, die ich hier finden
würde, wie meine Eltern mir versprochen hatten? Diejenigen, mit den
gleichen Interessen, die so wie ich gern mal herumalberten und Spaß
hatten?
Je mehr ich mich
umschaute, umso mehr war ich davon überzeugt, dass dies die
merkwürdigste Schule war, die ich jemals gesehen
hatte.
Und was die Schüler
betraf, galt das ebenso – sie waren auch seltsam.
Und es führte kein
Weg daran vorbei – diese ganze Sache machte mir tierisch
Angst.
Ich hoffte
verzweifelt, jemanden zu finden, mit dem ich reden konnte,
jemanden, der mir sagen würde, wohin wir alle gingen – und was mich
erwartete, wenn wir dort angekommen waren.
Aber –
nichts.
Die meisten sahen
mich nicht einmal an, und die wenigen, die es taten, lächelten nur
höflich und schauten dann schnell wieder weg. Und das erzeugte in
mir ein so starkes Gefühl der Einsamkeit und des Heimwehs, dass ich
glaubte, ein Schraubstock würde sich in meinen Bauch und tief in
meine Eingeweide bohren.
Trotzdem ging ich
weiter, setzte einen Fuß vor den anderen, ignorierte meine
schlimmsten Ängste, versuchte, hoffnungsvoll und fröhlich zu
bleiben (oder zumindest so auszusehen) und einfach abzuwarten,
wohin der Weg uns führte. Aber tief in meinem Inneren war ich
nervös und völlig verängstigt und wünschte mir verzweifelt, zu
Hause zu sein, in meinen Schlafanzug zu schlüpfen und mich mit
Buttercup neben mir auf meinem Bett zusammenzurollen.
Der Tag, vor dem ich
mich gefürchtet hatte, der Tag, von dem meine Eltern mir
versprochen hatten, dass er mir eine neue, aufregende Welt eröffnen
würde, in der es alles geben würde, was mir gefiel – Unterricht in
Kunst, Literatur und Fremdsprachen, vielleicht sogar in Gesang und
Schauspiel, Tanz, Modedesign und darüber hinaus noch Reitstunden -,
der Tag, der mich mein altes Leben vergessen lassen und mich dazu
bewegen sollte, mich voll Freude in mein neues Leben zu stürzen,
nun, dieser Tag entpuppte sich genauso, wie ich befürchtet
hatte.
Er war grauenhaft.
Überhaupt nicht so,
wie sie ihn mir vorhergesagt hatten.
Und es war glasklar,
dass sie von solchen Sachen keinen blassen Schimmer hatten. Nichts
von dem, was sie mir versprochen hatten, stand auf der Tagesordnung
– zumindest nicht auf meiner.
Soweit ich das
bisher gesehen hatte, gab es in dieser Schule eine Menge bizarrer
Rituale und skurrile, leuchtende Leute, die merkwürdige Dinge
sagten, die ich nicht einmal ansatzweise verstand. Und jegliche
erzwungene Vorfreude, mit der ich den Tag begonnen hatte, war rasch
im Keim erstickt und von meiner Überzeugung, dass ich nicht
hierhergehörte, komplett ausgelöscht worden.
Ich würde nie
hierhergehören.
Und mit großer
Sicherheit war ich einfach nicht für das Hier
geschaffen.
Es musste einen
anderen Ort geben, der sich besser für mich eignete.
Ich war nicht nur
davon überzeugt, sondern auch fest entschlossen, alles zu tun, um
diesen Ort zu finden.