NEUN
Ich stand draußen, Buttercup neben mir, und wir beide
warteten in höchster Alarmbereitschaft auf irgendein
Zeichen.
Wir hatten beide
überhaupt keine Ahnung, wohin wir gehen mussten, welchen Weg wir
einschlagen oder was wir als Nächstes tun sollten.
Es mag merkwürdig
erscheinen, wenn ein Mensch hofft, dass sein Hund ihn führt, aber
immerhin war es Buttercup gewesen, der meine Familie zur Brücke
gelotst hatte. Er war auch als Erster hinübergesprungen. Daran
dachte ich und vermutete, dass er irgendeine einzigartige hündische
Fähigkeit besaß, irgendeinen Instinkt, der gelbe Labradors
auszeichnete. Eine Art Hunderadar für diese Dinge.
Aber nein, er saß
nur da mit seinen großen braunen Augen und seiner rosa Schnauze und
blinzelte mich an, als ich meinen Blick schweifen ließ. Ein kleiner
Hinweis, irgendeine Orientierungshilfe wäre jetzt schön gewesen,
wie ich fand.
Aber
nichts.
Der große Rat war
verschwunden, hatte sich einfach in Luft aufgelöst.
Wer wusste schon,
wohin sie gegangen waren?
Mir war nur klar,
dass Buttercup und ich keinen blassen Schimmer hatten, wie wir vom
Hier auf die andere Seite kommen sollten.
Sollte ich es mir
einfach nur wünschen, es mir
ersehnen, so wie alles andere an diesem
Ort? Oder gab es irgendein planmäßiges Transportmittel wie einen
Bus oder einen Zug? Oder sogar irgendwelche Flügel, die wir mieten
konnten?
Ganz sicher wusste
ich allerdings, dass die Brücke, die ich auf dem Weg in das Hier
überquert hatte, lediglich in eine Richtung führte. Das wusste ich,
weil ich zufällig einen Blick zurückgeworfen hatte, genau in dem
Moment, in dem ich es auf die andere Seite geschafft
hatte.
Ich war nicht
wirklich zu der Überquerung gezwungen worden, so wie ich immer
behauptete.
Nur war es dann
bereits zu spät gewesen.
Sie war komplett
verschwunden.
Und nie wieder
aufgetaucht.
Da uns also keine
Zeichen auf den richtigen Weg führten, ging ich auf das
nächstliegende Gebäude zu und bedeutete Buttercup, mir zu folgen.
Ich war der Meinung, wir sollten versuchen, jemanden zu finden, der
uns vielleicht weiterhelfen konnte.
Auf halbem Weg hörte
ich plötzlich jemanden sagen: »Na, wie ist es gelaufen? Hast du
geheult? Versucht, dich einzuschleimen? Versprochen, dass du alles
besser machen würdest, wenn sie dir noch eine Chance
gäben?«
Ich kniff die Augen
zusammen und presste die Lippen aufeinander, als ich den Losertyp
von hinten auf mich zukommen sah. Er hielt den Kopf gesenkt, so
dass ihm ein fettiges Haarbüschel ins Gesicht fiel, und blieb
stehen, um sich seine Brille mit dem unteren Teil seiner Krawatte
zu putzen. Und, ich gebe es ungern zu, in diesem Bruchteil einer
Sekunde sah er tatsächlich ganz anders aus, beinahe wie jemand, den
wir als süßen Typ bezeichnen würden.
Aber wie schon
gesagt, hielt das nicht lange an. Im Handumdrehen war es vorüber,
und einen Moment später hatte er die Brille wieder aufgesetzt, sich
das fettige Haar zurückgestrichen und war wieder der
Langweiler.
»Warum trägst du
dieses Ding überhaupt?« Ich deutete auf sein dickes, hässliches
Brillengestell und ignorierte ganz bewusst seine Frage. Ich hatte
nicht vor, ihm irgendetwas von dem Rückblick auf mein Leben zu
verraten – und übrigens auch nichts anderes über mich. Tatsächlich
konnte ich es kaum erwarten, auf die Erdebene zurückzukommen, wo
ich ihn nie wieder sehen würde. Darauf freute ich mich wirklich.
»Kannst du dir nicht einfach besseres Sehvermögen wünschen? Oder
vielleicht solltest du versuchen, dir eine coolere Brille zu
manifestieren.« Ich starrte ihn an und wartete auf eine Antwort,
aber er sagte nichts, also fuhr ich fort: »Im Ernst, es gibt viel
coolere Gestelle, die du tragen könntest. Die Mode ist in den
letzten Jahrzehnten sehr weit fortgeschritten – du würdest dich
wundern!« Ich nickte und redete mir selbst ein, dass ich ihm damit
eher Hilfe anbot, als ihn zu verurteilen. Eigentlich stellte ich ja
nur die Tatsachen fest, so wie ich sie klar vor mir sah. »Ich
meine, es ist offensichtlich, dass du nicht mehr auf der Erdebene
warst, seit …« Ich runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen.
Er sah so altmodisch aus, dass ich nicht einmal raten konnte, wann
er zum letzten Mal unter den Lebenden gesehen worden
war.
»Was ist eigentlich
mit dir passiert?«, fragte ich. »Wie bist du hierhergekommen? Hast
du dich mit einem gespitzten Bleistift Nummer 2 angelegt? Oder dich
versehentlich selbst mit deiner Krawatte erwürgt? Oder vielleicht
bist du tatsächlich daran gestorben, dass es dir peinlich war,
solche Klamotten zu tragen?« Ich schüttelte den Kopf und kicherte.
Ich konnte nichts dagegen tun – manchmal breche ich einfach in
Gelächter aus. Und obwohl er nicht einstimmte, konnte ich es mir
nicht verkneifen, noch hinzuzufügen: »Du weißt schon, dass du dir
eine komplette neue Garderobe manifestieren kannst, oder? Wir
müssen im Hier nicht unsere Fehler aus der Vergangenheit
beibehalten. Also leg los. Schließ einfach deine Augen und frag
nach, was Joe Jonas jetzt trägt.«
Der letzte Satz
brachte mich so in Fahrt, dass ich mich beinahe nach vorne gebeugt
und mir auf die Schenkel geklatscht hätte, aber mein Gelächter
wurde abrupt unterbrochen, als ich ihn sagen hörte: »Wenn du es
wirklich wissen willst – es war Krebs. Das böse große K hat mich
zur Strecke gebracht. Ein Osteosarkom oder Knochenkrebs, wie die
meisten Leute sagen. Sie haben mir sogar ein Bein abgenommen, um
mich zu retten, aber es war bereits zu spät. Der Krebs hatte schon
im ganzen Körper gestreut.«
Ich schluckte und
sah ihm in die Augen. Ich wusste, dass ich irgendetwas sagen
sollte, aber aus meinem Mund kam kein einziges Wort. Ich sagte mir,
dass er nur einer unter vielen war. Dass es an diesem Ort sehr
viele solcher trauriger Geschichten wie seine gab. Jedes tragische
Ende landete im Hier. Aber das half mir überhaupt nicht dabei, mich
besser zu fühlen. Ich hatte kein Recht dazu gehabt, mich auf diese
Weise über ihn lustig zu machen.
»Ich war bereits auf
einem guten Weg, Profi zu werden.« Er zuckte die Schultern. »Es
passierte 1999 – ich habe das Millennium verpasst. Das Timing hätte
nicht ungünstiger sein können.« Er sah mich an und schüttelte den
Kopf. Sein Blick wirkte sachlich und trug nicht die geringste Spur
von Groll oder Bedauern. »Aber so läuft es eben manchmal,
richtig?«
Ich nickte schwach.
Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Und obwohl es
mich interessierte, was genau er mit Profi gemeint hatte, war es
mir viel zu peinlich, ihn danach zu fragen.
Ich stand einfach
nur da und sah zu, wie er sich umdrehte und auf Buttercup starrte,
der geduldig neben mir saß. »Ist das dein Ernst? Du willst den Hund
mitnehmen?«
Ich verdrehte die
Augen. Im Bruchteil einer Sekunde verwandelte sich mein Schamgefühl
in Zorn. Ich schaute mich um und fragte mich, wo die Pausenaufsicht
war. An meiner alten Schule kam man nie mit einer solchen Schikane
durch, mit dieser Art von verstecktem Mobbing – und auch nicht mit
Schuleschwänzen. Aber im Hier schien alles möglich zu sein. So als
würde alles auf Vertrauensbasis laufen.
Ich gab Buttercup
ein Zeichen, mir zu folgen, drehte mich um und rief: »Zu deiner
Information – der Hund hat einen Namen. Er heißt Buttercup.« Dann
warf ich ihm über die Schulter einen feindseligen Blick zu. »Und
der Rest geht dich überhaupt nichts an, oder?«
Ich beschleunigte
meinen Schritt, um so schnell wie möglich von ihm wegzukommen, aber
das half mir nichts. Gleichgültig, wie schnell ich auch ging – er
befand sich immer direkt neben mir und sah mich an. »Nun, ich kann
mir schon vorstellen, was du dir jetzt denkst, aber du täuschst
dich«, meinte er. »Es geht mich sehr wohl etwas an. Alle, die diese
Reise möglicherweise machen werden, müssen an mir vorbei. Ich
entscheide, wer noch einmal hinein darf und wer nicht. Du kannst
mich als eine Art Türsteher für diesen speziellen Ausflug
betrachten.«
»So wie du angezogen
bist, bist du für mich einfach nur ein Loser – es ist unmöglich,
dich als etwas anderes zu sehen«, murmelte ich. Ich verdrehte die
Augen und warf Buttercup einen Blick zu. Es regte mich total auf,
dass er dazu neigte, Fremden gegenüber übertrieben freundlich zu
sein – vor allem diesem Fremden gegenüber. Er ging sogar so weit,
diesen Loser abzuschnüffeln und ihm die Hand zu lecken – er führte
sich auf wie ein übler Verräter.
»Und noch etwas, was
dieses Loser-Gerede betrifft. Das hört sofort auf. Ich habe einen Namen, und ich möchte,
dass du mich damit ansprichst«, erklärte er, als er wieder direkt
vor mir auftauchte.
Ich blieb stehen. Es
hatte keinen Sinn, ein Rennen zu laufen, das ich nicht gewinnen
konnte. Ich legte meine Hände auf meine Hüften. »Ach ja? Dann lass
mal hören. Wie soll ich dich denn stattdessen nennen?«
»Bodhi.« Er nickte.
Der Klang schien ihm zu gefallen.
»Bodhi«, wiederholte
ich. Ich fand, das war kein schlechter Name. Allerdings passte er
nicht zu ihm. Tatsächlich war alles daran falsch. Bei Bodhi dachte
ich an die süßen, sonnengebräunten Surfer, die so aussahen wie die
Jungs in der Gegend von Laguna Beach, da wo Ever wohnte. Und diese
Jungs waren genau das Gegenteil von Mr. Außenseiter mit seinem
schlechten Haarschnitt, der noch schlimmeren Brille und den
Langweilerklamotten, der vor mir stand.
»Im Ernst«, fuhr er
fort. Er sah mich einen Augenblick lang mit zusammengekniffenen
Augen an, bevor er sich nervös umschaute. »Du musst damit aufhören.
Ich habe jedes Wort gehört, und nicht nur ich, sondern auch …« Er
hielt inne und biss die Zähne zusammen, um nicht weiterzusprechen.
Er sah mir in die Augen. »Hör zu, du musst nur wissen, dass ich
dein Führer bin«, fuhr er schließlich fort. »Ich bin derjenige,
nach dem du gesucht hast. Betrachte mich als deinen Lehrer,
Vertrauenslehrer, Trainer und Boss – und das alles in einer Person.
Das bedeutet, dass du nicht länger so mit mir reden kannst und mich
so nennen darfst. Eine solche Aufsässigkeit wird Konsequenzen nach
sich ziehen. Ernsthafte Konsequenzen. Also hör damit auf, okay?
Mein Name ist Bodhi, und ich erwarte von dir, dass du mich mit
meinem Namen ansprichst. Du musst mich …« Er zögerte, sah sich
beinahe paranoid um und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Du
musst mich respektieren,
okay?«
Ich blinzelte. Der
laut und deutlich für mich hörbare flehende Unterton mit dem
zusätzlichen Anklang von Paranoia alarmierte mich.
Also das ist mein Führer, dachte ich, atmete tief
ein und fragte mich, welche Strafen ich jetzt zu befürchten hatte.
Ich meine, er hatte keine Flügel, keine schimmernde Robe, keinen
Heiligenschein, nichts, was darauf hindeutete, dass er mein Boss
war, und trotzdem schien es so zu sein. Er war mein Boss. Und
obwohl ich gern etwas anderes geglaubt hätte, spürte ich irgendwie,
dass das stimmte. Ich wusste, dass er mir nichts vormachte, was das
anbelangte.
»Dann bist du also
so etwas wie mein Schutzengel? Echt jetzt?«
Er zuckte die
Schultern. Einzelheiten schienen ihn nicht zu interessieren. Und
irgendetwas an ihm, an der nachlässigen Art, wie er dastand – er
ließ nicht die Schultern hängen wie jemand, der ein niedriges
Selbstwertgefühl hatte, sondern eher wie ein cooler Typ mit einem
coolen Namen -, passte nicht zu seinem allgemeinen
Aussehen.
Irgendetwas an ihm
war merkwürdig.
Abgedreht.
Es war irgendetwas,
was ich nicht genau ausmachen konnte.
»Hör zu.«
Offensichtlich wollte er schnell weitergehen. »Es ist meine
Aufgabe, dir alles beizubringen, was du brauchst, um auf die
nächste Ebene zu gelangen. Und glaub mir, du musst noch
einiges lernen, bevor du überhaupt
einen Gedanken daran verschwenden kannst. Aber eins nach dem
anderen. Wir müssen jetzt weiter. Bist du bereit, auf die Erdebene
zurückzukehren?« Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen und sah
sich um. Anscheinend war er ebenso scharf darauf wie ich, endlich
einen Abflug aus dem Hier zu machen.
»Die nächste Ebene?« Ich musterte ihn gründlich, während
ich neben ihm herlief. »Was soll das heißen?«
Aber er war mir
schon zehn Schritte voraus. Er warf einen Blick über seine
Schulter. »Alles zu seiner Zeit, Riley. Alles zu seiner
Zeit.«