010
 
NEUN
 
Ich stand draußen, Buttercup neben mir, und wir beide warteten in höchster Alarmbereitschaft auf irgendein Zeichen.
Wir hatten beide überhaupt keine Ahnung, wohin wir gehen mussten, welchen Weg wir einschlagen oder was wir als Nächstes tun sollten.
Es mag merkwürdig erscheinen, wenn ein Mensch hofft, dass sein Hund ihn führt, aber immerhin war es Buttercup gewesen, der meine Familie zur Brücke gelotst hatte. Er war auch als Erster hinübergesprungen. Daran dachte ich und vermutete, dass er irgendeine einzigartige hündische Fähigkeit besaß, irgendeinen Instinkt, der gelbe Labradors auszeichnete. Eine Art Hunderadar für diese Dinge.
Aber nein, er saß nur da mit seinen großen braunen Augen und seiner rosa Schnauze und blinzelte mich an, als ich meinen Blick schweifen ließ. Ein kleiner Hinweis, irgendeine Orientierungshilfe wäre jetzt schön gewesen, wie ich fand.
Aber nichts.
Der große Rat war verschwunden, hatte sich einfach in Luft aufgelöst.
Wer wusste schon, wohin sie gegangen waren?
Mir war nur klar, dass Buttercup und ich keinen blassen Schimmer hatten, wie wir vom Hier auf die andere Seite kommen sollten.
Sollte ich es mir einfach nur wünschen, es mir ersehnen, so wie alles andere an diesem Ort? Oder gab es irgendein planmäßiges Transportmittel wie einen Bus oder einen Zug? Oder sogar irgendwelche Flügel, die wir mieten konnten?
Ganz sicher wusste ich allerdings, dass die Brücke, die ich auf dem Weg in das Hier überquert hatte, lediglich in eine Richtung führte. Das wusste ich, weil ich zufällig einen Blick zurückgeworfen hatte, genau in dem Moment, in dem ich es auf die andere Seite geschafft hatte.
Ich war nicht wirklich zu der Überquerung gezwungen worden, so wie ich immer behauptete.
Nur war es dann bereits zu spät gewesen.
Sie war komplett verschwunden.
Und nie wieder aufgetaucht.
Da uns also keine Zeichen auf den richtigen Weg führten, ging ich auf das nächstliegende Gebäude zu und bedeutete Buttercup, mir zu folgen. Ich war der Meinung, wir sollten versuchen, jemanden zu finden, der uns vielleicht weiterhelfen konnte.
Auf halbem Weg hörte ich plötzlich jemanden sagen: »Na, wie ist es gelaufen? Hast du geheult? Versucht, dich einzuschleimen? Versprochen, dass du alles besser machen würdest, wenn sie dir noch eine Chance gäben?«
Ich kniff die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander, als ich den Losertyp von hinten auf mich zukommen sah. Er hielt den Kopf gesenkt, so dass ihm ein fettiges Haarbüschel ins Gesicht fiel, und blieb stehen, um sich seine Brille mit dem unteren Teil seiner Krawatte zu putzen. Und, ich gebe es ungern zu, in diesem Bruchteil einer Sekunde sah er tatsächlich ganz anders aus, beinahe wie jemand, den wir als süßen Typ bezeichnen würden.
Aber wie schon gesagt, hielt das nicht lange an. Im Handumdrehen war es vorüber, und einen Moment später hatte er die Brille wieder aufgesetzt, sich das fettige Haar zurückgestrichen und war wieder der Langweiler.
»Warum trägst du dieses Ding überhaupt?« Ich deutete auf sein dickes, hässliches Brillengestell und ignorierte ganz bewusst seine Frage. Ich hatte nicht vor, ihm irgendetwas von dem Rückblick auf mein Leben zu verraten – und übrigens auch nichts anderes über mich. Tatsächlich konnte ich es kaum erwarten, auf die Erdebene zurückzukommen, wo ich ihn nie wieder sehen würde. Darauf freute ich mich wirklich. »Kannst du dir nicht einfach besseres Sehvermögen wünschen? Oder vielleicht solltest du versuchen, dir eine coolere Brille zu manifestieren.« Ich starrte ihn an und wartete auf eine Antwort, aber er sagte nichts, also fuhr ich fort: »Im Ernst, es gibt viel coolere Gestelle, die du tragen könntest. Die Mode ist in den letzten Jahrzehnten sehr weit fortgeschritten – du würdest dich wundern!« Ich nickte und redete mir selbst ein, dass ich ihm damit eher Hilfe anbot, als ihn zu verurteilen. Eigentlich stellte ich ja nur die Tatsachen fest, so wie ich sie klar vor mir sah. »Ich meine, es ist offensichtlich, dass du nicht mehr auf der Erdebene warst, seit …« Ich runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen. Er sah so altmodisch aus, dass ich nicht einmal raten konnte, wann er zum letzten Mal unter den Lebenden gesehen worden war.
»Was ist eigentlich mit dir passiert?«, fragte ich. »Wie bist du hierhergekommen? Hast du dich mit einem gespitzten Bleistift Nummer 2 angelegt? Oder dich versehentlich selbst mit deiner Krawatte erwürgt? Oder vielleicht bist du tatsächlich daran gestorben, dass es dir peinlich war, solche Klamotten zu tragen?« Ich schüttelte den Kopf und kicherte. Ich konnte nichts dagegen tun – manchmal breche ich einfach in Gelächter aus. Und obwohl er nicht einstimmte, konnte ich es mir nicht verkneifen, noch hinzuzufügen: »Du weißt schon, dass du dir eine komplette neue Garderobe manifestieren kannst, oder? Wir müssen im Hier nicht unsere Fehler aus der Vergangenheit beibehalten. Also leg los. Schließ einfach deine Augen und frag nach, was Joe Jonas jetzt trägt.«
Der letzte Satz brachte mich so in Fahrt, dass ich mich beinahe nach vorne gebeugt und mir auf die Schenkel geklatscht hätte, aber mein Gelächter wurde abrupt unterbrochen, als ich ihn sagen hörte: »Wenn du es wirklich wissen willst – es war Krebs. Das böse große K hat mich zur Strecke gebracht. Ein Osteosarkom oder Knochenkrebs, wie die meisten Leute sagen. Sie haben mir sogar ein Bein abgenommen, um mich zu retten, aber es war bereits zu spät. Der Krebs hatte schon im ganzen Körper gestreut.«
Ich schluckte und sah ihm in die Augen. Ich wusste, dass ich irgendetwas sagen sollte, aber aus meinem Mund kam kein einziges Wort. Ich sagte mir, dass er nur einer unter vielen war. Dass es an diesem Ort sehr viele solcher trauriger Geschichten wie seine gab. Jedes tragische Ende landete im Hier. Aber das half mir überhaupt nicht dabei, mich besser zu fühlen. Ich hatte kein Recht dazu gehabt, mich auf diese Weise über ihn lustig zu machen.
»Ich war bereits auf einem guten Weg, Profi zu werden.« Er zuckte die Schultern. »Es passierte 1999 – ich habe das Millennium verpasst. Das Timing hätte nicht ungünstiger sein können.« Er sah mich an und schüttelte den Kopf. Sein Blick wirkte sachlich und trug nicht die geringste Spur von Groll oder Bedauern. »Aber so läuft es eben manchmal, richtig?«
Ich nickte schwach. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Und obwohl es mich interessierte, was genau er mit Profi gemeint hatte, war es mir viel zu peinlich, ihn danach zu fragen.
Ich stand einfach nur da und sah zu, wie er sich umdrehte und auf Buttercup starrte, der geduldig neben mir saß. »Ist das dein Ernst? Du willst den Hund mitnehmen?«
Ich verdrehte die Augen. Im Bruchteil einer Sekunde verwandelte sich mein Schamgefühl in Zorn. Ich schaute mich um und fragte mich, wo die Pausenaufsicht war. An meiner alten Schule kam man nie mit einer solchen Schikane durch, mit dieser Art von verstecktem Mobbing – und auch nicht mit Schuleschwänzen. Aber im Hier schien alles möglich zu sein. So als würde alles auf Vertrauensbasis laufen.
Ich gab Buttercup ein Zeichen, mir zu folgen, drehte mich um und rief: »Zu deiner Information – der Hund hat einen Namen. Er heißt Buttercup.« Dann warf ich ihm über die Schulter einen feindseligen Blick zu. »Und der Rest geht dich überhaupt nichts an, oder?«
Ich beschleunigte meinen Schritt, um so schnell wie möglich von ihm wegzukommen, aber das half mir nichts. Gleichgültig, wie schnell ich auch ging – er befand sich immer direkt neben mir und sah mich an. »Nun, ich kann mir schon vorstellen, was du dir jetzt denkst, aber du täuschst dich«, meinte er. »Es geht mich sehr wohl etwas an. Alle, die diese Reise möglicherweise machen werden, müssen an mir vorbei. Ich entscheide, wer noch einmal hinein darf und wer nicht. Du kannst mich als eine Art Türsteher für diesen speziellen Ausflug betrachten.«
»So wie du angezogen bist, bist du für mich einfach nur ein Loser – es ist unmöglich, dich als etwas anderes zu sehen«, murmelte ich. Ich verdrehte die Augen und warf Buttercup einen Blick zu. Es regte mich total auf, dass er dazu neigte, Fremden gegenüber übertrieben freundlich zu sein – vor allem diesem Fremden gegenüber. Er ging sogar so weit, diesen Loser abzuschnüffeln und ihm die Hand zu lecken – er führte sich auf wie ein übler Verräter.
»Und noch etwas, was dieses Loser-Gerede betrifft. Das hört sofort auf. Ich habe einen Namen, und ich möchte, dass du mich damit ansprichst«, erklärte er, als er wieder direkt vor mir auftauchte.
Ich blieb stehen. Es hatte keinen Sinn, ein Rennen zu laufen, das ich nicht gewinnen konnte. Ich legte meine Hände auf meine Hüften. »Ach ja? Dann lass mal hören. Wie soll ich dich denn stattdessen nennen?«
»Bodhi.« Er nickte. Der Klang schien ihm zu gefallen.
»Bodhi«, wiederholte ich. Ich fand, das war kein schlechter Name. Allerdings passte er nicht zu ihm. Tatsächlich war alles daran falsch. Bei Bodhi dachte ich an die süßen, sonnengebräunten Surfer, die so aussahen wie die Jungs in der Gegend von Laguna Beach, da wo Ever wohnte. Und diese Jungs waren genau das Gegenteil von Mr. Außenseiter mit seinem schlechten Haarschnitt, der noch schlimmeren Brille und den Langweilerklamotten, der vor mir stand.
»Im Ernst«, fuhr er fort. Er sah mich einen Augenblick lang mit zusammengekniffenen Augen an, bevor er sich nervös umschaute. »Du musst damit aufhören. Ich habe jedes Wort gehört, und nicht nur ich, sondern auch …« Er hielt inne und biss die Zähne zusammen, um nicht weiterzusprechen. Er sah mir in die Augen. »Hör zu, du musst nur wissen, dass ich dein Führer bin«, fuhr er schließlich fort. »Ich bin derjenige, nach dem du gesucht hast. Betrachte mich als deinen Lehrer, Vertrauenslehrer, Trainer und Boss – und das alles in einer Person. Das bedeutet, dass du nicht länger so mit mir reden kannst und mich so nennen darfst. Eine solche Aufsässigkeit wird Konsequenzen nach sich ziehen. Ernsthafte Konsequenzen. Also hör damit auf, okay? Mein Name ist Bodhi, und ich erwarte von dir, dass du mich mit meinem Namen ansprichst. Du musst mich …« Er zögerte, sah sich beinahe paranoid um und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Du musst mich respektieren, okay?«
Ich blinzelte. Der laut und deutlich für mich hörbare flehende Unterton mit dem zusätzlichen Anklang von Paranoia alarmierte mich.
Also das ist mein Führer, dachte ich, atmete tief ein und fragte mich, welche Strafen ich jetzt zu befürchten hatte. Ich meine, er hatte keine Flügel, keine schimmernde Robe, keinen Heiligenschein, nichts, was darauf hindeutete, dass er mein Boss war, und trotzdem schien es so zu sein. Er war mein Boss. Und obwohl ich gern etwas anderes geglaubt hätte, spürte ich irgendwie, dass das stimmte. Ich wusste, dass er mir nichts vormachte, was das anbelangte.
»Dann bist du also so etwas wie mein Schutzengel? Echt jetzt?«
Er zuckte die Schultern. Einzelheiten schienen ihn nicht zu interessieren. Und irgendetwas an ihm, an der nachlässigen Art, wie er dastand – er ließ nicht die Schultern hängen wie jemand, der ein niedriges Selbstwertgefühl hatte, sondern eher wie ein cooler Typ mit einem coolen Namen -, passte nicht zu seinem allgemeinen Aussehen.
Irgendetwas an ihm war merkwürdig.
Abgedreht.
Es war irgendetwas, was ich nicht genau ausmachen konnte.
»Hör zu.« Offensichtlich wollte er schnell weitergehen. »Es ist meine Aufgabe, dir alles beizubringen, was du brauchst, um auf die nächste Ebene zu gelangen. Und glaub mir, du musst noch einiges lernen, bevor du überhaupt einen Gedanken daran verschwenden kannst. Aber eins nach dem anderen. Wir müssen jetzt weiter. Bist du bereit, auf die Erdebene zurückzukehren?« Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen und sah sich um. Anscheinend war er ebenso scharf darauf wie ich, endlich einen Abflug aus dem Hier zu machen.
»Die nächste Ebene?« Ich musterte ihn gründlich, während ich neben ihm herlief. »Was soll das heißen?«
Aber er war mir schon zehn Schritte voraus. Er warf einen Blick über seine Schulter. »Alles zu seiner Zeit, Riley. Alles zu seiner Zeit.«