NEUNZEHN
Sie drehte sich um.
Wandte sich um und
sah uns geradewegs an.
Oder zumindest sah
es zuerst so aus.
Aber als ich beinahe
entsetzt zurückgewichen wäre, mich abwenden wollte, mir Buttercup
schnappen und schnellstens von hier verschwinden und nie wieder
zurückkehren wollte, bemerkte ich, dass sie uns gar nicht wirklich
sah.
Sie hatte sich zwar
in unsere Richtung gedreht, aber ihre Aufmerksamkeit war nach innen
gerichtet. Sie nahm nichts von ihrer Umgebung wahr, sondern sah nur
die Bilder, die ihr immer wieder durch den Kopf
gingen.
Und als mein Blick
unbeabsichtigt ihren traf, konnte auch ich nur noch diese Bilder
sehen.
Ich sackte zusammen
und fiel wimmernd und schluchzend zu Boden. Ich fühlte mich, als
hätte man mir den Stecker gezogen. So als wäre mein Docht gelöscht
worden oder meine Glühbirne soeben ausgebrannt. All meiner Energie
beraubt, schlang ich instinktiv meine Arme um meinen Körper und
versuchte, mich gegen ihren Schmerz, ihre Angst, ihren Verlust und
ihre unerträgliche Pein zu schützen, doch es war vergeblich. Ich
wollte nur noch aufschreien und in ihren Klagegesang einstimmen.
Ich wollte wehklagen, stöhnen, mich vor Gram verzehren und auf
meine eigene schreckliche Weise fortwährend und unaufhörlich
weinen. Aber meine Kehle war wie zugeschnürt und so heiß, dass ich
nicht schlucken oder gar einen Ton hervorbringen
konnte.
Bodhi versuchte,
mich zu schützen, und riss seine Arme hoch, um mir die Sicht auf
sie zu versperren, aber es war bereits zu spät.
Zu spät, um
wegzuschauen.
Zu spät, um sie
nicht weiter anzustarren, bis ich ganz und gar in ihre Welt
eingetaucht war.
Nur Buttercup war
schlau genug, seine Pfoten über die Augen zu legen, um sie nicht
anschauen zu müssen.
Ich sah sie mir
genauer an. Selbst für einen Geist war sie so unglaublich blass,
dass die dunklen Haarsträhnen, die sich aus ihrem Knoten gelöst
hatten, sich gegen ihr Gesicht abzeichneten wie die Silhouette
einiger Zweige in einem unerwarteten, blendend weißen Schneesturm.
Ihr einfach geschnittenes, hochgeschlossenes Kleid war sicher
einmal schwarz gewesen, doch nachdem der Stoff jahrhundertelang von
einer endlosen salzigen Tränenflut getränkt worden war, war er
verschlissen. Die ständige Trauer und die fließenden Tränen hatten
jedoch in ihrem Gesicht noch mehr Schaden angerichtet als an dem
Stoff. Dort, wo einmal ihre Wangenknochen hervorgetreten waren,
befanden sich nun tiefe Furchen und Kluften, und dort, wo ihre
Nase, ihre Lippen und ihr Kinn sein sollten, taten sich endlose
Täler und Schluchten auf. Auf eine merkwürdige, makabere Art
erinnerte mich das an einen Ausflug mit meiner Familie zum Grand
Canyon, wo mein Vater mir und Ever erklärt hatte, wie das Wasser
durch Steigen und Fallen, durch die unaufhörliche Bewegung, die
Kraft entwickelte, an dem Fels zu arbeiten, sich einen Weg zu
bahnen und Teile des Gesteins vollkommen abzutragen, als würde es
mit einem Meißel abgeschliffen.
Der einzige Teil
ihres Gesichts, der noch einigermaßen erkennbar war, war der
Bereich, wo ihre Augen hätten sein sollen.
Viele Jahre
unaufhörlicher Tränen hatten sie fortgespült, so dass nur noch zwei
dunkle und unergründlich tiefe Tümpel vorhanden waren. Sie waren
mit trübem schwarzen Wasser gefüllt, dass mich hineinzog, bis ich
mich in einem Strudel drehte und immer tiefer und tiefer gespült
wurde – wie Wasser, das durch einen Abfluss rann, oder Regen, der
in eine Rinne floss. Ich fiel und schlug um mich, aber ich konnte
nichts dagegen tun.
Ich schaffte es
nicht, mich wieder nach oben zu ziehen.
Ich konnte mich
nicht aus den Klauen ihres grenzenlosen Schmerzes
befreien.
Ich
ertrank.
Mühsam versuchte
ich, meinen Kopf aus diesem dunklen, schlammigen Teich zu strecken
und dem Strudel schwarzen Wassers zu entkommen, der um mich
herumwirbelte. Ich hustete, blinzelte und gab mein Bestes, um
meinen Kopf nach hinten zu legen und mich einfach treiben zu
lassen. Ich ermahnte mich, ruhig zu bleiben und mich zu entspannen.
Wenn ich in Panik geriet, würde alles nur noch schlimmer werden.
Ich rief mir alles ins Gedächtnis, was ich jemals im
Schwimmunterricht und in den Kursen für Rettungsschwimmer gelernt
hatte. Ich bemühte mich verzweifelt, kein Wasser in meine Lungen
dringen zu lassen, obwohl ich tief in meinem Inneren wusste, dass
sie eigentlich nicht mehr existierten.
Aber es war zu
spät.
Trotz meiner
Anstrengungen, trotzdem ich mit den Beinen strampelte und mich
abmühte, mich mit den Händen irgendwo festzuhalten, konnte ich sie
nicht bezwingen. Ich wurde nach unten gezogen. Und obwohl ich noch
vor wenigen Minuten nicht einmal geatmet hatte, wusste ich, dass
meine Existenz, ganz zu schweigen von meinem Verstand, davon
abhing, dass ich jetzt durchhielt. Ich musste den Atem, der jetzt
durch meinen Mund strömte, anhalten und durfte ihn nicht entweichen
lassen, ganz gleich, was mit mir geschah.
Und gerade als ich
davon überzeugt war, dass ich nicht länger durchhalten würde, kam
aus dem Nichts eine Hand auf mich zu und streckte sich mir von oben
entgegen. Dann hörte ich eine Stimme rufen.
Ich erkannte sofort,
dass es Bodhi war.
Ich streckte ihm
meine Finger entgegen und strampelte kräftig mit den Beinen, in dem
verzweifelten Versuch, mich nach oben zu bugsieren. Ich spürte
undeutlich, wie seine Finger sich um mein Handgelenk legten. Dann
wurde ich mit festem Griff aus dem Wasser gezogen, dorthin, wo es
Sauerstoff, Luft und Raum zum Atmen gab.
Ich keuchte und
spuckte und blinzelte, um das ölige Wasser aus meinen Augen zu
bekommen. Bodhi tauchte verschwommen vor mir auf. Seine Lippen
bewegten sich hektisch. »Du musst aufhören, sie anzuschauen.
Sofort! Dreh dich zur Wand um, dann hat sie keine andere Wahl und
muss dich loslassen. Das ist die einzige Möglichkeit! Tu es, Riley.
Tu es sofort! Bitte!«
Aber ich tat es
nicht.
Ich drehte mich
nicht zur Wand um.
Und wenn mich jemand
gefragt hätte, warum nicht … Nun, in diesem Moment hätte ich keine
Antwort darauf gehabt.
Ich schätze, manche
Dinge geschehen automatisch.
Instinktiv.
Manche Dinge tut man
einfach, obwohl alles in dir förmlich schreit, du sollst es
lassen.
Manche Dinge ergeben
erst später Sinn.
Viel
später.
Und das, wie ich
noch erfahren sollte, war eines dieser Dinge.