ZEHN
Wir mussten mit einer Straßenbahn, dann noch einer
anderen Linie, einem Bus und einer U-Bahn fahren, um nur einen Teil
des Weges zurückzulegen.
Zumindest nannte ich
es U-Bahn.
Bodhi sagte
Untergrundbahn dazu.
Und der Mann, der
unsere Tickets überprüfte, nannte es Tunnel.
Also, wer wusste
schon, was es wirklich war?
Ich wusste nur ganz
sicher, dass ich sehr enttäuscht war, weil ich nicht fliegen
durfte.
Und damit meine ich
keinen Flug in einem Flugzeug. Ich meine das Fliegen, das
normalerweise Vögeln, Schmetterlingen oder Engeln vorbehalten ist
oder vielleicht toten Leuten wie mir.
Die Art von Fliegen,
die man manchmal in seinen Träumen erlebt, wenn man einfach abhebt
und ohne ersichtlichen Grund durch die Wolkendecke
steigt.
Auf dieses Fliegen
hatte ich gehofft.
Und als das nicht
eintraf und ich feststellen musste, dass wir uns immer noch mit den
alten Transportmitteln herumplagen mussten, die ich von zu Hause
kannte, war ich mir nicht einmal sicher, ob mich das wirklich
enttäuschte. Vor allem, da bis zu diesem Zeitpunkt nichts im
Jenseits so war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Also welchen
Unterschied würde es machen, wenn ich fliegen könnte?
»Schon wieder
falsch«, bemerkte Bodhi, der meine Gedanken belauscht hatte. Das
fing übrigens allmählich an, mir total auf die Nerven zu fallen.
Ich meine, es war schon schlimm genug, dass mein ganzes Leben
dokumentiert worden war, aber dass meine Gedanken, die ich bisher
für privat gehalten hatte, von meinem Führer so problemlos gelesen
werden konnten, regte mich wirklich auf.
»Wir können
fliegen.« Er nickte und machte sich nicht die Mühe, sein Haar
zurückzuschieben, als es ihm wieder ins Gesicht fiel. Er ließ die
Strähne einfach hängen – sie baumelte wie eine fettige Nudel vor
seiner Brille. »Und glaub mir, es macht genauso viel Spaß, wie du
denkst. Es ist sogar noch spaßender.«
»Spaßender?« Ich riss die Augen auf und grinste
breit. »Bist du dir da sicher? Es ist tatsächlich spaßender?«
Ich konnte nichts
dagegen tun – ich brach direkt in Gelächter aus. Und ich spreche
von einem Lachen, bei dem man die Augen zusammenkneift und sich den
Bauch hält. Aber er ignorierte mich einfach und redete weiter, als
hätte ich ihn nicht gerade wegen seines Grammatikfehlers
verspottet.
»Man braucht dazu
keine Flügel, wie du dir vorstellst«, fuhr er fort und streckte
seine Beine aus, so dass sie über den beiden leeren Sitzen rechts
von mir lagen und in den Mittelgang ragten.
»Also gut, und wann
werde ich fliegen können?«, fragte ich
ihn und beruhigte mich so weit, dass ich ihn wieder anschauen
konnte.
Er beugte sich nach
unten, um Buttercup zwischen den Ohren zu streicheln, und sah mich
an. »Alles zu seiner Zeit.«
Ich verdrehte die
Augen. Dieser Satz kam mir bereits zu den Ohren heraus, aber ich
nahm zu Recht an, dass ich ihn nicht zum letzten Mal gehört hatte.
Ich presste mich in meinen Sitz, zog die Knie an die Brust, schlang
meine Arme fest um meine Beine und starrte aus dem Fenster. Ich
versuchte, die vorbeiziehenden Bilder zu begreifen, sie anzuhalten,
daraus schlau zu werden, aber der Zug fuhr so schnell, dass ich
keines davon in seinen Einzelheiten betrachten konnte. Trotzdem
hatte ich tief in meinem Inneren das Gefühl, als würde eine
Bilderflut an mir vorbeiströmen. Sie zeigte mir Geschehnisse auf
der Erdebene – solche, die noch vor mir lagen, und andere, die ich
schon längst hinter mich gebracht hatte.
Die gesamte
Geschichte der Menschheit.
Die Geschichte der
Zeit.
Ich kann nicht
sagen, wie lange die Fahrt dauerte, aber sie erschien mir nicht
sehr lang. Zumindest nicht so lang, wie man sich eine solche Reise
vorstellen würde. Und bevor ich mich’s versah, waren wir aus dem
Tunnel heraus, aus der U-Bahn ausgestiegen und standen auf einem
Bahnsteig. Bodhi sah sich um und sagte: »Wir sind da.«
Ein Windstoß trieb
vorbei, die U-Bahn verschwand aus unserer Sicht und ließ uns drei
zurück. Wir sahen uns um und versuchten, uns zurechtzufinden. Ich
war sicher, dass wir uns irgendwo auf der Erdebene befanden, obwohl
mir dieser Ort nicht im Entferntesten bekannt vorkam.
Ich hielt mich an
Bodhi und hoffte, dass er wusste, wohin er ging, als er uns wortlos
eine Straße entlangführte und dann in eine andere abbog. Wir
erreichten eine lange Gasse, die schließlich in einen engen,
kopfsteingepflasterten Weg führte. Er deutete nach oben zum Himmel
und erklärte: »Dort ist es.« Dann hielt er einen Moment inne, bevor
er hinzufügte: »Glaube ich.«
»Du glaubst es?« Ich kniff meine Augen zusammen. Das
winzige bisschen Vertrauen, das ich in ihn gesetzt hatte, war
verschwunden, einfach so.
»Nein, ich bin mir
sicher. Wirklich. Das ist es ganz bestimmt«, wiederholte er,
straffte die Schultern und nickte bekräftigend. Er versuchte,
bestimmt und gebieterisch aufzutreten, wie ein selbstbewusster,
trittsicherer Führer, aber ich hatte immer noch das bange Gefühl,
dass er ebenso ahnungslos war wie Buttercup und ich.
»Also, was
genau soll das sein?«, fragte ich,
während ich mit meinem Blick seiner Fingerspitze folgte und
versuchte, durch die Wolken, den grauen Himmel und den dichten
Nebel blinzelnd, etwas zu erkennen. Das brachte mich jedoch nicht
weiter.
»Das dort oben.« Er
deutete immer noch auf einen Punkt in der Ferne, an dem sich jedoch
meiner Meinung nach nichts Besonderes befand. »Dort müssen wir hin.
Warmington Castle. Dort wohnt er.«
»Er?« Ich drehte mich zu ihm um und starrte ihn an.
Buttercup presste sich fest an meine Beine und zeigte mir damit,
dass er sich in dieser Situation auch nicht wohler fühlte als
ich.
Bodhi lächelte,
schloss die Augen und manifestierte zwei Skateboards, ein schwarzes
für ihn und ein violettes für mich. Ohne weitere Zeit zu vergeuden,
sprang er auf sein Board und warf mir über die Schulter einen Blick
zu. »Deine erste Aufgabe wartet auf dich«, erklärte er. »Der
Radiant Boy. Folg mir und streng dich an, damit du den Anschluss
nicht verlierst.«