007
 
SECHS
 
Ich griff nach der Türklinke, um so schnell wie möglich aus dem Raum zu kommen, ihm hinterherzulaufen und ihm ordentlich die Meinung zu geigen. Das wäre mir auch beinahe gelungen, doch dann rief mir plötzlich jemand aus dem hinteren Teil des Raums etwas zu. Mürrisch verzog ich das Gesicht und drehte mich um; auf keinen Fall wollte ich auch nur einen Moment länger hierbleiben. Ein Wesen, das wohl ein Engel war, stand mir direkt gegenüber.
Ein unglaublich schöner, glitzernder Engel.
Der erste, der mir erschienen war, seit ich mich im Hier befand.
»Riley?« Sie sah mich so liebevoll an, dass sich meine Miene sofort glättete. »Du bist doch Riley, richtig?«
Ich nickte. Mehr brachte ich nicht zu Stande. Ich war so eingeschüchtert und überwältigt von ihrer Erscheinung, ihren langen, glänzenden Locken, die abwechselnd in allen Tönen von Blond bis Braun und Schwarz bis Rot schimmerten, bis sich dieser Ablauf wiederholte. Das Gleiche fand mit ihrer Haut statt – sie verfärbte sich von blassem Weiß zu dunklem Ebenholz und zeigte beim Übergang sämtliche Zwischentöne. Und ihr Kleid, eine funkelnde Robe, rauschte und schimmerte, als wäre sie aus einer riesigen Wolke aus Sternennebel und meterlangen Seidenfäden gewebt worden. Das Einzige, was fehlte, waren Flügel – falls sie welche hatte, konnte ich sie nicht sehen.
Sie lächelte und gab mir mit der Hand ein Zeichen, näher zu treten, und ich folgte ihr sofort, ohne weiter darüber nachzudenken. Sie war derart faszinierend und atemberaubend, dass ich nicht widerstehen konnte. Das strahlende Licht, das von ihr ausging, war so pulsierend, so kräftig und so … violett, dass die Cheerleaderin und der Sonderling im Vergleich dazu aussahen wie ausgebrannte Glühbirnen. Und obwohl ich mir sicher war, dass ich sie noch nie zuvor getroffen hatte, kam sie mir auf merkwürdige Weise bekannt vor. Und in dem Moment, in dem sie mich anlächelte und mich aus freundlichen Augen musterte, wusste ich, warum – sie sah aus wie eine zum Leben erwachte Märchenprinzessin.
»Wir freuen uns sehr, dich zu sehen«, sagte sie und faltete die Hände vor ihrer Brust.
Wir?
Ich blinzelte einmal, zweimal und stellte überrascht fest, dass die Sitze, die noch einen Augenblick zuvor leer gewesen waren, nun von einer kleinen Gruppe mit Roben bekleideter Leute besetzt waren. Obwohl sie auch leuchteten, strahlte keiner von ihnen annähernd so hell wie der wunderschöne Engel vor mir.
»Ich bin Aurora«, sagte sie, und, ehrlich gesagt, überraschte mich das kein bisschen. Wenn sich jemand einen solchen Namen leisten konnte, dann sie. »Und das hier ist Claude.« Sie zeigte auf einen Jungen mit einem dunklen Pferdeschwanz, der gut zu seinem zotteligen Bart passte und ihm fast bis zur Taille reichte. »Und Royce.« Sie deutete mit einem Kopfnicken auf den Jungen neben Claude, der mit seinem welligen braunen Haar, der dunklen Haut und den glitzernden grünen Augen so heiß aussah, dass er auf der Erdebene mit Sicherheit einen umschwärmten Filmstar abgegeben hätte. Der Junge rechts neben ihm hieß Samson, und er sah ungelogen so alt aus, dass er schon wieder jung aussah, so als ob der Kreis sich geschlossen hätte – und mir ist klar, dass diese Beschreibung nicht wirklich Sinn ergibt. Neben Samson saß Celia. Sie war so zierlich, dass sie wie die Miniaturausgabe eines Menschen wirkte, und ihr cremefarbenes Kleid war mit leuchtenden Blüten und zarten Rankengewächsen bestickt.
Aber obwohl sie mich alle so freundlich empfingen und ganz und gar nicht bedrohlich wirkten und obwohl sie alle in verschiedenen Farbtönen glühten, angefangen von Celias Kornblumenblau bis zu Auroras pulsierendem Violett, konnte ich das ungute Gefühl nicht unterdrücken, das in mir aufstieg und immer stärker wurde. Ich konnte dieses Gefühl nicht richtig einordnen, und mir fiel kein guter Grund ein, warum ich es überhaupt hatte. Ich wusste nur, dass mir irgendetwas bevorstand.
Irgendetwas Entscheidendes.
Jetzt, wenn ich daran zurückdenke, scheint alles offensichtlich gewesen zu sein, aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht die geringste Ahnung, was auf mich zukam.
Nach allem, was ich damals wusste, kam es mir nicht in den Sinn, dass so etwas tatsächlich geschehen könnte.
»Wir sind Mitglieder der Ratsversammlung«, sagte Aurora, als würde mir das weiterhelfen, und nahm lächelnd zwischen den anderen Platz. »Du weißt doch, was das ist, oder?«
Ich schüttelte den Kopf und biss mir kräftig auf die Unterlippe, unfähig, etwas zu erwidern. Eigentlich konnte ich nicht einmal denken. Ich konnte gar nichts tun, außer dort zu stehen und sie anzustarren. Mein Blick irrte durch den Raum. Ich sah mich noch einmal gründlich um, und mein Magen krampfte sich zusammen, als mir plötzlich klar wurde, wofür die Bühne gedacht war.
Warum sie ganz leer war.
Worum es hier wirklich ging.
»Bleib ganz ruhig«, sagte der heiße Typ, von dem ich glaubte, dass er Royce hieß. Ich war jetzt allerdings so verängstigt, dass ich mir nicht mehr sicher war.
»Es besteht kein Grund zur Sorge. Du bist hier in Sicherheit. Wir beißen nicht«, erklärte Samson, und aus einem mir unerklärlichen Grund brachen alle in Gelächter aus.
Na ja, alle außer mir.
Nichts lag mir im Augenblick ferner, als zu lachen. Eigentlich war ich nur damit beschäftigt, mich nach einem Fluchtweg umzuschauen. Dieses schreckliche, bange Gefühl, das ich empfand, seit ich eine ungefähre Vorstellung davon hatte, was die unmittelbare Zukunft mir bringen würde, überwältigte mich total.
Und trotzdem war dieser harte Knoten in meinem Magen, der von meiner Angst herrührte, nichts im Vergleich zu der Wut, die allmählich in mir hochkochte. Das überwältigende Gefühl, dass man mich reingelegt hatte.
Mich überrumpelt hatte.
Mir auf eine sehr unfaire Art eine Falle gestellt hatte.
Ich dachte daran, wie meine Eltern mich kurz zuvor zum Abschied umarmt und geflötet hatten: »Wir wünschen dir einen schönen Tag!«, als würde alles völlig normal ablaufen.
Als würde ich nicht in einen Hinterhalt gelockt und hiermit konfrontiert werden.
Keine Warnung. Kein Hinweis irgendeiner Art. Sie hatten mich einfach in die Höhle des Löwen laufen lassen, ohne Munition, ohne Verteidigungsmittel, ohne Ratschläge, wie ich das überleben sollte.
Ich ließ den Blick über die Gruppe wandern und schüttelte seufzend den Kopf.
Das war es.
Das war das Jüngste Gericht.
Nun hieß es: Ich gegen sie, und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.
Es überraschte mich kein bisschen, als ich mich plötzlich in der Mitte der Bühne befand, obwohl ich mich nicht aus eigenem Willen dorthin begeben hatte.
Ich war vor Entsetzen wie gelähmt, als sie sich alle auf ihren Stühlen nach vorne beugten und darauf warteten, dass die Show begann, während hinter mir der Vorhang aufging.