SECHS
Ich griff nach der Türklinke, um so schnell wie
möglich aus dem Raum zu kommen, ihm hinterherzulaufen und ihm
ordentlich die Meinung zu geigen. Das wäre mir auch beinahe
gelungen, doch dann rief mir plötzlich jemand aus dem hinteren Teil
des Raums etwas zu. Mürrisch verzog ich das Gesicht und drehte mich
um; auf keinen Fall wollte ich auch nur einen Moment länger
hierbleiben. Ein Wesen, das wohl ein Engel war, stand mir direkt
gegenüber.
Ein unglaublich
schöner, glitzernder Engel.
Der erste, der mir
erschienen war, seit ich mich im Hier befand.
»Riley?« Sie sah
mich so liebevoll an, dass sich meine Miene sofort glättete. »Du
bist doch Riley, richtig?«
Ich nickte. Mehr
brachte ich nicht zu Stande. Ich war so eingeschüchtert und
überwältigt von ihrer Erscheinung, ihren langen, glänzenden Locken,
die abwechselnd in allen Tönen von Blond bis Braun und Schwarz bis
Rot schimmerten, bis sich dieser Ablauf wiederholte. Das Gleiche
fand mit ihrer Haut statt – sie verfärbte sich von blassem Weiß zu
dunklem Ebenholz und zeigte beim Übergang sämtliche Zwischentöne.
Und ihr Kleid, eine funkelnde Robe, rauschte und schimmerte, als
wäre sie aus einer riesigen Wolke aus Sternennebel und meterlangen
Seidenfäden gewebt worden. Das Einzige, was fehlte, waren Flügel –
falls sie welche hatte, konnte ich sie nicht sehen.
Sie lächelte und gab
mir mit der Hand ein Zeichen, näher zu treten, und ich folgte ihr
sofort, ohne weiter darüber nachzudenken. Sie war derart
faszinierend und atemberaubend, dass ich nicht widerstehen konnte.
Das strahlende Licht, das von ihr ausging, war so pulsierend, so
kräftig und so … violett, dass die Cheerleaderin und der Sonderling
im Vergleich dazu aussahen wie ausgebrannte Glühbirnen. Und obwohl
ich mir sicher war, dass ich sie noch nie zuvor getroffen hatte,
kam sie mir auf merkwürdige Weise bekannt vor. Und in dem Moment,
in dem sie mich anlächelte und mich aus freundlichen Augen
musterte, wusste ich, warum – sie sah aus wie eine zum Leben
erwachte Märchenprinzessin.
»Wir freuen uns
sehr, dich zu sehen«, sagte sie und faltete die Hände vor ihrer
Brust.
Wir?
Ich blinzelte
einmal, zweimal und stellte überrascht fest, dass die Sitze, die
noch einen Augenblick zuvor leer gewesen waren, nun von einer
kleinen Gruppe mit Roben bekleideter Leute besetzt waren. Obwohl
sie auch leuchteten, strahlte keiner von ihnen annähernd so hell
wie der wunderschöne Engel vor mir.
»Ich bin Aurora«,
sagte sie, und, ehrlich gesagt, überraschte mich das kein bisschen.
Wenn sich jemand einen solchen Namen leisten konnte, dann sie. »Und
das hier ist Claude.« Sie zeigte auf einen Jungen mit einem dunklen
Pferdeschwanz, der gut zu seinem zotteligen Bart passte und ihm
fast bis zur Taille reichte. »Und Royce.« Sie deutete mit einem
Kopfnicken auf den Jungen neben Claude, der mit seinem welligen
braunen Haar, der dunklen Haut und den glitzernden grünen Augen so
heiß aussah, dass er auf der Erdebene mit Sicherheit einen
umschwärmten Filmstar abgegeben hätte. Der Junge rechts neben ihm
hieß Samson, und er sah ungelogen so alt aus, dass er schon wieder
jung aussah, so als ob der Kreis sich geschlossen hätte – und mir
ist klar, dass diese Beschreibung nicht wirklich Sinn ergibt. Neben
Samson saß Celia. Sie war so zierlich, dass sie wie die
Miniaturausgabe eines Menschen wirkte, und ihr cremefarbenes Kleid
war mit leuchtenden Blüten und zarten Rankengewächsen
bestickt.
Aber obwohl sie mich
alle so freundlich empfingen und ganz und gar nicht bedrohlich
wirkten und obwohl sie alle in verschiedenen Farbtönen glühten,
angefangen von Celias Kornblumenblau bis zu Auroras pulsierendem
Violett, konnte ich das ungute Gefühl nicht unterdrücken, das in
mir aufstieg und immer stärker wurde. Ich konnte dieses Gefühl
nicht richtig einordnen, und mir fiel kein guter Grund ein, warum
ich es überhaupt hatte. Ich wusste nur, dass mir irgendetwas
bevorstand.
Irgendetwas
Entscheidendes.
Jetzt, wenn ich
daran zurückdenke, scheint alles offensichtlich gewesen zu sein,
aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht die geringste Ahnung, was
auf mich zukam.
Nach allem, was ich
damals wusste, kam es mir nicht in den Sinn, dass so etwas
tatsächlich geschehen könnte.
»Wir sind Mitglieder
der Ratsversammlung«, sagte Aurora, als würde mir das weiterhelfen,
und nahm lächelnd zwischen den anderen Platz. »Du weißt doch, was
das ist, oder?«
Ich schüttelte den
Kopf und biss mir kräftig auf die Unterlippe, unfähig, etwas zu
erwidern. Eigentlich konnte ich nicht einmal denken. Ich konnte gar
nichts tun, außer dort zu stehen und sie anzustarren. Mein Blick
irrte durch den Raum. Ich sah mich noch einmal gründlich um, und
mein Magen krampfte sich zusammen, als mir plötzlich klar wurde,
wofür die Bühne gedacht war.
Warum sie ganz leer
war.
Worum es hier
wirklich ging.
»Bleib ganz ruhig«,
sagte der heiße Typ, von dem ich glaubte, dass er Royce hieß. Ich
war jetzt allerdings so verängstigt, dass ich mir nicht mehr sicher
war.
»Es besteht kein
Grund zur Sorge. Du bist hier in Sicherheit. Wir beißen nicht«,
erklärte Samson, und aus einem mir unerklärlichen Grund brachen
alle in Gelächter aus.
Na ja, alle außer
mir.
Nichts lag mir im
Augenblick ferner, als zu lachen. Eigentlich war ich nur damit
beschäftigt, mich nach einem Fluchtweg umzuschauen. Dieses
schreckliche, bange Gefühl, das ich empfand, seit ich eine
ungefähre Vorstellung davon hatte, was die unmittelbare Zukunft mir
bringen würde, überwältigte mich total.
Und trotzdem war
dieser harte Knoten in meinem Magen, der von meiner Angst
herrührte, nichts im Vergleich zu der Wut, die allmählich in mir
hochkochte. Das überwältigende Gefühl, dass man mich reingelegt
hatte.
Mich überrumpelt
hatte.
Mir auf eine sehr
unfaire Art eine Falle gestellt hatte.
Ich dachte daran,
wie meine Eltern mich kurz zuvor zum Abschied umarmt und geflötet
hatten: »Wir wünschen dir einen schönen Tag!«, als würde alles
völlig normal ablaufen.
Als würde ich nicht
in einen Hinterhalt gelockt und hiermit
konfrontiert werden.
Keine Warnung. Kein
Hinweis irgendeiner Art. Sie hatten mich einfach in die Höhle des
Löwen laufen lassen, ohne Munition, ohne Verteidigungsmittel, ohne
Ratschläge, wie ich das überleben sollte.
Ich ließ den Blick
über die Gruppe wandern und schüttelte seufzend den
Kopf.
Das war
es.
Das war das Jüngste
Gericht.
Nun hieß es: Ich
gegen sie, und es gab nichts, was ich dagegen tun
konnte.
Es überraschte mich
kein bisschen, als ich mich plötzlich in der Mitte der Bühne
befand, obwohl ich mich nicht aus eigenem Willen dorthin begeben
hatte.
Ich war vor
Entsetzen wie gelähmt, als sie sich alle auf ihren Stühlen nach
vorne beugten und darauf warteten, dass die Show begann, während
hinter mir der Vorhang aufging.