008
 
SIEBEN
 
Claude, der bärtige Typ, erhob sich von seinem Stuhl, ging zu dem riesigen Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand, das ich in meiner anfänglichen Nervosität gar nicht gesehen hatte, zog ein schmales Buch heraus und blätterte beiläufig darin. Er gab einige schnalzende Laute von sich und fuhr sich dabei mit der Zunge über die Innenseite seiner Wange, bis er schließlich das Buch zuschlug, es auf seinen Platz in dem Regal zurückstellte und wieder zu seinem Stuhl ging.
»Nun, da hat wohl jemand ein sehr interessantes Leben geführt«, meinte er und zupfte seine Robe über seinen übergeschlagenen Beinen zurecht, während er mich ansah. »Warum erzählst du uns nicht ein wenig darüber?«
Ich starrte ihn mit diesem Ausdruck an, bei dem einem die Augen hervorquellen und die Kinnlade herunterfällt. Dann warf ich ihm meine beste Version des »Du-bist-wohl-übergeschnappt-Blicks« zu. Ich war sicher, dass er sich einen Scherz mit mir erlaubte, obwohl mir das Glitzern in seinen Augen verriet, dass er alles andere als das im Sinn hatte.
Sie warteten. Alle. Geduldig. Sie waren gespannt darauf, die extrem kurze Geschichte der zwölf Jahre meines Lebens zu hören, das im Handumdrehen vorbei gewesen war.
Ehrlich gesagt, je länger sie dort so saßen und darauf warteten, dass ich endlich anfing, umso ungehaltener wurde ich, bis der Zorn in mir so weit nach oben kochte, dass das Fass überlief und ich hervorstieß: »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« Ich wartete darauf, dass einer von ihnen das zugab und mir den Witz erklärte, aber als keiner Anstalten dazu machte, schüttelte ich den Kopf und fuhr fort: »Wie interessant kann meine Geschichte wohl sein, wenn ich nicht einmal meinen dreizehnten Geburtstag erlebt habe?« Ich presste meine Lippen fest aufeinander, damit sie das peinliche Zittern nicht sahen. Und ich verschränkte die Arme vor meinem Busen, der dank meines Umzugs ins Hier hartnäckig so flach bleiben würde, wie er war – bis in alle Ewigkeit, wenn ich das richtig sah. Meine Augen begannen zu brennen, meine Kehle wurde heiß und eng, und das machte alles noch schlimmer. Ich meine, das Einzige, was ich wollte, die einzige Sache, die mir am Herzen lag, war, ein Teenager zu werden – und das hatten diese Leute mir mit einem Ruck weggerissen.
»Also willst du damit sagen, dass du … dich betrogen fühlst?«, fragte Royce, neigte den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen. Er musterte mich, als wäre er ein Wissenschaftler und ich seine interessanteste Ratte.
»Hast du deshalb so lange auf der Erdebene gezögert? «, fragte Celia in einer sehr höflichen und zurückhaltenden Art, von der ich mich jedoch keinen Moment lang täuschen ließ. Schon gar nicht, weil sie ihren Blick so gründlich über mich wandern ließ, dass ihr auf keinen Fall etwas entging.
Und dass alle mich so anstarrten, machte die Sache nicht besser.
Ich hatte das Gefühl, als wäre ich eine Zirkusattraktion.
Eine Art Freak.
Obwohl sich alle bemühten, ruhig, fürsorglich und freundlich zu erscheinen, und so taten, als würden sie mir alle Zeit der Welt geben, bis ich mich gefasst hatte und das große Geheimnis lüftete, wie ich die zwölf erbärmlich kurzen Jahre meines Lebens verbracht hatte, ließ ich mich davon keine Sekunde lang täuschen.
Diese Leute wussten alles. Das stand schon alles in ihren Büchern. Sie wollten es nur noch einmal von mir hören. Ich sollte alles zugeben.
Eine Prüfung für das Jenseits.
Genau darum ging es.
Daran bestand für mich kein Zweifel.
»Es ist wahr, dass wir bereits alles wissen«, gab Aurora zu und bestätigte damit, was ich bereits geahnt hatte. »Aber du hast nichts zu befürchten. Es geht hier nicht um ein Urteil. Wir wollen dir nur die Möglichkeit geben, einiges zu erklären, das ist alles. Du sollst uns sagen, was dich dazu bewogen hat, deine Entscheidungen so zu treffen, wie du es getan hast. Wir interessieren uns dafür, was du dazu zu sagen hast, für deine Sicht der Dinge, damit wir eine optimale Entscheidung treffen können, an welchen Ort wir dich bringen sollen.«
Ich blinzelte und sah sie alle an, einen nach dem anderen, aber sie waren einfach zu gut darin, zu geübt, und ich konnte nicht den kleinsten Hinweis darauf erkennen, was sie damit gemeint haben könnte.
»Es gibt einen Ort für jeden«, erklärte Celia und glättete die Ärmel ihres Kleids mit ihren kleinen Händen. »Und es ist unsere Aufgabe, den richtigen für dich zu finden«, fügte sie hinzu, als ob mir das irgendetwas sagte. Als ob ein Neuling wie ich daraus klug werden würde.
Ich schüttelte den Kopf. Ich war jetzt wirklich verärgert und durcheinander – na ja, in erster Linie wütend. »Hören Sie, das ist wirklich nicht mein Ding, also frage ich mich, ob wir das nicht ein anderes Mal machen könnten, oder so. Ich meine, da Sie sowieso schon alles wissen, was es zu wissen gibt, sehe ich darin keinen Sinn. Und außerdem jagt es mir ein wenig Angst ein, auf dieser Bühne stehen zu müssen. Aber, okay, wenn Sie darauf bestehen, dann kann ich Ihnen die ersten beiden Punkte auf der kurzen Liste meiner Sünden nennen. So wie ich das sehe, ist die erste Sünde wahrscheinlich, dass ich manchmal zu bestimmten Gelegenheiten das Mikrophon in Beschlag genommen habe, wenn ich mit meinen Freunden Rockband auf der Wii gespielt habe …« Ich hielt inne und hörte meine eigene Stimme in meinem Kopf sagen: Tatsächlich? Willst du dich ernsthaft um die Wahrheit drücken? Ausgerechnet hier? Ich räusperte mich, bevor ich hinzufügte: »Ähm, okay, ich habe mir das Mikrophon vielleicht nicht nur hin und wieder geschnappt, aber das habe ich nur getan, weil ich für American Idol üben wollte. Wahrscheinlich kennen Sie das nicht. Das ist eine sehr beliebte Show …« Ich schüttelte den Kopf. Mir war klar, dass ich weitermachen musste, wenn ich hier bald rauskommen wollte.
»Wie auch immer, was noch? Okay, ich schätze, der zweite Punkt dreht sich darum, als wir in der vierten Klasse einen Vertretungslehrer hatten. Jemand hat … ähm, ich meine, ich habe die Sitzaufstellung umgestellt, so dass die Mädchen alle Jungsnamen hatten, und die Jungen Mädchennamen. Aber auch in diesem Fall möchte ich betonen, dass mir mildernde Umstände zustehen. Zunächst einmal war das nicht allein meine Idee. Eigentlich war es gar nicht meine Idee. Aber egal. Der einzige Grund, warum ich mich dazu bereiterklärt habe, mitzumachen, ist, dass Felicia Hawkins mich herausgefordert hat. Und sie ist richtig fies – nur für den Fall, dass Sie sie nicht kennen. Im Ernst, sie war eines der gemeinsten, gehässigsten, versnobtesten Mädchen in der Schule, und das schließt übrigens auch die Schüler und Schülerinnen der fünften und sechsten Klasse mit ein. Wenn man das bedenkt, ist doch klar, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich musste ihr beweisen, dass ich überhaupt keine Angst vor ihr, dem Vertretungslehrer oder sonst irgendjemandem hatte. Sonst hätte sie mich den Rest des Jahres fertiggemacht – oder sogar noch länger. Also, wenn jemand im Hier bestraft werden sollte, dann sie, Felicia Hawkins, nicht ich. Aber klar, sie lebt und atmet noch! Als ich sie zum letzten Mal sah, hat sie immer noch ihre Klassenkameraden terrorisiert, ohne dass das irgendwelche Folgen für sie hatte, während ich im Hier festhänge, auf einer doofen Bühne, in einem doofen Raum, und mich für ein paar doofe Sachen entschuldigen muss. Mal im Ernst, wie unfair ist das denn?«
Ich starrte sie an, erhitzt und mit hochrotem Kopf, aber obwohl die Frage nicht annähernd so rhetorisch war, wie sie vielleicht geklungen hatte, antwortete mir niemand. Sie beugten sich nur alle vor, fast gleichzeitig, als ob sie es einstudiert hätten, und ignorierten komplett meinen Gefühlsausbruch, der mir nicht wenig peinlich war. Dann richteten alle ihren Blick auf die Leinwand hinter mir. Auf eine Leinwand, die plötzlich zum Leben erwachte und eine Reihe von Bildern zeigte. Von …
Tja …
Von mir.
Von mir in Eugene, Oregon, als ich noch nicht einmal ein Jahr alt war und hinter meiner großen Schwester Ever herkrabbelte, die vier Jahre älter ist als ich und, soweit ich das sehen konnte, damals bereits bedauerte, keine Privatsphäre mehr zu haben.
Und wieder ich, wie ich wie eine Wilde auf meinem neuen violetten Fahrrad mit Stützrädern strampelte und verzweifelt versuchte, mit Ever Schritt zu halten, deren Fahrrad lindgrün und viel schneller als meines war.
Ich, ein paar Jahre später, als ich Evers Klamotten klaute und diese ohne ihr Wissen zur Schule anzog, obwohl sie mir nicht passten und ich die Hosenbeine und Ärmel hochkrempeln musste.
Ich, im letzten Jahr, als ich ihr und ihrem früheren Freund Brandon nachspioniert hatte und fasziniert, aber auch angewidert beobachtet hatte, wie sie sich auf der Couch in unserem Wohnzimmer geküsst hatten, als unsere Eltern ausgegangen waren und sie auf mich hätte aufpassen sollen.
Ganz ehrlich, ich hatte keine Ahnung, was der Rat sich dabei gedacht hatte, aber ich war beschämt. Es gelang mir nicht, den Blick von der Leinwand abzuwenden, wo vor meinen Augen diese schrecklichen Dinge abgespult wurden – tja, ich konnte nicht leugnen, dass ich den Großteil meines lächerlich kurzen Lebens damit verbracht hatte, ihr nachzustellen, sie zu bespitzeln, sie nachzuahmen und ihr so auf den Wecker zu fallen, dass es beinahe an Schikane grenzte.
Mehr als ein Jahrzehnt hatte ich mit einem langwierigen, bemitleidenswerten Versuch verbracht, genau so zu sein wie sie.
Mein Magen krampfte sich zusammen, als neue Bilder auf der Leinwand auftauchten. Jedes davon, das wieder erlosch, war ebenso erniedrigend wie das zuvor. Ich schlang meine Arme um meine Taille und wollte mich kleiner machen, verschwinden, an irgendeinem anderen Ort sein, nur nicht in diesem Raum, auf dieser Bühne. Mir war so übel wie damals, als ich einmal bei einem Ausflug seekrank geworden war.
Mein ganzes Leben war eine Lüge gewesen.
Überhaupt nicht so, wie ich gedacht hatte.
Und nun konnte ich diese Tatsache nicht mehr verleugnen.
Natürlich gab es auch noch andere Momentaufnahmen, wo Ever sich irgendwo mit ihren Freunden traf, während ich mit meinen Freunden rumhing. Aber größtenteils war es eben nicht so, daran gab es nichts zu rütteln.
Ich war eine typische kleine Schwester, die man jeden Tag am Hals hatte – durchschnittlich, vorlaut, lästig.
»Sind diese Aufnahmen bearbeitet? Sie wissen schon, mit einem Programm wie Photoshop oder so?«, fragte ich, und meine Stimme klang hoch und kreischend. Meine Mom hätte das als meine »Lügnerstimme« bezeichnet. Die Stimme, die ich benutzte, wenn der letzte Keks verschwunden war und ich unter Verdacht stand, oder wenn im Haus Unordnung herrschte und ich die Einzige war, die zu Hause gewesen war. Und ich glaube nicht, dass die Mitglieder des großen Rats das nicht bemerkt hatten.
Ich ließ den Kopf hängen und wendete den Blick von der Leinwand ab. Mir war klar, dass ich nichts mehr tun konnte. Es gab nichts mehr zu sagen. Jetzt war alles vorbei, und ich konnte mich nur noch zurücklehnen und warten, um zu erfahren, was nun mit mir geschehen würde.