SIEBEN
Claude, der bärtige Typ, erhob sich von seinem Stuhl,
ging zu dem riesigen Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand,
das ich in meiner anfänglichen Nervosität gar nicht gesehen hatte,
zog ein schmales Buch heraus und blätterte beiläufig darin. Er gab
einige schnalzende Laute von sich und fuhr sich dabei mit der Zunge
über die Innenseite seiner Wange, bis er schließlich das Buch
zuschlug, es auf seinen Platz in dem Regal zurückstellte und wieder
zu seinem Stuhl ging.
»Nun, da hat wohl
jemand ein sehr interessantes Leben geführt«, meinte er und zupfte
seine Robe über seinen übergeschlagenen Beinen zurecht, während er
mich ansah. »Warum erzählst du uns nicht ein wenig
darüber?«
Ich starrte ihn mit
diesem Ausdruck an, bei dem einem die Augen hervorquellen und die
Kinnlade herunterfällt. Dann warf ich ihm meine beste Version des
»Du-bist-wohl-übergeschnappt-Blicks« zu. Ich war sicher, dass er
sich einen Scherz mit mir erlaubte, obwohl mir das Glitzern in
seinen Augen verriet, dass er alles andere als das im Sinn
hatte.
Sie warteten. Alle.
Geduldig. Sie waren gespannt darauf, die extrem kurze Geschichte
der zwölf Jahre meines Lebens zu hören, das im Handumdrehen vorbei
gewesen war.
Ehrlich gesagt, je
länger sie dort so saßen und darauf warteten, dass ich endlich
anfing, umso ungehaltener wurde ich, bis der Zorn in mir so weit
nach oben kochte, dass das Fass überlief und ich hervorstieß:
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« Ich wartete darauf, dass
einer von ihnen das zugab und mir den Witz erklärte, aber als
keiner Anstalten dazu machte, schüttelte ich den Kopf und fuhr
fort: »Wie interessant kann meine
Geschichte wohl sein, wenn ich nicht einmal meinen dreizehnten Geburtstag erlebt habe?« Ich presste
meine Lippen fest aufeinander, damit sie das peinliche Zittern
nicht sahen. Und ich verschränkte die Arme vor meinem Busen, der
dank meines Umzugs ins Hier hartnäckig so flach bleiben würde, wie
er war – bis in alle Ewigkeit, wenn ich das richtig sah. Meine
Augen begannen zu brennen, meine Kehle wurde heiß und eng, und das
machte alles noch schlimmer. Ich meine, das Einzige, was ich
wollte, die einzige Sache, die mir am Herzen lag, war, ein Teenager
zu werden – und das hatten diese Leute mir mit einem Ruck
weggerissen.
»Also willst du
damit sagen, dass du … dich betrogen fühlst?«, fragte Royce, neigte
den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen. Er musterte mich,
als wäre er ein Wissenschaftler und ich seine interessanteste
Ratte.
»Hast du deshalb so
lange auf der Erdebene gezögert? «, fragte Celia in einer sehr
höflichen und zurückhaltenden Art, von der ich mich jedoch keinen
Moment lang täuschen ließ. Schon gar nicht, weil sie ihren Blick so
gründlich über mich wandern ließ, dass ihr auf keinen Fall etwas
entging.
Und dass alle mich
so anstarrten, machte die Sache nicht besser.
Ich hatte das
Gefühl, als wäre ich eine Zirkusattraktion.
Eine Art
Freak.
Obwohl sich alle
bemühten, ruhig, fürsorglich und freundlich zu erscheinen, und so
taten, als würden sie mir alle Zeit der Welt geben, bis ich mich
gefasst hatte und das große Geheimnis lüftete, wie ich die zwölf
erbärmlich kurzen Jahre meines Lebens verbracht hatte, ließ ich
mich davon keine Sekunde lang täuschen.
Diese Leute wussten
alles. Das stand schon alles in ihren
Büchern. Sie wollten es nur noch einmal von mir hören. Ich sollte
alles zugeben.
Eine Prüfung für das
Jenseits.
Genau darum ging
es.
Daran bestand für
mich kein Zweifel.
»Es ist wahr, dass
wir bereits alles wissen«, gab Aurora zu und bestätigte damit, was
ich bereits geahnt hatte. »Aber du hast nichts zu befürchten. Es
geht hier nicht um ein Urteil. Wir wollen dir nur die Möglichkeit
geben, einiges zu erklären, das ist alles. Du sollst uns sagen, was
dich dazu bewogen hat, deine Entscheidungen so zu treffen, wie du
es getan hast. Wir interessieren uns dafür, was du dazu zu sagen
hast, für deine Sicht der Dinge, damit wir eine optimale
Entscheidung treffen können, an welchen Ort wir dich bringen sollen.«
Ich blinzelte und
sah sie alle an, einen nach dem anderen, aber sie waren einfach zu
gut darin, zu geübt, und ich konnte nicht den kleinsten Hinweis
darauf erkennen, was sie damit gemeint haben könnte.
»Es gibt einen Ort
für jeden«, erklärte Celia und glättete
die Ärmel ihres Kleids mit ihren kleinen Händen. »Und es ist unsere
Aufgabe, den richtigen für dich zu finden«, fügte sie hinzu, als ob
mir das irgendetwas sagte. Als ob ein Neuling wie ich daraus klug
werden würde.
Ich schüttelte den
Kopf. Ich war jetzt wirklich verärgert und durcheinander – na ja,
in erster Linie wütend. »Hören Sie, das ist wirklich nicht mein
Ding, also frage ich mich, ob wir das nicht ein anderes Mal machen
könnten, oder so. Ich meine, da Sie sowieso schon alles wissen, was
es zu wissen gibt, sehe ich darin keinen Sinn. Und außerdem jagt es
mir ein wenig Angst ein, auf dieser Bühne stehen zu müssen. Aber,
okay, wenn Sie darauf bestehen, dann kann ich Ihnen die ersten
beiden Punkte auf der kurzen Liste meiner Sünden nennen. So wie ich
das sehe, ist die erste Sünde wahrscheinlich, dass ich manchmal zu
bestimmten Gelegenheiten das Mikrophon in Beschlag genommen habe,
wenn ich mit meinen Freunden Rockband auf der Wii gespielt habe …«
Ich hielt inne und hörte meine eigene Stimme in meinem Kopf sagen:
Tatsächlich? Willst du dich ernsthaft um die
Wahrheit drücken? Ausgerechnet hier? Ich räusperte mich,
bevor ich hinzufügte: »Ähm, okay, ich habe mir das Mikrophon
vielleicht nicht nur hin und wieder geschnappt, aber das habe ich
nur getan, weil ich für American Idol
üben wollte. Wahrscheinlich kennen Sie das nicht. Das ist eine sehr
beliebte Show …« Ich schüttelte den Kopf. Mir war klar, dass ich
weitermachen musste, wenn ich hier bald rauskommen
wollte.
»Wie auch immer, was
noch? Okay, ich schätze, der zweite Punkt dreht sich darum, als wir
in der vierten Klasse einen Vertretungslehrer hatten. Jemand hat …
ähm, ich meine, ich habe die
Sitzaufstellung umgestellt, so dass die Mädchen alle Jungsnamen
hatten, und die Jungen Mädchennamen. Aber auch in diesem Fall
möchte ich betonen, dass mir mildernde Umstände zustehen. Zunächst
einmal war das nicht allein meine Idee. Eigentlich war es gar nicht
meine Idee. Aber egal. Der einzige Grund, warum ich mich dazu
bereiterklärt habe, mitzumachen, ist, dass Felicia Hawkins mich
herausgefordert hat. Und sie ist richtig fies – nur für den Fall,
dass Sie sie nicht kennen. Im Ernst,
sie war eines der gemeinsten, gehässigsten, versnobtesten Mädchen
in der Schule, und das schließt übrigens auch die Schüler und
Schülerinnen der fünften und sechsten Klasse mit ein. Wenn man das
bedenkt, ist doch klar, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich
musste ihr beweisen, dass ich überhaupt keine Angst vor ihr, dem
Vertretungslehrer oder sonst irgendjemandem hatte. Sonst hätte sie
mich den Rest des Jahres fertiggemacht – oder sogar noch länger.
Also, wenn jemand im Hier bestraft werden sollte, dann sie, Felicia
Hawkins, nicht ich. Aber klar, sie lebt
und atmet noch! Als ich sie zum letzten Mal sah, hat sie immer noch
ihre Klassenkameraden terrorisiert, ohne dass das irgendwelche
Folgen für sie hatte, während ich im Hier festhänge, auf einer
doofen Bühne, in einem doofen Raum, und mich für ein paar doofe
Sachen entschuldigen muss. Mal im Ernst, wie unfair ist das
denn?«
Ich starrte sie an,
erhitzt und mit hochrotem Kopf, aber obwohl die Frage nicht
annähernd so rhetorisch war, wie sie vielleicht geklungen hatte,
antwortete mir niemand. Sie beugten sich nur alle vor, fast
gleichzeitig, als ob sie es einstudiert hätten, und ignorierten
komplett meinen Gefühlsausbruch, der mir nicht wenig peinlich war.
Dann richteten alle ihren Blick auf die Leinwand hinter mir. Auf
eine Leinwand, die plötzlich zum Leben erwachte und eine Reihe von
Bildern zeigte. Von …
Tja …
Von mir.
Von mir in Eugene, Oregon, als ich noch nicht
einmal ein Jahr alt war und hinter meiner großen Schwester Ever
herkrabbelte, die vier Jahre älter ist als ich und, soweit ich das
sehen konnte, damals bereits bedauerte, keine Privatsphäre mehr zu
haben.
Und wieder
ich, wie ich wie eine Wilde auf meinem
neuen violetten Fahrrad mit Stützrädern strampelte und verzweifelt
versuchte, mit Ever Schritt zu halten, deren Fahrrad lindgrün und
viel schneller als meines war.
Ich, ein paar Jahre später, als ich Evers Klamotten
klaute und diese ohne ihr Wissen zur Schule anzog, obwohl sie mir
nicht passten und ich die Hosenbeine und Ärmel hochkrempeln
musste.
Ich, im letzten Jahr, als ich ihr und ihrem
früheren Freund Brandon nachspioniert hatte und fasziniert, aber
auch angewidert beobachtet hatte, wie sie sich auf der Couch in
unserem Wohnzimmer geküsst hatten, als unsere Eltern ausgegangen
waren und sie auf mich hätte aufpassen sollen.
Ganz ehrlich, ich
hatte keine Ahnung, was der Rat sich dabei gedacht hatte, aber
ich war beschämt. Es gelang mir nicht,
den Blick von der Leinwand abzuwenden, wo vor meinen Augen diese
schrecklichen Dinge abgespult wurden – tja, ich konnte nicht
leugnen, dass ich den Großteil meines lächerlich kurzen Lebens
damit verbracht hatte, ihr nachzustellen, sie zu bespitzeln, sie
nachzuahmen und ihr so auf den Wecker zu fallen, dass es beinahe an
Schikane grenzte.
Mehr als ein
Jahrzehnt hatte ich mit einem langwierigen, bemitleidenswerten
Versuch verbracht, genau so zu sein wie sie.
Mein Magen krampfte
sich zusammen, als neue Bilder auf der Leinwand auftauchten. Jedes
davon, das wieder erlosch, war ebenso erniedrigend wie das zuvor.
Ich schlang meine Arme um meine Taille und wollte mich kleiner
machen, verschwinden, an irgendeinem anderen Ort sein, nur nicht in
diesem Raum, auf dieser Bühne. Mir war so übel wie damals, als ich
einmal bei einem Ausflug seekrank geworden war.
Mein ganzes Leben
war eine Lüge gewesen.
Überhaupt nicht so,
wie ich gedacht hatte.
Und nun konnte ich
diese Tatsache nicht mehr verleugnen.
Natürlich gab es
auch noch andere Momentaufnahmen, wo Ever sich irgendwo mit ihren
Freunden traf, während ich mit meinen Freunden rumhing. Aber
größtenteils war es eben nicht so, daran gab es nichts zu
rütteln.
Ich war eine
typische kleine Schwester, die man jeden Tag am Hals hatte –
durchschnittlich, vorlaut, lästig.
»Sind diese
Aufnahmen bearbeitet? Sie wissen schon, mit einem Programm wie
Photoshop oder so?«, fragte ich, und meine Stimme klang hoch und
kreischend. Meine Mom hätte das als meine »Lügnerstimme«
bezeichnet. Die Stimme, die ich benutzte, wenn der letzte Keks
verschwunden war und ich unter Verdacht stand, oder wenn im Haus
Unordnung herrschte und ich die Einzige war, die zu Hause gewesen
war. Und ich glaube nicht, dass die Mitglieder des großen Rats das
nicht bemerkt hatten.
Ich ließ den Kopf
hängen und wendete den Blick von der Leinwand ab. Mir war klar,
dass ich nichts mehr tun konnte. Es gab nichts mehr zu sagen. Jetzt
war alles vorbei, und ich konnte mich nur noch zurücklehnen und
warten, um zu erfahren, was nun mit mir geschehen
würde.