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Unter ihnen lauerte das dunkelgraue, schaumige Wasser. Es brüllte und tobte. Weiter hinten, nahe am Horizont, konnte Shane hellere Flecken ausmachen, die weiße Gischtringe umgrenzten: die Riffe.
„ W o ist die verdammte Yacht?”, wollte Shane wissen. Der Pilot war ziemlich weit hinuntergegangen. Wasser spritzte gegen die Scheibe.
„Da!” Tamara deutete plötzlich durchs rechte Seitenfenster auf einen weißen Punkt, der sich langsam, aber ganz zielgerichtet auf ein großes Korallenriff zubewegte. Der Pilot zog hart nach rechts, und der weiße Punkt vor ihnen wurde größer. Der Helikopter ging weiter hinunter. Die Wellen erschienen immer höher. Mühsam bahnte sich die Yacht unter ihnen einen Weg durch die Wogen. Der Helikopter hatte exakt auf den Kurs der Yacht eingeschwenkt, die sich etwa noch eine halbe Seemeile vor ihnen befand.
„Ich will was durchsa gen.“
Als sie sich der Yacht noch mehr genähert hatten, gab der Pilot Shane ein Megafon.
„Hier spricht die Polizei, stoppen Sie sofort das Boot!”
Doch die Yacht hielt ihren Kurs unverändert bei.
„Ich gehe runter”, entschied der Pilot und drückte das Steuer nach unten. Die Yacht kam immer näher.
Shane wiederholte die Aufforderung, doch das Boot änderte weder Kurs noch Geschwindigkeit. Sie gingen noch weiter hinunter, und plötzlich machte Shane auf der linken Seite der Yacht zwei kämpfende Männer aus.
„Mein Gott, da vorn ist das Riff!”, schrie Tamara. Der große weiße Schaumring am Horizont lag direkt auf dem Kurs der Yacht.
„Wenn die in dieser Geschwindigkeit weiterfahren und nicht bald den Kurs ändern”, bemerkte der Pilot, „dauert es bis zur Kollision höchstens noch zehn Minuten. Das Riff da vorne ist ein Sockel von dreißig Metern Tiefe, da bleibt nichts mehr übrig.”
Der Pilot drückte die Maschine noch tiefer. „Weiter runter kann ich nicht mehr.“
„Achtung, hier spricht die Polizei. Halten Sie an! Sie rasen auf ein Riff zu!”, r ie f Shane wieder ins Megafon.
Shane sah das lange Messer in Weinheimers Hand. Er drückte Steve Wilson an die Reling, doch Steves Bein schnellte plötzlich vor und schleuderte Weinheimer schräg nach vorn zum Bug. Steve stürzte sich auf den am Boden liegenden Weinheimer.
„Da ist ja niemand am Steuer!”, rief Tamara. Shane sah, dass eine Frau gefesselt am Rand des Decks lag.
„Ich muss da runter, seilt mich ab!” Shane öffnete seine n Sicherheitsgurt.
„Shane, das ist Irrsinn ! Es ist viel zu stürmisch! Und was ist, wenn wirklich eine Bombe an Bord ist? W o bleibt Butler mit der verdammte n Spezialeinheit ? ” Das war verdammt schlecht geplant, Shane, verdammt schlecht geplant und unüberlegt!”
„Darüber kannst du in deinem Protokoll berichten. Hilf mir lieber, dieses Scheißding da anzulegen!”
“Es ist ein zu schlechtes Wetter zum Abseilen!”, schrie sie gegen den Sturm an, der durch die geöffnete Tür ins Innere des Helikopters drang.
Ohne ein weiteres Wort ließ Shane sich im Haltegurt hinab. Der Wind pfiff ihm um die Ohren; Regen schlug ihm ins Gesicht; die Gischt hatte ihn durchnässt. Das Rattern der Rotorblätter über ihm, das Dröhnen des Bootsmotors und das Zischen der Gischt brausten in seinen Ohren. Alle Bedenken schaltete er aus. Es kam jetzt nur darauf an, sicher am Heck an Bord zu gelangen. Dann würde er aus dem sich auf dem schwankenden Boot nach vorne arbeiten. Nur noch drei Meter bis zum Boden ... Jetzt. Seine Füße hatten schwankenden Schiffsboden unter sich.
Er befreite sich vom Seil und wollte sich über das vom Regen glitschige Deck nach vorne an der Reling entlanghangeln, als er auf der rechten Seite eine Bewegung wahrnahm.
„Polizei! Lassen Sie das Messer fallen!”, rief er und richtete die Waffe auf Weinheimer und Steve . Das Deck unter ihm hob und senkte sich, er konnte kaum stehen. Regen tropfte in seine Augen.
E in verzerrtes Grinsen glitt über Weinheimers Züge, und im selben Moment duckte er sich und stach blitzschnell zu . Steve schrie auf und sackte in sich zusammen.
Auf dem schwankenden Boot hatte Shane nicht gewagt abzudrücken. Zu leicht hätte er Steve treffen können. Im Bruchteil einer Sekunde entschied Shane, auf Weinheimers Beine zu zielen. Die Wahrscheinlichkeit, ihn bei dem starken Wellengang tatsächlich zu treffen, war verschwindend gering, aber er würde Zeit gewinnen, Zeit, um Weinheimer zu überwältigen und das Boot zu stoppen, das immer noch ungebremst auf das Riff zuraste.
Shane blieben nur noch wenige Minuten. Er zielte, der Schuss zerriss das Brausen des Sturmes. Weinheimer wurde an die Reling geschleudert, knickte ein, schnellte aber genau in dem Augenblick hoch, in dem das Boot von einem Wellenkamm in ein Wellental hinunterdonnerte, und warf sich mit aller Kraft und dem Messer in der Hand auf Shane. Er riss ihn auf die Planken.
Die Waffe entglitt Shanes Hand und rutschte über das regennasse Deck. Da war Weinheimer auch schon über ihm. Er presste Shanes Handgelenke nach unten; die Spitze des langen Messers ritzte schon Shanes Ohr. Weinheimer würde ihn töten. Es spielte für ihn keine Rolle, dass er, Shane, nicht zu den Männern gehörte, an denen er sich rächen wollte.
Vergeblich versuchte Shane, sich auf die Seite zu drehen und Weinheimer herumzureißen, doch dessen Griff wurde nur noch härter.
„Du hast meine Frau und meine Tochter in diese Sachen hineingezogen!”, stieß Shane hervor, und der Gedanke an sie gab ihm neue Kraft. Diesen kurzen Augenblick nutzte Shane; er mobilisierte alle Wut und Kraft, die er in sich fühlte, riss Weinheimer herum und rammte ihm sein Knie in den Unterleib. Weinheimer stürzte sich brüllend auf Shane. Ihm gelang es sich zur Seite zu werfen, sodass Weinheimer an die Reling prallte, das Gleichgewicht verlor - und über Bord ging. Schon eine Sekunde später wurde er von einem Wellenberg verschluckt.
Das Boot raste weiter geradeaus. Shane stürzte die Leiter hinauf zur Brücke. Er glitt auf den nassen Stufen aus, rappelte sich wieder auf, gelangte endlich nach oben. Als die Yacht für einen Moment auf eine Welle gehoben wurde, konnte er durch die Scheibe höchstens zweihundert Meter vor sich im dunkelgrauen Wasser einen Wall aus aufschäumender Gischt erkennen. Das Riff!
Er riss das Steuer so weit wie möglich nach Backbord. Die Yacht drehte abrupt ab. Shane legte die Hebel für den Motor um. Sofort erstarb das Dröhnen, es blubberte ein paarmal, dann waren nur noch das Rattern der Helikopterrotorblätter, das Heulen des Windes und das Schlagen der Wellen an die Schiffswand zu vernehmen. Der Helikopter irrte auf der Suche nach Weinheimer über die wogenden Fluten.
Shane sah nach unten. Steve hatte sich blut überströmt zu Annabel geschleppt und ihr die Fesseln abgenommen. Die Lichter des Helikopters hatten Weinheimer erfasst. Tamara ließ das Seil hinunter.
Dort, wo Weinheimer eingetaucht war, schlugen grauschwarze Flossen wild aufs Wasser.
„Haie!“, schrie Annabel.
Da färbte sich der weiße Schaum schon rot.