58

Dorothy Lewinsky, eine Casino-Angestellte Mitte fünfzig, stark geschminkt und mit aufgebauschter Bluse und ausgestelltem Rock wie aus einem Film der neunzehnhundertfünfziger Jahre entsprungen, zwitscherte: „Wissen Sie, dass ich darauf immer gewartet habe? Dass ich davon geträumt habe? Dorothy, habe ich mir gesagt, irgendwann wird dein Tag kommen, der Tag, an dem die Welt wissen will, was du zu sagen hast.”

Shane nickte ih r aufmunternd zu.

An jenem Tag ...”, plapperte sie weiter und klimperte mit ihren langen, unechten Wimpern, „ich erinnere mich deshalb daran, weil es der Geburtstag meines Exmannes ist und ich früher dreiundzwanzig Mal für ihn an diesem Tag Que serra, serra singen musste, na, Sie wissen schon! Nein? Diesen Song von Doris Day.” Sie begann die erste Strophe zu singen .

Doris, nein, Dorothy”, unterbrach Shane sie, „was passierte an diesem Tag?”

Nun”, sie fuhr sich mit den Handflächen über die geröteten Wangen, „es ist weiß Gott etwas delikat ...” Sie begann an ihren beringten Fingern zu spielen. „Ich meine, wissen Sie, normalerweise ...” Dorothy fasste sich an ihr toupiertes Haar . A lso, normalerweise schieben die Leute Geld durch das Gitter und bekommen es von mir in Münzen für die Automaten oder in Chips für Roulette und die anderen Spiele umgetauscht.” Sie senkte ihre Stimme . Ich sehe mir oft die Leute gar nicht richtig an. Aber an dem Tag ist mir an einem Mann etwas aufgefallen.”

Shane fragte sich, warum es so viele geschwätzige Frauen gab.

Wie ich schon sagte: Es war der Geburtstag meines Exmannes, und vielleicht war ich deshalb mehr auf so was eingestellt. Das gibt es ja, nicht wahr? So was wie eine selektive Wahrnehmung ... Wenn Sie nach einem roten Auto Ausschau halten, dann merken sie erst mal, wie viele rote Autos herumfahren, und wenn sie immer weiter nach roten Autos schauen, dann sind Sie irgendwann der festen Überzeugung, dass ausschließlich rote Autos auf den Straßen ...”

Ja.” Shane wurde allmählich ungeduldig, und wenn nicht der Casino-Manager Dorothy so ernsthaft zugehört hätte, wäre er spätestens jetzt gegangen.

Jedenfalls ...” Sie räusperte sich, bereitete ihre Zuhörer darauf vor, dass nun das Delikate dieser Angelegenheit kommen würde. „Jedenfalls stand da am zehnten Oktober letztes Jahr ein Mann an meinem Schalter, wollte dreihundert Dollar in Chips - und als er das Geld hinlegte, fiel ich fast in Ohnmacht.”

Shane sah sie fragend an. Auch der Manager wirkte gespannt. Er hatte so einen verdammten Schlüsselanhänger am Gürtel wie mein Exmann! Verstehen Sie? Ich hatte ihn gar nicht angesehen, und als ich den Schlüsselanhänger sah, dachte ich, es sei er! Ich dachte, er sei zurückgekommen!”

Shane holte Atem. „Und was hat das mit dem besonderen Vorkommnis an diesem Tag zu tun?“

Dieser Schlüsselanhänger”, sie flüsterte jetzt, „der zeigte eine nackte Frau, die ihre Beine spreizt, wenn man das Bild im richtigen Winkel hält.”

Shane nickte, wusste aber noch immer nicht, was sie ihm erklären wollte.

Sie kennen doch sicher diese Postkarten mit Frauen, die einem zuzwinkern, wenn man sie hin- und her bewegt. Bei Schlüsselanhängern gibt es so was auch. Also, zwei Tage später habe ich in der Zeitung von einem Ertrunkenen gelesen, der an den Strand gespült worden war. In dem Artikel stand, dass er so einen Schlüsselanhänger am Gürtel trug. Die nackte Frau.

Der Mann aus dem Casino war also ertrunken?“

Sie schüttelte den Kopf. „Aber nein!“

„Nein?“

„Also: Der Tote hatte zwar den gleichen Schlüsselanhänger wie der Mann, der bei mir Geld getauscht hat, aber er war es nicht.

Zum Mitschreiben: der Tote am Strand war nicht derselbe Mann wie der, dem sie Geld getauscht haben, obwohl beide den gleichen Schlüsselanhänger am Gürtel trugen?”

Sie nickte. „Genau, ich bin natürlich gleich zur Polizei, weil ich geglaubt habe, es wäre derselbe – und ich wollte was zu den Ermittlungen beisteuern ... es war schon gruselig, wie er da so tot auf dem Metalltisch lag ... aber ...

Shane sah sie fragend an.

Die Polizei hat mir zuerst nicht geglaubt, weil die Besitzerin vom Motel Lagoon ...“

„Könnten Sie erklären, was ...“

„Warten Sie halt mal, ich erkläre es schon. Also, Kathy Fischer vom Lagoon hat bei der Polizei behauptet, der Tote sei der, der bei ihr unter dem Namen Goran Hentschel eingecheckt habe.“

Sie befeuchtete ihre Lippen. „Es war ganz furchtbar, ich meine, der Anblick ... ich hab noch nicht so viele Tote gesehen ... aber ... ja, sie sagte, sie wäre ganz sicher gewesen, dass sich dieser Mann am ... am siebten Oktober – ich hab nun mal auch ein gutes Zahlengedächtnis – bei ihr eingemietet hätte.“

„Hm.“

„Tja, ich weiß auch nicht. Auf den ersten Blick sahen sie sich vielleicht wirklich ein bisschen ähnlich ...“

„Danke, vielleicht brauche ich noch einmal Ihre Aussage“, sagte Shane.

Als Shane sich von Dorothy verabschiedete, gab der Hotelmanager ihm einen Stapel Zettel: die Kopien der Anmeldungen vom zehnten Oktober.

Shane öffnete wenig später die Autotür und ließ sich auf den Fahrersitz fallen.

Und?”, wollte Lewis wissen.

Eine Angestellte hat ...”, fing Shane an.

Verdammt, nein, ich meine, wie ist das Spiel ausgegangen?”

Sorry, Lewis, ich hab vergessen zu fragen.”

Hättest mir wenigstens noch `n Bier mitbringen können! Wohin kutschierst du mich jetzt?”

Noch mal in die Polizeistation.”

Ich hätte doch vor der Glotze bleiben sollen“, grunzte Lewis.

Vier Einbrüche, drei Überfälle auf Tankstellen, zwei Vergewaltigungen, drei Autodiebstähle ... dann endlich fand Shane im Polizeibericht das, wonach er suchte: Am zwölften Oktober des vergangenen Jahres hatte eine Joggerin einen Toten am Strand von Broadbeach entdeckt. Er hatte in seiner Jackentasche einen deutschen Reisepass bei sich gehabt, der auf den Namen Goran Hentschel lautete. Als Todesursache wurde Ertrinken angegeben. Der von Dorothy erwähnte Schlüsselanhänger war an der Gürtelschlaufe seiner Hose befestigt.

Und jetzt sag bloß, der Typ hatte ´ne Tätowierung am Oberarm!”, murmelte Lewis.

Shane sprang so abrupt auf, dass der Bürosessel an die rückwärtige Wand prallte. „Nein, viel besser! Dem Toten fehlte der halbe rechte Ringfinger!”

Lewis sah ihn verständnislos an.

Sally Barber hatte behauptet, dass ihr Bruder Andrew sich diese Verletzung zugezogen hatte. Und waren ihr nicht im Leichenschauhaus die großen Füße des Toten aufgefallen? Wenn Shane sich richtig erinnerte, hatten die Schuhe, die er im Apartment des Ermordeten gesehen hatte, Größe elf oder sogar elfeinhalb gehabt. Hier war die Schuhgröße des Toten jedoch mit sieben angegeben - eine Durchschnittsgröße.

Bei der Obduktion ist den Kollegen nicht aufgefallen, dass der Tote viel kleinere Füße hatte und auch fünfzehn Zentimeter kleiner war, als in dem Pass angegeben war, der bei ihm gefunden wurde. Im deutschen Pass, lautend auf den Namen Goran Hentschel, standen unter ‚Körpergröße‘ einhundertsiebenundachtzig Zentimeter, aber der Tote am Strand war nur einhundertzweiundsiebzig Zentimeter groß.”

Ich verstehe trotzdem nicht, was das soll.” Lewis begann leicht zu lallen.

Der Tote in Broadbeach”, erklärte Shane, „war in Wirklichkeit Andrew Barber mit dem abgeschnittenen Ringfinger, der seinen Job auf der Farm in Longreach gekündigt hatte und sein Erbe im Casino von Surfer’s Paradise vermehren wollte.”

Lewis nickte. „So weit klar.”

Goran Hentschel hat dessen Pass an sich genommen und dem Toten seinen eigenen gegeben. Ich bin sicher, er hat Andrew Barber umgebracht und seine Kleider gegen die Barbers getauscht, inklusive Schlüsselanhänger, der Dorothy an der Casino-Kasse aufgefallen war. Als der tote Barber gefunden wurde, waren seine Kleider nass – da fiel es nicht auf, dass sie dem Toten nicht passten.”

Lewis nickte langsam. „Aber was zum Teufel hat die Explosion der Yacht dieses Papierfabrikanten mit all dem zu tun? Wie hieß sie noch? Diana?”

Ist es nicht ein seltsamer Zufall, dass Goran Hentschel alias Andrew Barber sich einen Tag vor der Explosion in Broadbeach, also in unmittelbarer Nähe zu Surfer’s Paradise aufgehalten hat? Und dass er Markus Auer kannte, der Kontakt zu Ron Schuster hatte, dessen Werkstatt ebenfalls explodierte?”

Du meinst, es handelt sich bei Goran Hentschel um einen Sprengstoffexperten, der auf Bestellung Bomben legt, damit andere ihre Versicherungssumme kassieren können?”

Könnte sein.”

Aber was hat der echte Andrew Barber damit zu schaffen?”

Nichts! Er war zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort. Goran Hentschel hat vielleicht ganz spontan gehandelt, hat eine Möglichkeit gesehen, sich dieser ganzen lästigen Sache mit Aufenthaltserlaubnis, Arbeitsgenehmigung und vielleicht auch Nachforschungen von Interpol und Den Haag zu entziehen. Indem er einfach ‚ertrinkt‘. Und dann ist er zu Andrew Barber geworden. Eventuell hat er ihm ja auch noch die Erbschaft oder den Gewinn aus dem Casino abgenommen - und wahrscheinlich auch das Auto.” Shane erinnerte sich, dass vor dem Dalmatia der weiße Holden, zugelassen auf Andrew Barber, geparkt hatte.

Du denkst, Andrew Barber könnte diesen Goran im Casino kennen gelernt haben?”

Nun, das können wir ganz leicht überprüfen.” Shane blätterte die Kopien der Anmeldungen durch und stieß tatsächlich auf den Namen Goran Hentschel.

Der echte Goran mit seinem Schlüsselanhänger und dem deutschen Akzent hat an Dorothys Schalter Geld gewechselt. Andrew Barber hat er erst danach ermordet.”

Und was bringt dir das jetzt, Shane? Dieser Goran alias Andrew Barber ist ja schon vor Tagen ermordet worden. Wer hat denn dann heute Bailors Yacht in die Luft gejagt?”

Lewis hatte Recht. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder hatten die Explosionen der Yachten und der Werkstatt tatsächlich nichts miteinander zu tun, oder aber derjenige, der heute Jonathan Bailors Seagull gesprengt hatte, hatte Markus Auers und Goran Henschtels alias Andrew Barbers Job übernommen. Wenn dies zutraf, könnte diese Person auch auf der Todesliste des Mörders stehen - neben Markus Auer und Goran Hentschel. War es wirklich Zufall, dass sich Jürgen Amann zu diesem Zeitpunkt in seinem roten Toyota in Currumbin, ganz in der Nähe von Surfer’s Paradise aufgehalten hatte?

Auf dem Rückweg rief er Tom an und beauftragte ihn mit der Recherche über Goran Hentschel. Lewis versprach ihm ein paar Infos über das Lagoon zu liefern. Der Tag endete besser als er angefangen hatte.

Todesriff
titlepage.xhtml
part0000_split_000.html
part0000_split_001.html
part0000_split_002.html
part0000_split_003.html
part0000_split_004.html
part0000_split_005.html
part0000_split_006.html
part0000_split_007.html
part0000_split_008.html
part0000_split_009.html
part0000_split_010.html
part0000_split_011.html
part0000_split_012.html
part0000_split_013.html
part0000_split_014.html
part0000_split_015.html
part0000_split_016.html
part0000_split_017.html
part0000_split_018.html
part0000_split_019.html
part0000_split_020.html
part0000_split_021.html
part0000_split_022.html
part0000_split_023.html
part0000_split_024.html
part0000_split_025.html
part0000_split_026.html
part0000_split_027.html
part0000_split_028.html
part0000_split_029.html
part0000_split_030.html
part0000_split_031.html
part0000_split_032.html
part0000_split_033.html
part0000_split_034.html
part0000_split_035.html
part0000_split_036.html
part0000_split_037.html
part0000_split_038.html
part0000_split_039.html
part0000_split_040.html
part0000_split_041.html
part0000_split_042.html
part0000_split_043.html
part0000_split_044.html
part0000_split_045.html
part0000_split_046.html
part0000_split_047.html
part0000_split_048.html
part0000_split_049.html
part0000_split_050.html
part0000_split_051.html
part0000_split_052.html
part0000_split_053.html
part0000_split_054.html
part0000_split_055.html
part0000_split_056.html
part0000_split_057.html
part0000_split_058.html
part0000_split_059.html
part0000_split_060.html
part0000_split_061.html
part0000_split_062.html
part0000_split_063.html
part0000_split_064.html
part0000_split_065.html
part0000_split_066.html
part0000_split_067.html
part0000_split_068.html
part0000_split_069.html
part0000_split_070.html
part0000_split_071.html
part0000_split_072.html
part0000_split_073.html
part0000_split_074.html
part0000_split_075.html
part0000_split_076.html
part0000_split_077.html
part0000_split_078.html
part0000_split_079.html
part0000_split_080.html
part0000_split_081.html
part0000_split_082.html
part0000_split_083.html
part0000_split_084.html
part0000_split_085.html
part0000_split_086.html
part0000_split_087.html
part0000_split_088.html
part0000_split_089.html
part0000_split_090.html
part0000_split_091.html
part0000_split_092.html
part0000_split_093.html
part0000_split_094.html
part0000_split_095.html
part0000_split_096.html
part0000_split_097.html
part0000_split_098.html
part0000_split_099.html
part0000_split_100.html
part0000_split_101.html
part0000_split_102.html
part0000_split_103.html
part0000_split_104.html
part0000_split_105.html
part0000_split_106.html
part0000_split_107.html
part0000_split_108.html
part0000_split_109.html