82

In Annabels Briefkasten steckte ein Brief von Greg. Er schrieb nie Briefe. All die Jahre, seitdem sie sich an der Uni in Cairns kennen gelernt hatten, hatte sie nur einmal einen Brief von ihm erhalten. Damals hatte er ihr aus Melbourne geschrieben - einen Liebesbrief, den sie nie beantwortet hatte. Annabel faltete den Brief auseinander.

Liebe Annabel,

ich habe alles versucht, um dich zu warnen – und um dich zu beschützen. Aber du willst es offensichtlich nicht. Ich habe begriffen, dass ich dir nicht so viel bedeute wie du mir bedeutest. Diese Erkenntnis trifft mich sehr, aber ich muss sie akzeptieren. Ich wünsche dir alles Gute. Sei vorsichtig und pass auch dich auf. Ein letztes Mal warne ich dich vor Steve. Lass dich nicht auf ihn ein.

Ab jetzt werde ich dich nicht mehr belästigen.

Leb wohl,

Greg

Sie konnte sich seinen Gesichtsausdruck vorstellen, wenn sie ihm eröffnen würde, was sie gerade von Steve erfahren hatte und dass sie beschlossen hatte, ihn beim nächsten Zusammentreffen bei der Polizei anzuzeigen. Wütend zertrümmerte sie einen Teller mit Versace-Emblem auf dem Küchenboden. Sie fühlte sich nackt, nein schlimmer: wie gehäutet.

Selbst die Nachricht auf dem Anrufbeantworter, den sie gerade abhörte, schien sie zu verhöhnen:

Miss Bailor? Hier ist Detective Flimms. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass unsere Spezialisten keinerlei Hinweise auf eine Manipulation an ihrem Föhn finden konnten. Es war ein ganz einfacher Kurzschluss.” Er klang so, als wäre ihre Vermutung das Lächerlichste gewesen, was ihm in dieser Woche untergekommen war.

Als kurz darauf das Telefon klingelte, hob sie automatisch ab.

Belle-Darling!” Das war Jonathan. Es tut mir wirklich schrecklich leid, dass ich nicht da war, als du kamst! Eve hat mir erzählt, dass du dich sehr merkwürdig benommen hast. Du hast seltsame Fragen gestellt? Ist denn alles in Ordnung bei dir? Gehst du noch zu diesem Therapeuten ? Du weißt, Mum hatte auch solche Phasen, und ihre Krankheit könnte erblich sein ...”

Hast du den Auftrag erteilt, mich umzubringen?”, fiel sie ihm ins Wort.

Einen Moment herrschte Stille, dann stieß Jonathan ein kurzes Lachen aus. „Belle! Ich bitte dich! Was soll das? Hör zu, Liebes, ich weiß, dass du diese Schwäche von Mum geerbt hast. Deshalb reagiere ich jetzt auch nicht so, wie ich normalerweise auf eine so ungeheuerliche Unterstellung reagieren würde! Rufe sofort diesen Dr. Oppel an, oder ich tue es für dich! Er soll dir andere Tabletten verschreiben! Belle, ich bin wirklich sehr besorgt um dich ...” Seine Stimme war fast hypnotisch.

Sie legte einfach auf und brach in Tränen aus.

War sie denn paranoid ? Bildete sie sich alles nur ein? Sie rieb sich mit beiden Händen die wunden, geröteten Augen. Entstammte dieses Szenario ihrer Hysterie und ihrer übersteigerten Angst vor Betrug und Lüge?

Sie schob die Verandatür auf und lehnte sich ans Geländer. Die Sonne, die hinter den Bergen unterging, warf nur noch ein schwaches, rosafarbenes Licht auf die Wolken über dem Meer. Als Silhouette am Horizont erkannte sie ein Frachtschiff. Die Vögel in den Bäumen sangen die letzten Melodien dieses Tages. Der Butcher Bird war wieder in der Nähe. Noch immer lockte er Vögel an, die nichts ahnend und neugierig den Urheber des verführerischen Gesangs suchten. Sie wusste nicht, was sie tun, denken oder fühlen sollte, sie wusste nicht, wem sie vertrauen konnte. Was war die Wahrheit?

Todesriff
titlepage.xhtml
part0000_split_000.html
part0000_split_001.html
part0000_split_002.html
part0000_split_003.html
part0000_split_004.html
part0000_split_005.html
part0000_split_006.html
part0000_split_007.html
part0000_split_008.html
part0000_split_009.html
part0000_split_010.html
part0000_split_011.html
part0000_split_012.html
part0000_split_013.html
part0000_split_014.html
part0000_split_015.html
part0000_split_016.html
part0000_split_017.html
part0000_split_018.html
part0000_split_019.html
part0000_split_020.html
part0000_split_021.html
part0000_split_022.html
part0000_split_023.html
part0000_split_024.html
part0000_split_025.html
part0000_split_026.html
part0000_split_027.html
part0000_split_028.html
part0000_split_029.html
part0000_split_030.html
part0000_split_031.html
part0000_split_032.html
part0000_split_033.html
part0000_split_034.html
part0000_split_035.html
part0000_split_036.html
part0000_split_037.html
part0000_split_038.html
part0000_split_039.html
part0000_split_040.html
part0000_split_041.html
part0000_split_042.html
part0000_split_043.html
part0000_split_044.html
part0000_split_045.html
part0000_split_046.html
part0000_split_047.html
part0000_split_048.html
part0000_split_049.html
part0000_split_050.html
part0000_split_051.html
part0000_split_052.html
part0000_split_053.html
part0000_split_054.html
part0000_split_055.html
part0000_split_056.html
part0000_split_057.html
part0000_split_058.html
part0000_split_059.html
part0000_split_060.html
part0000_split_061.html
part0000_split_062.html
part0000_split_063.html
part0000_split_064.html
part0000_split_065.html
part0000_split_066.html
part0000_split_067.html
part0000_split_068.html
part0000_split_069.html
part0000_split_070.html
part0000_split_071.html
part0000_split_072.html
part0000_split_073.html
part0000_split_074.html
part0000_split_075.html
part0000_split_076.html
part0000_split_077.html
part0000_split_078.html
part0000_split_079.html
part0000_split_080.html
part0000_split_081.html
part0000_split_082.html
part0000_split_083.html
part0000_split_084.html
part0000_split_085.html
part0000_split_086.html
part0000_split_087.html
part0000_split_088.html
part0000_split_089.html
part0000_split_090.html
part0000_split_091.html
part0000_split_092.html
part0000_split_093.html
part0000_split_094.html
part0000_split_095.html
part0000_split_096.html
part0000_split_097.html
part0000_split_098.html
part0000_split_099.html
part0000_split_100.html
part0000_split_101.html
part0000_split_102.html
part0000_split_103.html
part0000_split_104.html
part0000_split_105.html
part0000_split_106.html
part0000_split_107.html
part0000_split_108.html
part0000_split_109.html