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In Annabels Briefkasten steckte ein Brief von Greg. Er schrieb nie Briefe. All die Jahre, seitdem sie sich an der Uni in Cairns kennen gelernt hatten, hatte sie nur einmal einen Brief von ihm erhalten. Damals hatte er ihr aus Melbourne geschrieben - einen Liebesbrief, den sie nie beantwortet hatte. Annabel faltete den Brief auseinander.
Liebe Annabel,
ich habe alles versucht, um dich zu warnen – und um dich zu beschützen. Aber du willst es offensichtlich nicht. Ich habe begriffen, dass ich dir nicht so viel bedeute wie du mir bedeutest. Diese Erkenntnis trifft mich sehr, aber ich muss sie akzeptieren. Ich wünsche dir alles Gute. Sei vorsichtig und pass auch dich auf. Ein letztes Mal warne ich dich vor Steve. Lass dich nicht auf ihn ein.
Ab jetzt werde ich dich nicht mehr belästigen.
Leb wohl,
Greg
Sie konnte sich seinen Gesichtsausdruck vorstellen, wenn sie ihm eröffnen würde, was sie gerade von Steve erfahren hatte und dass sie beschlossen hatte, ihn beim nächsten Zusammentreffen bei der Polizei anzuzeigen. Wütend zertrümmerte sie einen Teller mit Versace-Emblem auf dem Küchenboden. Sie fühlte sich nackt, nein schlimmer: wie gehäutet.
Selbst die Nachricht auf dem Anrufbeantworter, den sie gerade abhörte, schien sie zu verhöhnen:
„Miss Bailor? Hier ist Detective Flimms. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass unsere Spezialisten keinerlei Hinweise auf eine Manipulation an ihrem Föhn finden konnten. Es war ein ganz einfacher Kurzschluss.” Er klang so, als wäre ihre Vermutung das Lächerlichste gewesen, was ihm in dieser Woche untergekommen war.
Als kurz darauf das Telefon klingelte, hob sie automatisch ab.
„Belle-Darling!” Das war Jonathan. „Es tut mir wirklich schrecklich leid, dass ich nicht da war, als du kamst! Eve hat mir erzählt, dass du dich sehr merkwürdig benommen hast. Du hast seltsame Fragen gestellt? Ist denn alles in Ordnung bei dir? Gehst du noch zu diesem Therapeuten ? Du weißt, Mum hatte auch solche Phasen, und ihre Krankheit könnte erblich sein ...”
„Hast du den Auftrag erteilt, mich umzubringen?”, fiel sie ihm ins Wort.
Einen Moment herrschte Stille, dann stieß Jonathan ein kurzes Lachen aus. „Belle! Ich bitte dich! Was soll das? Hör zu, Liebes, ich weiß, dass du diese Schwäche von Mum geerbt hast. Deshalb reagiere ich jetzt auch nicht so, wie ich normalerweise auf eine so ungeheuerliche Unterstellung reagieren würde! Rufe sofort diesen Dr. Oppel an, oder ich tue es für dich! Er soll dir andere Tabletten verschreiben! Belle, ich bin wirklich sehr besorgt um dich ...” Seine Stimme war fast hypnotisch.
Sie legte einfach auf und brach in Tränen aus.
War sie denn paranoid ? Bildete sie sich alles nur ein? Sie rieb sich mit beiden Händen die wunden, geröteten Augen. Entstammte dieses Szenario ihrer Hysterie und ihrer übersteigerten Angst vor Betrug und Lüge?
Sie schob die Verandatür auf und lehnte sich ans Geländer. Die Sonne, die hinter den Bergen unterging, warf nur noch ein schwaches, rosafarbenes Licht auf die Wolken über dem Meer. Als Silhouette am Horizont erkannte sie ein Frachtschiff. Die Vögel in den Bäumen sangen die letzten Melodien dieses Tages. Der Butcher Bird war wieder in der Nähe. Noch immer lockte er Vögel an, die nichts ahnend und neugierig den Urheber des verführerischen Gesangs suchten. Sie wusste nicht, was sie tun, denken oder fühlen sollte, sie wusste nicht, wem sie vertrauen konnte. Was war die Wahrheit?