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Shane sah mit weit geöffneten Augen und zusammengebissenen Zähnen in die Dunkelheit . Der Pilot schnarchte in einem tiefen Sessel; der Mann an der Rezeption hatte sich in sein kleines Büro zurückgezogen, schlief dort oder sah fern. Irgendwo tickte eine Uhr. Manchmal hörte Shane eine Wasserspülung und Schritte aus den Zimmern im ersten Stock. Seine Lider waren schwer wie Blei. Der Rücken tat ihm vom stundenlangen Sitzen auf dem durchgesessenen Sessel bereits weh. Er hatte Durst, aber allein die Vorstellung, etwas zu sich zu nehmen, verursachte ihm Übelkeit. Eine grausame Stimme höhnte: Du allein bist schuld , wenn den beiden etwas passiert. Mit dieser Schuld würde er nicht mehr leben können.
Er dachte an Christina, seine Schwester. Noch immer hatte er nicht verstanden, warum sie sich entschlossen hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Und er dachte an seinen Großvater, der eines Tages aus dem Haus gegangen und nie wieder zurückgekehrt war. Irgendwann hatte seine Frau erfahren, dass er sich an der wenig besiedelten Küste Westaustraliens einen Caravan an den Strand gestellt habe, fischte und nicht mehr als das Allernötigste mit anderen Menschen sprach. Erst Monate nach seinem Tod fand man seine Leiche. Shanes Vater lebte in einer Strandhütte auf Fraser Island, fischte und redete etwas mehr. Hin und wieder besuchte Shane ihn sogar. Er fragte sich, an welchen Strand er selbst wohl eines Tages fliehen würde.
In dem Augenblick drang ein Geräusch an sein Ohr, das er zunächst nicht einordnen konnte. Es näherte sich. Jetzt wusste er, was es war. Er sprang auf und stürzte hinaus ins Freie. Trotz der Dunkelheit sah er, dass auf dem Parkplatz hinter dem Haus Autotüren geöffnet wurden. Er begann zu laufen. Nach zwanzig Metern etwa glaubte er, Kims Profil im Gegenlicht der Innenbeleuchtung des Wagens zu erkennen.
„Kim? Pam?” Er keuchte, l ehnte sich gegen den Wagen .
„Um Himmels willen! Was soll das denn?”
Kein Zweifel, es war Kims gereizte Stimme. Und es war das erste Mal seit langem, dass Shane sich nicht darüber ärgerte.
„Dad?”, rief Pam. Beide standen nun vor ihm und starrten ihn befremdet an. „Dad! Was machst du mit meinem Tennis-Shirt?”
Jetzt erst fiel ihm auf, dass er noch immer Pams T-Shirt in der Hand hielt. Er reichte es ihr, zerknüllt. „Wo zum Teufel habt ihr euch rumgetrieben?”
„Wieso schreist du uns an!”, Kim schüttelte den Kopf. „Und überhaupt, was machst du eigentlich hier? Stehen wir etwa auf deiner Fahndungsliste, dass du dich so aufführst?”
„Ihr seid nicht bedroht worden ?”
„Bedroht? Vom Schnabeltier vielleicht? Mein Gott, Shane, wovon redest du überhaupt?“, fragte Kim, “Shane, bist du sicher, dass bei dir alles in Ordnung ist?”
„Ich ...“ Er stotterte und kam nicht weiter.
„Shane, entweder kommst du jetzt mit rein und trinkst meinetwegen einen Whisky, und erklärst uns alles oder du gehst und lässt uns mit deinem verrückten Getue in Ruhe! Pam und ich sind hundemüde. Wir hatten eine Autopanne und mussten in einem wirklich miesen Motel übernachten .”
„Ich fand es geil dort!”, meinte Pam und hakte sich bei Shane ein. „Und, Dad, stell dir vor, das Beste: Wir haben ein paar dieser süßen Schnabeltiere gesehen! Mum, du musst zugeben, die waren niedlich, wie sie ins Wasser getaucht sind! Aber ich hab sie mir immer viel größer vorgestellt. Dad, hast du schon mal eins gesehen, ich meine, in freier Natur?”
Den doppelten Whisky schüttete er in einem Zug hinunter, versuchte dann, so knapp wie möglich zu erklären, was ihn hergeführt hatte.
Wenig später dröhnten die Rotorblätter, dann hoben die Kufen vom Gras ab. Zehn Minuten später schwebte der Helikopter über das Chalet hinweg.
Er hätte Weinheimer umgebracht, wenn den beiden etwas passiert wäre ...