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Er hieß Lutz Weinheimer. Die Überwachungskamera zeigte einen hageren Mann mit dunklem Haar und Vollbart, einer langen, ausgeprägten Nase und tief liegenden Augen. Vor zwei Tagen um zehn Uhr zwölf hatte der Mann an dem besagten Geldautomaten mit einer auf diesen Namen ausgestellten Visa-Kreditkarte vierhundert Australische Dollar von einem Konto bei der Dresdner Bank in Offenbach, Deutschland, abgehoben. Der hinzugezogene Sanitäter bestätigte noch einmal, dass es sich bei der Person, die die Überwachungskamera aufgenommen hatte, um den Mann handelte, der bei Coles zusammengebrochen war.
„Sehen Sie! Die Uhr!”
Der Mann trug am rechten Handgelenk eine große Sportuhr. Für einen Moment musste Shane an Jürgen Amann denken, dessen Casio-Uhr ihm aufgefallen war. Aber der Mann auf diesen Bildern war hundertprozentig nicht Jürgen Amann, obwohl er einen ähnlich krausen Bart hatte – und eine gewisse Ähnlichkeit.
„Er ist Linkshänder!”, stellte Tamara fest.
Tatsächlich schob der Mann die Kreditkarte zwar mit der rechten Hand in den Schlitz, da dieser sich oben rechts befand, doch die Tastenkombination gab er mit der linken ein. Sofort ordnete Shane an, alle Autovermietungen sowie Interpol und das australische Immigration Bureau nach dem Namen Lutz Weinheimer abzufragen.
Ein Mitarbeiter der Firma Hertz meldete sich kurz darauf und bestätigte, vor drei Wochen am International Airport in Brisbane einen silberfarbenen Honda Accord mit dem Kennzeichen QKG 271 an einen Kunden namens Lutz Weinheimer vermietet zu haben.
„Endlich!”, rief Tamara. „Jetzt haben wir ihn fast !”
Shane leitete eine Fahndung nach diesem Wagen ein und gab die Nummern an die Zentrale weiter.
Wenn Weinheimer sich auf den Hauptstraßen fortbewegte, würde man ihn bald gefunden haben. Was aber, wenn er abgelegene Wege durch den Busch nahm oder das Auto schon längst irgendwo abgestellt hatte? Vielleicht hatte Weinheimer den Wagen ja auch in einem Fluss oder einem Wasserloch verschwinden lassen, um jede Spur zu verwischen.
Und dann kam Detective Helmer mit der Nachricht von Interpol .
„Verdammt”, murmelte Tamara, „er ist einer von uns!”
Lutz Weinheimer, neunzehnhunderteinundsechzig in Fulda geboren, hatte von dreiundachtzig bis sechsundachtzig die Po liz eischule besucht. Hier stutzte Shane. Tamara, die mitgelesen hatte, hielt auch inne.
„Goran Hentschel war doch Soldat und Polizist, oder?”
Rasch waren die Daten Hentschels im Computerfile wieder aufgerufen. Goran Hentschel und Lutz Weinheimer hatten dieselbe Polizeischule in Hessen besucht. Sollte das nur ein Zufall sein? Shane war zu lange Polizist, um an Zufälle zu glauben.
Lutz Weinheimer war von Oktober neunzehnhundertneunundneunzig bis Juni zweitausendeins als Polizist im Einsatz bei der UNMIK, der United Nations Mission in Kosovo in Pristina, gewesen, einer von rund dreitausend Polizisten eines internationalen Polizeikontingents. Im Auftrag der UN versuchten sie, im Kosovo für Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Dort wurde er in einen Hinterhalt gelockt und schwer verwundet, Durchschuss der Wange; seine Dolmetscherin starb. Näheres über den Zwischenfall war nicht bekannt. Weinheimer wurde anschließend psychologisch betreut.
„Durchschuss der Wange”, wiederholte Tamara, „seltsame Verletzung.”
Shane versuchte sich vorzustellen, wie haarscharf die Kugel ihr Ziel verfehlt haben musste.
„Er hat wahnsinniges Glück gehabt. Sonst wäre er tot .“ Tamara nippte an ihrem Wasser, das die Sekretärin gebracht hatte.
Shane sortierte einen Augenblick lang seine Gedanken. Sie haben drei Soldaten an die Wand gestellt und zuerst den, der ganz links steht, erschossen. Als dies passiert, dreht der mittlere seinen Kopf, weil neben ihm sein Kamerad zu Boden geht - und im selben Moment feuert man auf ihn. Er fällt vornüber aufs Gesicht ... und erwacht Stunden später mit durchschossener Wange. Das Fallen auf die Wange verhindert das Verbluten, und der Mann überlebt. Aber die Mitglieder des Exekutionskommandos sind davon überzeugt gewesen, er sei tot.
Die Geschichte hatte ihm einmal ein Holländer erzählt, der im Zweiten Weltkrieg die Invasion der Japaner in Java miterlebt hatte.
Könnte Weinheimer als UN-Polizist im Kosovo Hentschel von der Polizeischule wiedergetroffen haben? Diesmal aber stehen sie auf verschiedenen Seiten ... Goran Hentschel, Söldner der UCK-Untergruppe Skanderbeg, verübt Bombenattentate, sprengt Brücken und Menschen in die Luft. Vielleicht will Weinheimer Hentschel etwas nachweisen, vielleicht weiß er, dass er für bestimmte Bombenattentate verantwortlich ist – und Hentschel verhindert das, indem er Weinheimer erschießen will. Doch der überlebt. Weinheimer rächt sich ...
„Dann sind da aber noch ...“ fing Tamara an.
„Warte ... Weinheimers Dolmetscherin ist umgekommen, ja?“
„Ja“, sagte Tamara und überflog noch mal die Information.
„Ob sie auch eine Uniform getragen hat?“, überlegte Shane. Ihm war da so ein Gedanke gekommen.
„Möglich ...“, meinte Tamara stirnrunzelnd. „Worauf willst du hinaus?“
„Die Frau auf dem Foto, das bei den Toten hinterlassen worden ist ...”, überlegte Shane ...
„... könnte sie gewesen sein?”, fiel ihm Tamara ins Wort. Shane nickte.
„Vorausgesetzt, der Mann, der neben ihr steht, ist Weinheimer und kein anderer“, fuhr Tamara fort. „Wir haben bisher lediglich eine Hand von diesem Mann auf dem Foto.”
“Ja”, sagte Shane gedankenverloren. Er rief die Fotos auf, die bisher in diesem Fall aufgetaucht waren. Lutz Weinheimer, der ehemalige Uno-Polizist, war auf einem Rachefeldzug? War das möglich?
„Ich will das Überwachungsvideo vom Geldautomaten noch einmal sehen, Tamara.”
Sie nickte, legte es ein.
“Halt!”, rief er und zeigte auf den Bildschirm. Sie war nur kurz zu sehen: in dem Moment, in dem Weinheimer die Karte in den Schlitz des Geldautomaten steckte, der für Rechtshänder ausgerichtet war.
„Die Uhr!” Shane stand auf und kehrte mit dem Ausdruck des Fotos zurück, das die Soldatin mit der Kalaschnikow zeigte. Es bestand kein Zweifel: An ihrem Handgelenk prangte die gleiche klobige Uhr.
„Solche Uhren gibt es zwar in jedem Supermarkt”, räumte er ein, „aber ich gehe davon aus, dass es sich in diesem Fall um ein und dieselbe handelt.”
Tamara dachte einen Augenblick nach, dann stand sie auf und kam mit dem Bild aus den beiden zusammengesetzten Fotoschnipseln zurück.
„Sieh dir nun das an.” Sie hielt das zusammengesetzte Bild neben das der Soldatin.
„Die Füße! Guck mal, wie sie steht: den rechten Fuß ein wenig auf der Außenkante belastend ...”
„Das könnte auch nur eine Ähnlichkeit sein.” Sie stand dicht bei ihm und e r roch den leicht süßen Duft ihrer Haut. Sie deutete auf den bräunlichen Streifen am ausgerissenen inneren Teil des Fotoschnipsels.
„Und?”, fragte sie. „Was meinst du? Könnte das da nicht eine Haarsträhne dieser Frau sein? Shane, es ist so ein Gefühl, aber ich wette, es ist dieselbe Frau.”