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Die Panik, die Shane seit Marlowes Anruf erfasst hatte, steigerte sich.
„Shane”, hatte Marlowe begonnen, „hast du vor kurzem mit Kim oder Pamela telefoniert? Weißt du, wo sie sich aufhalten?”
Shane war sofort alarmiert . „Was soll die Frage, Al? “
„Shane, hast du mit ihnen gesprochen , ja oder nein ?”
„Ich hab versucht, sie zu erreichen, ja, aber es hat sich niemand gemeldet.”
„Wann war das?”, wollte Al wissen.
„Al, was ist los?”
Al zögerte einen winzigen Moment . „Die Presseabteilung hat eine E-Mail bekommen, die für dich bestimmt ist.”
„Und weiter ?”
„Sieh sie dir an. Ich hab sie dir gemailt. Wir forschen nach dem Absender.”
Als das Foto auf dem Bildschirm erschien, hörte die Welt auf, sich zu drehen. In einem Gebüsch lagen eine tote Frau und ein Mädchen, die Köpfe blutverschmiert. Darunter stand der Text:
Detective Shane O’Connor, Sie wollen doch sicher nicht dass ihre Tochter und die Mutter so enden. Versuchen Sie mich also nicht aufzuhalten.
Der Absender: eine siebenstellige eMail-Adresse. Jetzt war Shane klar, warum Al nach Kim und Pamela gefragt hatte. Als er zu Telefon griff, merkte er, dass er zitterte.
„Shane, was ist los?”, wollte Tamara wissen. Sie beugte sich über ihn und starrte das Foto an. „Oh, mein Gott! Meinst du ... meinst du, er hat etwas mit Kim und Pam ...”
„Ich weiß es nicht . ” Im Stillen musste er sich jedoch eingestehen, dass er befürchtete, den beiden sei etwas zugestoßen. Die Möglichkeit breitete sich immer mehr in ihm aus, wurde fast zur Gewissheit. Seit Tagen schon hatte er Pam und Kim nicht erreichen können. Im Motel hatte es geheißen, dass sie vorzeitig abgereist seien.
„Aber woher weiß er, wie du heißt? Woher kennt er die Namen deiner Ex-Frau und deiner Tochter sowie deine E-Mail-Adresse?”, fragte Tamara.
„Das ist doch kinderleicht!”, Shane riss sich die Halskrause herunter. Er schleuderte sie in eine Ecke des Zimmers. „Mein Name war in den Zeitungen zu lesen, er wurde bei diesem Fernseh-Interview in der Lodge erwähnt ... Wahrscheinlich hat dieser Kerl in der Presseabteilung oder sonst wo nachgefragt, was weiß ich!” Er versuchte erneut Kims Handy anzurufen, aber es schaltete sich bloß die Mobilbox ein.
„Vielleicht blufft er einfach!“, sagte Tamara grübelnd.
Flimms war leise hinzugekommen, und Tamara zeigte auf den Bildschirm, auf dem noch immer die drohenden Sätze und das blutige Foto zu sehen waren.
„Flimms, was ist mit den Leuten an der Fähre? Haben die ihn immer noch nicht gefunden?”
Flimms schluckt e.
„Er muss sich irgendwo versteckt haben.”
„Es ist nicht zu fassen! Er v erschwindet einfach spurlos! Was ist mit den Straßensperren?”
„Die stehen. Da kommt er nicht durch.” Flimms spitzte nervös den Mund.
„Es sei denn, er fährt inzwischen ein anderes Auto”, gab Tamara zu bedenken .
„Und was ist jetzt mit Kuranda?”, fragte Flimms vorsichtig.
„Die Kollegen vor Ort sollen Annabel Bailor und ihren Begleiter in Gewahrsam nehmen!“
Weder der Anruf im Motel noch der bei einer Freundin von Kim ergab etwas Aufschlussreiches. Die beiden hatten vor zwei Tagen ausgecheckt und schienen danach verschwunden.
Shane beauftragte Kollegen, sich in allen im Umkreis von dreihundert Kilometern gelegenen Lodges, Motels und Bed&Breakfast-Unterkünften nach Kim und Pam zu erkundigen. Die Gegend war bei Touristen sehr beliebt, und es gab entsprechend viele Übernachtungsmöglichkeiten. Als Reiseroute bot sich nicht nur die Küste hinauf bis nach Cooktown an. Interessant war vor allem der im Hinterland gelegene Regenwald beziehungsweise dessen Reste, die die Holzindustrie noch nicht für sich hatte beanspruchen können, da sie in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen worden waren und so unter einem speziellen Schutz standen.
„Möchtest du einen Hamburger, einen Kaffee?” Tamara setzte ein Tablett vor ihm ab.
Shane schüttelte den Kopf.
„Wir krieg en den Kerl. Ganz sicher.” Sie biss in den Hamburger. “Entschuldige”, sagte sie mit vollem Mund, “aber ich muss in solchen Momenten etwas Fettiges, Schweres und Ungesundes essen. Beruhigt irgendwie meine Nerven.”
Er winkte ab. Ihm wurde schon beim Anblick von Essen übel. Ihn plagte sein Gewissen. Wenn er Al Marlowes Bitte abgeschlagen und darauf bestanden hätte, seinen Urlaub in Cairns fortzusetzen - Jacks Unfall hin oder her -, dann wäre es nicht so weit gekommen. Er wäre bei Kim und Pam gewesen und in den Medien nie in Verbindung mit Weinheimer aufgetaucht. Jack hätte den Fall bearbeitet. Doch er war ja froh gewesen, den Urlaub abbrechen zu können ... Und damit hatte alles begonnen.
Er sah durch die schmalen Schlitze zwischen den Rollo-Lamellen auf die nächtlich beleuchtete Straße. Autos fuhren vorbei, Touristen in gemieteten Campermobilen, sicher auf dem Weg zum Cape Tribulation oder noch weiter hinauf nach Cooktown und auf die York Peninsula. Vielleicht befanden sie sich auch schon wieder Richtung Flughafen Cairns. Palmen wehten im Wind. Manche behaupteten, hier sei das Paradies. A uf dem Bildschirm flackerte noch immer Weinheimers Bild .
Detective Shane O’Connor, Sie wollen doch sicher nicht dass ihre Tochter und die Mutter so enden. Versuchen Sie mich also nicht aufzuhalten.
War es nicht seltsam, dass er gerade noch für Weinheimer Verständnis gehabt hatte? Jetzt hingegen war Shane zu allem bereit.