4
Endlich Stille. Nur das Blubbern der Luftblasen aus ihrem zweistufigen Atemregler. Annabel verdrängte die Bedenken wegen des Bootes und atmete ruhig und gleichmäßig. Im Gegenlicht, das wie der Kegel einer gleißenden OP-Lampe durch die Wasseroberfläche fiel, sah sie den Kiel ihrer Yacht. Unter ihr tauchte Greg. Silbrige Luftblasen stiegen vor seinem Gesicht auf. Nicht mehr weit war es nun zu dieser anderen Welt, in der sie, sooft sie auch kommen würde, stets nur Gast für ein paar Minuten sein würde. Sie sank langsam ab, kontrollierte auf ihrem Tauchcomputer die korrekte Sinkgeschwindigkeit und ließ behutsam Luft aus ihrer Taucherweste entweichen.
Schon schimmerte unter ihr der weiße Korallensand, in den die Bewegung des Wassers Wellen formte. Schon konnte sie das Korallenriff erkennen. Dicklippige Teller, die auf langen, wogenden Stielen balancierten, wehrhafte Hirschgeweihe mit samtiger Haut, schreckhafte Ästchen mit spitzen Haken, aufgeblähte Schwämme, einladend wie Ruhekissen, fleischige Röhren, orgelpfeifenartig aufgereiht. Und sie, Annabel, ein gummiumhüllter Aquanaut mit Froschfüßen, dürrem Atemrüssel und einer metallenen Lunge auf dem Rücken. Sie hatten Luft für zwanzig Minuten. Greg signalisierte sein Okay und sie schwammen los, an der steilen Wand des Riffs entlang, das anderthalb Stunden Bootsfahrt von der Küste entfernt lag und noch zum inneren Teil des Great Barrier Reefs gehörte. Zitronengelbe Korallenfische huschten vorbei, ein Fledermausfisch - silbrig grau, flach und dreieckig, ein blau-türkisfarbener Doktorfisch, schabte an einer Koralle, seine Hauptnahrung – Algen - ab. Zwischen die Tentakeln einer wie ein Busch im Wind wogenden Anemone floh ein gelb, türkis und blau quer gestreifter Clownfisch. Annabel hatte es schon erlebt, dass solch ein nur handgroßer Clownfisch sogar Taucher angriff, die seiner Anemone zu nahe kamen. Es wimmelte zwischen den Korallen und an den Abhängen des Riffs von Fischen. Fast jede Art hatte ihre ganz spezielle Nische, ihren Ort, an dem sie sich vorwiegend aufhielt, weil sie dort ihre Nahrung fand. Annabel streifte beinahe einen Papageifisch, sicher einen halben Meter lang, türkis-rosa und mit kräftigem Gebiss, der Korallenstücke abbiss und zermalmte. In einer Staubwolke schied er das zerriebene Korallengestein aus, das vielleicht irgendwo ein Stück eines perlenweißen tropischen Sandstrandes bilden würde.
Ein paar kleine Lippfische, längliche Federn fast, tauchten vor Annabel und Greg auf und verschwanden wieder. Manche Arten von ihnen arbeiteten als so genannte “Putzer”. Sie fraßen größeren Fischen die Parasiten ab, schwammen sogar in deren Maul und wieder hinaus. Durch bestimmte Tänze signalisierten sie ihre Funktion. Allerdings gab es auch Schleimfische, die den Putzer-Fischen sehr ähnelten und sich als solche ausgaben, um dann ihren Kunden, die sie nahe an sich heranließen, ein Stück Fleisch herauszureißen und sich davonzumachen.
Greg stieß sie an, deutete aufgeregt nach vorn. Annabel erschrak vor der dunklen Masse, die da auf sie zutrieb. Für einen Moment dachte sie an das gewaltige Maul eines Walhaies, aber das war nicht das richtige Gewässer für ihn. Dann erkannte sie, dass es ein braun gefleckter Zackenbarsch war, länger als sie und sicher dreimal so schwer. Im selben Augenblick, in dem sie ihn erkannte, färbte sich sein gewaltiger Leib hellgrau, und es bildeten sich helle und dunkle Streifen. Und schon verschluckte ihn die blaue Tiefe.
Sie erreichten die Stelle, an der der Korallenfelsen senkrecht in einen dunklen Abgrund abfiel. Das Wasser wurde plötzlich kalt. Annabels Tauchcomputer zeigte an, dass sie bereits seit dreizehn Minuten unten waren. Laut Finimeter enthielt ihre Pressluftflasche noch einen Rest von fünfundfünfzig Bar. Sie sollten sich auf den Rückweg begeben. Sie signalisierte Aufstieg,. Greg nickte und folgte ihr. Sie verglich auf dem Kompass, dem neben Finimeter und Tiefenmesser dritten Gerät ihrer Tauchcomputerkonsole, die Schwimmrichtung mit der eingestellten Peilrichtung.
Als sie wie geplant am Verankerungsseil der Boje angelangt war, ließ sie etwas Luft in die Kammern der Taucherweste, um sich hinauftreiben zu lassen. In dem Moment vernahm sie ein bekanntes Geräusch. Ein Schiffsmotor. Da erkannte sie über sich den Schatten ihres eigenen Bootes und nicht weit davon entfernt, ja, viel zu nah, ein sich auf ihre Yacht zubewegendes kleineres Boot. Was geschah da oben? Schnell sah sie nach unten zu Greg, um ihm die Gefahr zu signalisieren, als sie erschrak. Hinter Greg, der sich etwa vier Körperlängen unter ihr befand, schwammen drei Tigerhaie. Keine Riffhaie, die meist ruhig durch ihr Revier patrouillierten, sondern aggressivere Tigerhaie, und sie hielten weiter Kurs auf Greg. Greg hatte sie auch bemerkt.
Normalerweise versetzten Haie sie nicht in Angst, aber irgendetwas stimmte nicht. Sie merkte, wie sie schneller aufstieg, und wie sie sich zwingen musste, weiter gleichmäßig und ruhig zu atmen. Nur noch wenige Meter bis zur Oberfläche, durch die die Sonne wie ein großer, ovaler Spiegel aussah. Als sie wieder nach unten sah, stockte ihr der Atem. Die dunklen Umrisse der drei Haie zeichneten sich gegen den hellen Korallensand ab, und Greg geriet in Panik. An den aufsteigenden Luftblasen erkannte sie seine schneller werdende Atmung. Und plötzlich durchfuhr die Haie etwas wie ein elektrischer Schlag - sie stießen auf etwas zu, rissen daran, eine Wolke aus Blut breitete sich aus. Greg!, wollte sie schreien, doch der Atemregler steckte in ihrem Mund. Da stieg Greg aus dem blutigen Nebel auf, er hatte seinen Bleigürtel abgeworfen und war fast bei ihr; sie streckte den Arm nach oben und durchstieß die Wasseroberfläche unmittelbar neben dem fremden Boot. Durch die Plastikscheibe der Taucherbrille verzerrt, erkannte sie auf dem Boot einen Mann, der mit einer Waffe auf sie zielte. Im selben Augenblick tauchte Greg auf und riss sich Brille und Atemregler herunter. Reflexartig hatte Annabel den Arm zum Bootsrand ausgestreckt. Kaum hatte sie den Bootsrand berührt, als hinter Greg eine Flosse die Wasseroberfläche durchschnitt.
“Schieß! Schieß! Schieß!”, schrie Annabel. Dann hörte sie einen donnernden Knall, das Klatschen von einem sich windenden Lebewesen im Wasser. Zuletzt nahm sie eine aufschießende Blutfontäne wahr. Dann nichts mehr.