45
Nach zehnminütiger Fahrt bog Annabel von der Port Douglas Road in die Langley Road ab, die nach einer Rechtsbiegung in die Reef Street überging. Vor der Einfahrt zum Campingplatz stellte sie ihren Wagen ab und eilte auf demselben Weg wie am Vormittag zum Wohnwagen. Vielleicht war die Polizei ja schon dort gewesen und hatte Steve und Nick nicht angetroffen. Sie musste mit Steve reden . Es war falsch, dass sie ihn verraten hatte. Hoffentlich finde ich ihn, dachte sie.
Doch sie durchs Fenster in den Wohnwagen sah, bot sich ihr dasselbe chaotische Bild wie am Vormittag. Auch die Tür schien in der Zwischenzeit nicht geöffnet worden zu sein.
„Hi, Miss, zu wem wollen Sie denn ?” Ein alter, Mann mit kurzen Hosen und zerrupftem Bart stand am benachbarten Wohnwagen.
„Wohnt denn da niemand mehr?”, rief sie zu ihm hinüber. Er musterte sie. „Die Polizei war gerade da, aber war niemand zu Hause.”
„Was wollte die Polizei denn?“
„Die hatten untereinander `ne Schlägerei. Wahrscheinlich deshalb.”
Sie erinnerte sich an Steves Bluterguss am Kinn, als er an ihrem Auto gelehnt und auf sie gewartet hatte.
„Wissen Sie, ob sie wieder zurückkommen?“
Der Mann hob wieder die Schultern. „Da müssen Sie mal Ernestine an der Rezeption fragen.” Er kümmerte sich nicht weiter um Annabel, zog ein Sixpack Bier aus einer Klappe außen am Wohnwagen und ging wieder rein.
Ernestine schien sich entweder nicht an sie zu erinnern oder verhielt sich immer so unpersönlich. Jedenfalls ließ sie nicht erkennen, dass sie Annabel am Morgen schon gesehen hatte. Ja, die beiden Männer hätten den Wohnwagen noch gemietet. Dann sah sie Annabel skeptisch an. “Die Polizei hat auch schon nach ihnen gefragt. Haben die beiden Typen Dreck am Stecken ?” Ernestine zündete sich eine Zigarette an. „Ich hoffe nur, die bezahlen noch!”
Annabel stieg in ihren Wagen und fuhr nach Hause. Dort zog sie aus der Schreibtischschublade das Foto aus dem Wohnwagen. Sie ging barfuß ins Schlafzimmer und nahm aus der Kommode ein paar Fotoalben heraus, setzte sich damit auf den Boden und begann zu blättern.
46
Der Abend im Pub war kurz vor dem Kippen als Tamara nach ein paar Gin Tonic sich zu ihm beugte, ihren Blick in seine Augen tauchte und mit einem gewissen Ton sagte: „Wenn du nicht mein Partner wärst, Shane, wärst du jetzt in höchster Gefahr ...!“
Doch dann stand sie auf, schulterte ihre Tasche und rief sich ein Taxi. Beim Hinausgehen war sie ihm noch einmal gefährlich nahe gekommen, ihm dann aber ein leises „No fuck in factory” zugemurmelt – zumindest hatte es sich für ihn so angehört. Danach war Shane in die Bar zurückgegangen und hatte sich noch einen weiteren Whisky genehmigt. Wieder zu Hause fühlte er sich so wach, dass er sicher war, nicht einschlafen zu können. Er bestellte sich ein Taxi und ließ sich ins Büro fahren.
Es war halb eins in der Nacht, als sich die Aufzugtüren hinter ihm schlossen. Tom McGregor blickte ihn aus dunkel umrandeten Augen erstaunt an.
„Du bist ein bisschen zu früh, Shane. Um genau zu sein: sieben Stunden zu früh.”
Shane ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen.
„Kann ich was von deinem Kaffee haben?”
McGregor schob ihm die Tasse hin. „Ist aber ohne Zucker.”
Shane trank die Tasse aus. „Tom, was fällt dir zu einem auf einem Gewehr sitzenden Adler ein?”
McGregor schüttelte den Kopf. Rätsel waren noch nie seine Sache gewesen. Er war eher der Buchhaltertyp. Er ging methodisch, Schritt für Schritt vor, indem er hieb- und stichfeste Ermittlungshinweise miteinander verknüpfte. Auf Spekulationen oder Bauch-Entscheidungen ließ sich Tom nie ein.
„Keine Ahnung, aber da du nun schon mal hier bist: Der Fahrer des roten Toyota Land Cruiser, Jürgen Amann, ist vor neun Tagen auf dem International Airport in Brisbane gelandet. Allein. Er ist achtundvierzig, geschieden, hat keine Kinder, besitzt in der Schweiz, in Bern eine Firma, die Wachpersonal zur Verfügung stellt.” Er schnäuzte sich. „Verdammte Erkältung!”
„Wachpersonal – so was machen doch oft Ex-Bullen oder Ex-Soldaten.“
McGregor zuckte Schultern. „Und?“
Shane stand auf und ging zur Tür . „Ich weiß auch nicht, aber ich glaube, ich fahr doch besser wieder heim.”
Wenn es ihm gelingen würde, gleich einzuschlafen, blieben ihm noch ganze fünf Stunden bis zum nächsten Arbeitstag, überlegte Shane. Aus Gewohnheit hörte er beim Nachhause kommen noch den Anrufbeantworter ab. Er wunderte sich. Jack hatte ihm eine Nachricht hinterlassen:
„Shane, mir war nie klar, wie gern ich jeden Tag in diesen verdammten Kasten zu euch gehe! Morgen komm ich endlich hier raus. Also, ich hab mich um ein paar Informationen über die Taucher Leonard Griffith und Pete de Vries gekümmert. N eunzehnhundertachtundachtzig wurde das Gebiet am Great Barrier Reef in die Liste der World Heritage Areas aufgenommen . Das bedeutete zunächst nicht viel. Nach wie vor war das Land Freehold Land - jeder Besitzer konnte damit tun und lassen, was er wollte. Erst neunzehnhundertvierundneunzig begann die Regierung mit ihrem Buy-Back-Plan, Land zurückzukaufen, um es zu schützen. Jedenfalls verkaufte ein damaliger Abgeordneter des Parlaments niemand anderem als Pete de Vries das Stück Land - unmittelbar bevor die Regierung es erwerben wollte. Das gab ziemlichen Stunk – keine Ahnung, ob uns das weiterbringt. Wie auch immer, die Nachforschungen und Spekulationen vertreiben mir meine Langeweile. Also, mach ’ s gut, alter Junge .”