25

Annabel blieb abrupt in der Haustür stehen, die sie gerade hatte abschließen wollen, als sie ihn erblickte. Er lehnte an ihrem metallic blauen Ford Mustang. Sofort hatte sie ihn erkannt. An seinem blonden Haar und der Art, wie er dastand .

Hi! Wovor rettest du mich heute?” , sagte sie mit einem kurzen Auflachen.

Er nickte ihr zu. Fahren wir ein Stück.”

Sie zögerte. Wieso sollte sie ihm vertrauen? Gregs Bemerkung kam ihr wieder in Erinnerung. Na und, dachte sie, wenn er gewollt hätte, hätte er sie erschießen – und auch entführen können. Er hat es nicht getan. Also, was war zu befürchten? Als er sich neben sie auf den Beifahrersitz setzte, bemerkte sie an seinem eckigen Kinn einen Bluterguss. Sie zögerte nur kurz, dann startete sie den Motor. Es erschien ihr einfacher, als ihn wieder aussteigen zu lassen - und außerdem, sie war neugierig ... auf ihn.

Der Wagen rollte die palmenumsäumte Straße hinunter zur Hauptstraße.

Du solltest vorsichtig sein”, meinte er plötzlich.

Willst du auf mich aufpassen?” fragte sie ein wenig belustigt.

Er schaute zum Seitenfenster hinaus, ohne zu antworten. Vielleicht lag es an ihrem bisherigen Leben und der Tatsache, dass sie als Sechzehnjährige ihre tote Mutter gefunden hatte, die sich mit Tabletten das Leben genommen hatte, dass sie selten wirkliche Angst verspürte. Jedenfalls kam ihr plötzlich der Gedanke, ein Ausflug mit der Anemone wäre genau Richtige um herauszufinden, wer Steve eigentlich ist – und ob – und was er von ihr will.

Eine halbe Stunde später legte die Anemone ab und nahm Kurs auf ein Korallenriff. Er stand neben ihr am Steuer . Sie fühlte sich ganz anders als mit Greg, dachte sie. Lebendiger irgendwie ... überhaupt alles um sie herum erschien ihr bunter – und intensiver. Ein königsblauer Himmel schien am Horizont in das blaueste aller Meere überzugehen, Sonnenstrahlen glitzerten wie winzige Spiegel auf dem Wasser. Gischt spritzte zischend an die Bordwand, und der Motor blubberte satt. Seemöwen begleiteten sie, und weiter draußen sprangen Delfine. Die Luft roch nach Salz. Obwohl sie die Gegend in- und auswendig kannte, blickte sie immer wieder auf das Radar. Der Meeresboden hier war tückisch mit seinen Tälern und Erhebungen.

Nach etwa einer Stunde Fahrt, stoppte sie die Maschinen. Das Korallenriff lag als türkisblauer Fleck im dunkelblauen Meer vor ihnen. Später, wenn sich das Wasser zurückzog, würden einzelne Korallenspitzen aus der Wasseroberfläche herausragen, und zarter, weißer Schaum würde das Türkis umgeben wie ein Spitzenkragen. Direkt vor ihnen schaukelte eine Boje.

Machst du das Boot da an der Boje fest?”

Steve zog sein weißes T-Shirt über den Kopf. Ihr gefielen die tiefen Kuhlen der Achseln, seine Arme und sein durchtrainierter Oberkörper. Er sprang mit dem Seil ins Wasser.

Sie ließ ihren Blick über das Wasser gleiten. Plötzlich dachte sie an die Haie. Doch unter ihnen schimmerte nur der weiße Sand. Nichts als die sanften Wellen, die an der Außenwand leckten, waren zu hören - und Steves Schwimmbewegungen.

Im Sommer, also schon in sechs bis acht Wochen, zwischen November und Februar, wenn Zyklone vom Korallenmeer hereinfegten, Wogen aufpeitschten und das Wasser mit Schlamm und Schutt trübten, wurden immer wieder einige der kleineren Riffinseln vollständig fortgerissen, Korallen vom Meeresboden gezerrt, zertrümmert und die Bruchstücke irgendwo anders zu Korallenbergen aufgetürmt. Das Riff veränderte sich jede Minute, jeden Tag. Es lebte, und Leben bedeutete Veränderung. War es nicht auch Zeit für sie, ihr Leben zu ändern? War sie es nicht längst schon satt? Sollte sie, nur weil sie enttäuscht worden war, jedes Risiko meiden?

Das Klatschen des Arms auf der Leiter riss sie aus ihren Gedanken .

Das Boot ist fest!”, sagte er und schwang sich aus dem Wasser. Seine Bermudas klebten ihm am Körper.

Er behauptete, nur zweimal mit Pressluft flasche getaucht zu sein.

Ein paar wichtige Regeln vorweg”, begann sie. „Erstens: Man sollte nie allein tauchen. Und zweitens: Man sollte seinem Tauchpartner vollkommen vertrauen können.” Sie blickte ihm dabei in die Augen. Für Sekundenbruchteile befiel sie eine Spur Misstrauen, aber sein kurzes Lächeln fegte es weg.

Er betrachtete sie während sie redete, und sie fragte sich, ob er ihr überhaupt zuhörte. Seine blauen Augen schienen für Momente immer wieder durch sie hindurchzusehen, um sich irgendwo in der Weite über dem Meer zu verlieren. Annabel redete dennoch weiter:

Die wichtigsten Zeichen unter Wasser sind folgende: Okay: Zeigefinger und Daumen berühren sich an den Spitzen.” Sie zeigte mit dem Daumen nach oben. „Das heißt Auftauchen, und Daumen nach unten bedeutet Abtauchen. Ganz einfach.” Sie lächelte.

Und was heißt: Gefahr?”, fragte er und musterte sie .

Da war es wieder, dieses Unheimliche. Aber er hatte Recht, das Zeichen für Gefahr gehörte ebenfalls zu den wichtigsten Zeichen der Unterwassersprache.

Gefahr.” Sie ballte die Faust und hielt sie senkrecht nach oben. „Und da wir gerade dabei sind ...” Annabel drehte die Faust in die Horizontale. „Wenig Luft. Und das da”, sie fuhr sich mit dem Zeigefinger quer über den Hals, das bedeutet: Keine Luft mehr.” Sie bekämpfte einen erneuten Anflug von Misstrauen. „Und jetzt zur Flasche: Alle Flaschen haben ein einfaches Ein/Aus-Ventil mit einem Hochdruck-Sicherheitsventil, das verhindert, dass zu viel Luft eingefüllt wird. Außerdem gibt es auch immer eine O-Ring-Abdichtung zum einstufigen Atemregler. Das sollte man immer überprüfen. Wenn es defekt ist, kann es ziemlich brenzlig werden. Der zweistufige Atemregler ist das Mundstück. Auf dem Manometer kann man sehen, wie viel Druck sich noch in der Flasche befindet. Ach ja, und falls da mal was schief geht, gibt es noch den so genannten Octopus. Das ist ein weiteres Mundstück, das durch einen zusätzlichen Schlauch mit der Flasche verbunden ist. Aber ich glaub, das weißt du alles – und ich hoffe aber, dass wir das nicht brauchen werden.“

Sie zogen die Taucherausrüstung an, kontrollierten noch einmal die einzelnen Schnallen, Ventile und Schläuche.

So, wie du deinen Bleigurt befestigt hast”, erklärte Annabel, „kannst du ihn gar nicht mit der rechten Hand öffnen. Merk dir eins: Der Tauchpartner muss genauso mit der Taucherausrüstung des anderen vertraut sein wie mit der eigenen. Und es ist nun mal so, dass der Gurt grundsätzlich mit der rechten Hand geöffnet werden soll. Stell dir vor, du musst schnellstens auftauchen, weil da ein gefährlicher Fisch ist oder du verletzt bist, du oder der andere. Dann kostet es nur unnötige Zeit, erst herauszufinden, wie man den Bleigurt öffnet.”

Er sah sie an, ohne etwas zu erwidern. Sie dachte an den Angriff der Haie. Greg hatte sich gerettet, indem er blitzschnell den Bleigurt abgeworfen hatte. Annabel schnallte sich die Tauchkonsole um, einen Gurt mit drei Messgeräten: dem Finimeter, das anzeigte, wie viel Luft noch in der Flasche war, dem Tiefenmesser und dem Kompass.

Dann setzten sie Tauchermaske und Schnorchel auf, spuckten in die Scheibe, damit sie nicht beschlug, setzten sich auf die Tauchplattform, zogen die Flossen an, und überprüften noch einmal gegenseitig ihre Ausrüstung und den Luftvorrat. Annabel signalisierte Okay, Steve antwortete mit demselben Zeichen, dann ließ sie sich ins Wasser hinabgleiten, sie drehte sich um und sah, wie er ihr folgte.

Sie tauchte an der Verankerung der Boje entlang ab. Es fiel ihr in der ersten Sekunde auf, in der sie ihn unter Wasser sah: Er konnte tauchen. Jeder Anfänger machte den Fehler, zu kurz auszuatmen und damit zu viel Luft in der Lunge zu behalten. Doch die Luftblasen, die von ihm aufstiegen, entsprachen genau der richtigen Menge. Er war hier unten mit ihr völlig allein, ging es ihr durch den Kopf ...

Die Schönheit der Unterwasserwelt überwältigte sie immer wieder und ließ sie alles andere vergessen. Vor ihnen am Hang des Riffs leuchtete etwas, das wie ein roter Schwamm aussah. Sie zeigte darauf, und Steve nickte. Aber es war kein Schwamm, wie sie gleich erkannte, sondern ein riesengroßer Anglerfisch, ein mindestens dreißig Zentimeter großes Exemplar. Er bewegte sich durch Saugnäpfe fort und hatte eine besonders perfide Jagdtechnik entwickelt. Zwar erweckte er den Anschein, eine ungefährliche Pflanze zu sein, doch über dem kaum erkennbaren Maul hing ein Fortsatz, so etwas wie eine durchsichtige Angelrute. Wenn Beute sich dem Maul näherte, konnte es blitzschnell zuschnappen.

Sie schwammen an einem Clownfisch und einer Anemone vorbei, als sie plötzlich keine Luft mehr bekam. Ein Blick auf das Manometer genügte, um zu wissen, dass sie keinen Sauerstoff mehr in der Flasche hatte. Wo war Steve? Hatte er sie hier unten allein gelassen? Sie brauchte Sauerstoff, und zwar sofort! Sie waren über zwanzig Meter tief! Schon spürte sie, wie ihr schwindlig wurde, wie sich ihr Blick verschleierte und sich alles um sie herum zu drehen begann. Wo war Steve?

Sie konnte nicht mehr denken, sie taumelte - da wurde ihr brutal der Octopus in den Mund gestoßen. Gierig sog sie die Luft ein. Steves Gesicht war unmittelbar vor ihr. Sie atmete Luft aus seiner Flasche. Als sie sich ein wenig erholt hatte, stiegen sie auf. Er schwamm zum Boot voraus. Erst als sie oben auf der Plattform saßen, setzte er die Brille ab, und sie erschrak über seine Augen. Sie waren blutunterlaufen und flackerten. Wortlos wandte er sich ab.

Zitternd untersuchte sie ihre Sauerstoffflasche. Da fiel ihr Blick auf einen feinen Riss im Flaschenventil. Er musste ihr beim Check der Ausrüstung entgangen sein. So etwas war ihr noch nie passiert! Misstrauen gewann an Boden. Vertrauen Sie wieder, Annabel - die Worte ihres Therapeuten hallten in ihren Ohren. Litt sie etwa unter Paranoia? Handelte es sich nicht doch bloß um eine Häufung unglücklicher Zufälle? Musste Steve denn zwangsläufig etwas damit zu tun haben, nur weil er zweimal gerade anwesend gewesen war? Wenn er nun mit ihr das Ventil untersucht hätte, wäre ihr Misstrauen verflogen. Doch er begann seine Tauchausrüstung abzulegen. Eine Weile beobachtete sie ihn . Aber als er nicht aufsah, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und fragte lauter, als nötig gewesen wäre .

Wieso hast du gesagt, ich solle aufpassen?”

Sein beharrliches Schweigen machte sie so wütend, dass sie die Tauchermaske nach ihm warf und ihn damit am Arm traf. „ Antworte mir gefälligst!

Seine Augen verengten sich . Mit einer seltsam tonlosen Stimme, leise und doch durchdringend, entgegnete er: „Schrei mich nicht an. Nie wieder .”

Jetzt erst wurde ihr die Vermessenheit ihres Unternehmens bewusst. Mit einem wildfremden Mann war sie auf See - noch dazu war sie mit ihm getaucht. War sie inzwischen so verrückt, dass sie jegliche Vorsichtsmaßnahmen und Vernunft über Bord warf? Abrupt wandte sich ab und stieg hinauf zur Brücke.

Blubbernd sprang der Motor an, und die Anemone setzte sich in Bewegung. Sie sah auf die Uhr. Wenn sie die Geschwindigkeit erhöhte, könnten sie in einer Dreiviertelstunde wieder im Hafen sein. Plötzlich stand er neben ihr am Steuer.

Warum bist du überhaupt mit mir rausgefahren und mit mir getaucht, wenn du mir nicht traust?”

Du hast mich vor den Haien gerettet”, gab sie schließlich zurück. „Wenn nicht seinem Lebensretter, wem kann man dann vertrauen?” Er griff über sie hinweg und stoppte die Maschinen, es wurde still. Dann drehte er sich zu ih r . Ihr Gesicht war sein em ganz nah.

S eine Lippen waren warm und weich, und als sie aufhören wollte, ließ er es nicht zu. Als sie über seinen Arm strich, fiel ihr eine brennend rote, flächige Stelle an seinem Oberarm auf.

Was ist das?”

Nichts.” Er zog sie enger an sich. Eine dumme Verletzung, sonst nichts.”

Todesriff
titlepage.xhtml
part0000_split_000.html
part0000_split_001.html
part0000_split_002.html
part0000_split_003.html
part0000_split_004.html
part0000_split_005.html
part0000_split_006.html
part0000_split_007.html
part0000_split_008.html
part0000_split_009.html
part0000_split_010.html
part0000_split_011.html
part0000_split_012.html
part0000_split_013.html
part0000_split_014.html
part0000_split_015.html
part0000_split_016.html
part0000_split_017.html
part0000_split_018.html
part0000_split_019.html
part0000_split_020.html
part0000_split_021.html
part0000_split_022.html
part0000_split_023.html
part0000_split_024.html
part0000_split_025.html
part0000_split_026.html
part0000_split_027.html
part0000_split_028.html
part0000_split_029.html
part0000_split_030.html
part0000_split_031.html
part0000_split_032.html
part0000_split_033.html
part0000_split_034.html
part0000_split_035.html
part0000_split_036.html
part0000_split_037.html
part0000_split_038.html
part0000_split_039.html
part0000_split_040.html
part0000_split_041.html
part0000_split_042.html
part0000_split_043.html
part0000_split_044.html
part0000_split_045.html
part0000_split_046.html
part0000_split_047.html
part0000_split_048.html
part0000_split_049.html
part0000_split_050.html
part0000_split_051.html
part0000_split_052.html
part0000_split_053.html
part0000_split_054.html
part0000_split_055.html
part0000_split_056.html
part0000_split_057.html
part0000_split_058.html
part0000_split_059.html
part0000_split_060.html
part0000_split_061.html
part0000_split_062.html
part0000_split_063.html
part0000_split_064.html
part0000_split_065.html
part0000_split_066.html
part0000_split_067.html
part0000_split_068.html
part0000_split_069.html
part0000_split_070.html
part0000_split_071.html
part0000_split_072.html
part0000_split_073.html
part0000_split_074.html
part0000_split_075.html
part0000_split_076.html
part0000_split_077.html
part0000_split_078.html
part0000_split_079.html
part0000_split_080.html
part0000_split_081.html
part0000_split_082.html
part0000_split_083.html
part0000_split_084.html
part0000_split_085.html
part0000_split_086.html
part0000_split_087.html
part0000_split_088.html
part0000_split_089.html
part0000_split_090.html
part0000_split_091.html
part0000_split_092.html
part0000_split_093.html
part0000_split_094.html
part0000_split_095.html
part0000_split_096.html
part0000_split_097.html
part0000_split_098.html
part0000_split_099.html
part0000_split_100.html
part0000_split_101.html
part0000_split_102.html
part0000_split_103.html
part0000_split_104.html
part0000_split_105.html
part0000_split_106.html
part0000_split_107.html
part0000_split_108.html
part0000_split_109.html