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Kaum hatte Shane das Licht gelöscht und begonnen, die Ereignisse des Tages für ein paar Stunden zu verdrängen, als das Klingeln des Telefons ihn wieder aufschreckte. Zielsicher griff er im Dunkeln nach dem Hörer des Telefons . „Hallo?”
„Sorry”, hörte er eine kratzige Frauenstimme . „verwählt.”
Ärgerlich legte er auf. Er war todmüde, fühlte sich völlig erschöpft und konnte doch nicht einschlafen. Fluchend stand er eine Dreiviertelstunde später auf, zog sich Shorts, T-Shirt und Sportschuhe an und joggte den befestigten Weg am Fluss entlang. Er überquerte die Brücke über den schmalen Arm des Breakfast Creek und bog in den kleinen Park mit den Hibiskusbüschen und hohen Bäumen ein. Dort schlug er den geteerten Weg direkt am Wasser ein. Und musste dort schon aufgeben. Er war schlecht in Form. Tief atmete er die feuchte Luft ein und ging langsamer weiter. Wie jede Nacht schwamm das kleine Boot mit der roten Beleuchtung und der großen Meerjungfrau-Figur vorüber. Leise klatschten kleine Wellen an die Kaimauer.
Als er das gelb-grüne Neonschild der BP-Tankstelle sah, fiel ihm ein, dass er keinen Orangensaft mehr vorrätig hatte. Er überquerte den Kingsford Smith Drive, auf dem zu dieser Uhrzeit noch viele Autos unterwegs waren.
Tankstellen hatten in der Nacht ein ganz besonderes Flair, dachte er jedes Mal, wenn er aus der Dunkelheit in ihre neonhell beleuchteten Räume trat. Hier bekam man die Lebensmittel, die man entweder im Supermarkt zu kaufen vergessen hatte oder die man für eine einsame Nacht vor dem Fernseher oder dem Computer brauchte: Chips, tiefgekühlte Lasagne, Pizza, Pommes frites, Eis, Schokolade, Kekse und Cola. Im Bottleshop um die Ecke gab es Bier, Whisky, Wein und Rum, alles, womit man Einsamkeit, zerplatzte Träume und quälende Sehnsucht für eine Weile vergessen konnte.
Aus dem Regal nahm er eine Packung Orangen-Mango-Saft und warf auf dem Weg zur Kasse einen Blick auf die Zeitschriften. Auf den Titelseiten prangten drahtige, glänzende Körper. Überschriften versprachen Methoden, durch die man schlanker wurde und seinen Körper in Form brachte, Leitfäden zur gesunden Ernährung, Wege zu sexueller Attraktivität und zu ewigem Leben. Sein Blick glitt über die bunten Cover und blieb an Showboats haften.
„Haben Sie auch alte Ausgaben?”, fragte Shane den Mann an der Kasse.
„Welche suchen Sie?”
“Die von ... sagen wir, August oder September letzten Jahres?”
„Mann, Sie haben Glück, dass meine Frau sie für ihren Bruder sammelt . Normalerweise schicken wir die unverkauften Exemplare zurück an den Verlag.” Der Mann ging in den Nebenraum und kam mit einem Stapel zurück.
Shane fand die September-Ausgabe, blätterte die Seiten mit den Yacht-Angeboten auf und stieß tatsächlich auf die Diana. Als Kontaktadresse war wieder Nigel Hurst’s Yachting genannt. Nigel Hurst bot auf derselben Seite noch eine weitere Yacht zum Verkauf an, die Blue Breaze. Vielleicht war dieses Boot ja auch ganz zufällig explodiert? Shane kaufte das Heft. Morgen würde er Nigel Hurst einen Besuch abstatten, sich bei Interpol nach Goran Hentschel erkundigen, und Jonathan Bailor aufsuchen.
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Am nächsten Morgen erwartete Shane gleich eine Enttäuschung: Nachforschungen ergaben, dass die annoncierte Yacht Blue Breaze ganz offiziell vor neun Monaten von einem Amerikaner gekauft worden war.
„Nigel Hurst wird ja nicht jede Yacht, die er zum Verkauf anbietet, explodieren lassen”, sagte Tamara.
Wenig später saß Shane auf dem Beifahrersitz neben Tamara . Am Morgen noch hatte alles darauf hingedeutet, dass der Tag wieder heiß, der Himmel strahlend blau und wolkenlos werden würde, doch innerhalb weniger Stunden hatten sich dicke graue Wolkenkissen von der Küste herangeschoben. Da fiel ihm ein, dass er das Küchenfenster nicht geschlossen hatte. Ganz sicher würde es Sturm geben.
„Alles in Ordnung?” Tamara wandte sich ihm zu.
„Ich habe das Küchenfenster offen gelassen.”
Sie fädelte sich in den dichten Verkehr auf der Turbot Street ein. „Wie war es eigentlich oben in Cairns?”, fragte sie dann unvermittelt und wechselte die Spur. Typisch Frau, dachte er, so versucht sie an dein Innenleben zu kommen. So beiläufig wie möglich antwortete er: „Ich kann den Tropen nichts abgewinnen.”
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu als hätte sie ihn wieder mal durchschaut. Sie sprachen nicht mehr miteinander, bis sie schließlich in die Straße einbogen, in der sich Nigel Hurst‘s Werft befand. Tamara parkte den Wagen direkt vor dem Eingang. Das Gelände der Nigel Hurst’s Yachting war durch einen hohen Maschendrahtzaun abgegrenzt. Als Shane ausstieg, fiel ihm auf, dass er zwischen den Mauern hindurch sein Apartmenthaus auf der anderen Seite des Flusses sehen konnte, der unter der dichten Wolkendecke ganz grau erschien.
„Mister Hurst ist verreist. Er kommt erst in drei Tagen zurück.” Die Sekretärin, Danielle Ross, Ende dreißig und „aufgetakelt wie ein Zirkuspferd” – hätte seine Mutter gesagt - wirkte gelangweilt. Neben ihr lag eine aufgeschlagene Frauenzeitschrift. Auch der Ausweis der Homicide Squad, den Shane ihr zeigte, schien sie weder zu beeindrucken , aufzuregen noch neugierig zu machen. Im Hintergrund war leise Musik aus einem Radio zu hören, so selbstverständlich, als würde es niemals ausgeschaltet.
„Wohin?”, fragte Tamara knapp .
„Fort Lauderdale, Florida.”
„Was macht er dort?”
„Verhandlungen natürlich!” , sagte sie mit hochgezogenen Brauen. „Wissen Sie nicht, dass in Florida mit die größten Yacht-Werften angesiedelt sind?”
„Ehrlich gesagt, Mrs. Ross: nein.” Tamara lächelte ebenso arrogant .
„Mister Hurst hat mit sehr vermögenden Geschäftspartnern zu tun. Sie können gerne eine Nachricht für ihn hinterlassen.“
Shane bemerkte bereits, wie sich hellrote Flecken an Tamaras Hals bildeten, ein sicheres Zeichen für ihre aufkeimende Wut. Sie waren ihm schon einmal aufgefallen. Er legte die Fotos der beiden Ermordeten und das Phantombild des Verdächtigen auf Danielle Ross‘ Schreibtisch. „Kennen Sie einen dieser Männer?”
Sie setzte ihre Lesebrille auf, betrachtete die Fotos eingehend aber ohne die Miene zu verziehen, setzte die Brille wieder ab und sah Shane an. „Ich habe es durch Fernsehen und Zeitung erfahren. Wenn ich einen dieser Männer persönlich gekannt hätte, wäre ich schon vor Tagen zur Polizei gegangen .“
„Vielleicht war das Mister Hurst ja nicht recht.” Shane tauschte einen Blick mit Tamara. Die Sekretärin blickte von ihr zu Shane und wieder zurück und entgegnete schnippisch: „Ich wüsste nicht, was er zu verbergen hätte.”
„Ach ja? Nun, das werden wir ihm sagen, wenn er sich blicken lässt”, erwiderte Tamara scharf. „Wenn er nicht mit uns kooperiert, haben wir ganz schnell einen Durchsuchungsbefehl und eine Vorladung, da können Sie sicher sein – das können Sie ihm schon mal mitteilen.“
„Ich verstehe überhaupt nicht, worauf Sie hinauswollen!” Danielle Ross tat entrüstet.
Shane beugte sich zu ihr. „Ihnen scheint nicht klar zu sein , dass das Ganze für Sie ebenfalls Konsequenzen haben könnte .”
„Schließlich haben Sie als seine Sekretärin Einblick in Akten ...“ , ergänzte Tamara.
„Aber ... ich weiß doch gar nichts!”, Danielle Ross wirkte nun doch etwas verunsichert.
„Das dürfen Sie dann dem Staatsanwalt erklären!”, Tamara bedachte sie mit einem herablassenden Lächeln .
Danielle Ross hatte schon eine schnelle Erwiderung parat, aber dann überlegte sie es sich anders.
„Geben Sie mir noch mal die Fotos.“
Schließlich zeigte auf die Aufnahme, die Andrew Barber alias Goran Hentschel zeigte.
„Der da sieht so ähnlich aus wie einer, der mal hier gearbeitet hat. Nur sehr kurz, ein paar Wochen vielleicht.” Hastig fügte sie hinzu: „Aber es könnte auch ein Irrtum sein.”
„Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, Danielle”, Tamara zog eine Visitenkarte aus der Tasche ihres dunkelblauen Blazers, „dann rufen Sie uns an.”
Shane ließ den Blick über die Akten in den Regalen schweifen. „Ach, und falls sich Ihr Boss meldet, richten Sie ihm aus, dass es besser wäre, er würde vorbei kommen . Dann könnten wir einiges klären, bevor wir weitere Maßnahmen ergreifen.”
Danielle schluckte. „Ich werde Mr. Hurst benachrichtigen.“ Ihre Stimme klang jetzt ganz anders.
Es hatte angefangen zu regnen. Dicke Tropfen klatschten auf die staubtrockene Erde.
„Und? Was meinst du?”, fragte Tamara.
„ Sie weiß mehr, als sie zugibt.” Shane warf eilig die Autotür hinter sich zu.
„Goran Hentschel - oder wie immer er heißen mag - hat ein paar Wochen in der Werft gearbeitet. Aber die Magazine hat er sich vielleicht nur gekauft, weil er sich einfach für Yachten interessierte”, wandte Tamara ein, während sie ihr Make-up und die feucht gewordenen Haare im Rückspiegel kontrollierte und die Lippen aufeinander presste, um den verbliebenen Lippenstift noch einmal zu verteilen.
Was zum Teufel hielt ihn eigentlich davon ab, etwas mit ihr anzufangen? Weshalb lud er sie nicht einfach zum Essen ein? , ging es Shane durch den Kopf.
„Du hast ja möglicherweise auch Magazine von Superautos bei dir zu Hause rumliegen und fährst lediglich einen Corolla”, unterbrach sie seine Gedanken und startete den Wagen.
„Ich muss dich enttäuschen. Ich habe weder Auto- noch Briefmarkenmagazine zu Hause.” Und ohne sie anzusehen, fügte er hinzu: „Ich bin sicher, Goran Hentschel hat sich nicht nur zum Freizeitvergnügen für Yachten interessiert.”
„Woher willst du das so genau wissen?”
Shane zuckte die Schultern und hörte sich sagen: “Wir könnten heute Abend etwas essen gehen.”
„Ich weiß nicht, Shane, ob das so eine gute Idee ist”, antwortete sie ruhig und blickte ihn an. „Ehrlich gesagt, traue ich dir nicht so recht. Ich will jedenfalls nicht deine Sammlung vervollständigen.”
Er lachte auf. „Oh, hast du keine Sammlung?“
Doch statt eines Lächelns oder einer flapsigen Antwort warf sie ihm lediglich einen kühlen Blick zu. Offenbar nahm sie die Sache ernster als er.