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Pamela lag auf dem Doppelbett und sah die Lokalnachrichten, als Shane hereinkam. Aus dem Bad drangen Föhngeräusche zu ihnen. Es war acht Uhr. Er war vor zehn Minuten aus einem Tiefschlaf hochgeschreckt, weil draußen ein Auto eine Vollbremsung hingelegt hatte. Zum Glück, sonst hätte er ganz sicher gerade den ersten Streit provoziert. Seine Tochter küsste ihn auf die Wange und strahlte. „Hi, Dad.“ Er lächelte zurück. Er müsste lügen, wenn er sagte, ihm würde es nicht gefallen, wie sich Pam über ihn freute. Im Fernsehen zeigten sie ein großes Touristenboot, das im ruhigen Wasser im Hafen schaukelte.
„Dad, die Quicksilver Explorer! Auf dem Boot waren wir doch vor ein paar Tagen!”, rief Pam. „Mum! Komm schnell!”
Kim streckte den Kopf mit dem nassen Haar durch die Badezimmertür. Der Nachrichtensprecher sagte gerade:
„Von einem Tauchausflug mit dem Boot Explorer der Linie Quicksilver sind heute zwei Tauchtouristen nicht an Land zurückgekehrt.. Ein Schiff und ein Helikopter der Küstenpo liz ei suchen noch immer nach den Vermissten.” Dann wurden die Fotos der beiden Männer gezeigt.
Kim warf einen Blick auf Shane. „Du siehst ein bisschen zerknittert aus.”
Shane ignorierte die Bemerkung. Er hatte ein sauberes, weißes Kurzarmhemd und eine gebügelte dunkelblaue Anthony G H ose angezogen. Sein gelocktes, grau meliertes Haar hatte er noch rasch unters Wasser gehalten.
„Wenn sie sich verirrt haben ...” Pamela war ganz aufgerecht. „Stell dir vor, das wäre uns passiert! Und wir wären jetzt da draußen, mitten in der Nacht, und die Haie und ...”
„ Du hast eine Fantasie!” Kim schüttelte den Kopf, „ich gehe ein in dieser Hitze! Hast du etwa die Aircondition ausgeschaltet?”
„Mir war zu kalt!”, murrte Pam.
„Schalte sie sofort wieder ein! Ich zerfließe.”
„Warum musst du auch in den Tropen deine Haare föhnen?”, erwiderte Pam und verdrehte die Augen in Richtung Shane.
Die beiden vermissten Männer hießen Pete de Vries und Leonard Griffith. Sie waren beide um die fünfzig. Shane er wischte sich dabei, wie er Namen und Aussehen speicherte. Dann sagte er sich, dass er im Urlaub war.
Als sie eine halbe Stunde später im “Big Crab” ankamen, stellte er fest, dass er sich noch immer an ihre Namen erinnerte. Die Warteschlange reichte bis zum Tresen, laute Loungemusik erfüllte den großen vollbesetzten und ziemlich trendig eingerichteten Raum. Klar, dass das Pam gefiel. Er war hungrig, aber Pam zuliebe würde er sogar warten. Immerhin gab es ja eine Bar ...
„Tut mir Leid, aber im Moment gibt es keinen freien Tisch. Wenn Sie in zwei Stunden noch mal kommen wollen?” Der Kellner lächelte.
„In zwei Stunden! Da bin ich schon vor Hunger ohnmächtig geworden. Können Sie denn nichts tun?” Kim setzte ein Lächeln auf .
„ Lass t uns woandershin gehen ”, sag te Shane.
„Aber ich habe Gutscheine! Und die gelten nur für heute!” Pamela stampfte mit dem Fuß auf. „Ich wollte euch doch einladen ! “
“Schrei nicht so! Was sollen denn die Leute denken?”, ermahnte Kim sie.
„Das ist mir doch egal!” Pamela wandte sich trotzig ab.
Ob das so die ganze nächste Woche weitergeht?, dachte Shane, als sich ein untersetzter Mann im strahlend weißen Polo-Shirt an ihnen vorbeischob. Er roch nach Duschgel, und seine kurz geschnittenen braunen Haare waren noch feucht vom Waschen. Ihm folgte eine zierliche, aber farblose Frau mit gelblich blondem, toupiertem Haar in einem roten Kleid . Shane musste an eine Praline denken, die in ein rotes Papier einwickelt war, damit sie in der Pralinenschachtel nach etwas Besonderem aussah.
Der Mann drehte sich um und blickte Shane direkt ins Gesicht. Er stutzte, lächelte dann unbeholfen und fragte: „Entschuldigen Sie, aber Sie sind nicht zufällig Detective Sergeant Shane O’Connor? Aus Brisbane?”
„Doch das ist er!”, antwortete Pamela, noch bevor Shane reagieren konnte. Der Stolz in ihrer Stimme war nicht zu überhören. D er Mann streckte Shane die Hand entgegen, und diesem blieb nichts anderes übrig, als sie zu schütteln. Sie war warm, fleischig und feucht.
“Detective Richard Flimms aus Cairns! Und das ist meine Frau Rose.”
„Freut mich, aber im Moment weiß ich nicht, wo ich Sie einordnen soll”, entschuldigte sich Shane .
Richard Flimms lachte leutselig. „Kein Wunder! Ich kenn Sie aus dem Australian Police Journal. Da war ein Foto von Ihnen drin.” Er tippte sich mit seinem fleischigen Zeigefinger an die Stirn.
Fünf Minuten später saßen sie mit dem Ehepaar Flimms an einem der besten Tische draußen am beleuchteten Pool. Zwischen Kim und Rose entwickelte sich ein Gespräch über Cholesterin, Fette, den Wert von Sojaprodukten, Vitamin- und Mineralienpräparaten. Während Flimms Shane und Pamela von den Vermissten am Riff berichtete:
„Neunzehnhundertachtundneunzig hatten wir schon mal so einen Fall. Ein amerikanisches Pärchen buchte einen Tauchausflug und kehrte nicht mehr mit dem Boot zurück. Das war bei Fish City draußen am Outer Reef.”
Shane hatte davon gehört und den Artikel im Australian Magazine gelesen. Flimms nahm einen großen Schluck von seinem Wein.
„Da war was mit dem Durchzählen der Passagiere schief gegangen. Jeder der Crewmitglieder dachte, der andere hätte die Leute durchgezählt. Es ist viel spekuliert worden, wie immer.” Er schüttelte den Kopf. „Ob sie Agenten waren, die man außer Landes bringen wollte? Ein Dokumentarfilmer hat behauptet, dass sie sicher von Tiger-Haien angefallen worden seien. Um vier Uhr nachmittags bekommen die nämlich Hunger. Wenn einer der Haie anfängt, geraten die anderen in einen Blutrausch. Da hat keiner mehr eine Chance.”
Seine Frau schob sich ein Blatt Salat in den Mund und lächelte gequält .
„Aber ist es nicht schrecklich?”, warf Pamela kauend ein. „Wir sitzen hier und essen und trinken, und da draußen, mitten im Meer , werden zwei Menschen vielleicht gerade von Haien zerfleischt!” Sie zupfte die Schale einer Garnele ab.
„Pam! Hör sofort damit auf. Wir essen gerade !”, wies Kim sie zurecht. „Entschuldigen Sie, aber Pam hat eine ungesunde Vorliebe für Katastrophen. Muss Sie von ihrem Vater haben.“
Shane grinste während Pam weiterredete:
„Mum, wenn du richtig zugehört hättest, müsstest du dich nicht aufregen: Ich sagte: ‚Wir essen und trinken, und da draußen, mitten im ...”
„Pam, ich möchte das jetzt nicht hören !”, fiel Kim ihr ins Wort. „Und außerdem spricht man nicht mit vollem Mund! Shane, jetzt sag du doch bitte auch mal was!” Ihre Stimme hatte bereits jenen genervten Unterton, den er von früher kannte. Ein Zeichen, schnellstens das Thema zu wechseln. Das hatte er früher immer getan. Jetzt hatte er keine Lust dazu – und er sah auch keine Veranlassung mehr dazu. Kim war schließlich seine Exfrau.
So schleppte sich der Abend dahin, und Shane hatte immer mehr das Gefühl, am falschen Ort zu sein . Er griff zu seinem Bierglas .
Flimms entschuldigte sich mehrmals, um, wie er sagte, wegen des Standes der Ermittlungen zu telefonieren. Als sie zahlten, lud Flimms Shane und die begeisterte Pam für den nächsten Tag in die Polizeistation Cairns ein. Pams Augen glänzten, und Shane war erleichtert, wenigstens schon mal für Morgen einen Plan zu haben.
Um halb zwölf kehrten sie schließlich ins Motel zurück, und als er die Tür seines Zimmers aufschloss, versuchte er, sich mit der Tatsache abzufinden, in einer Stadt, die er nicht mochte, und in einem Klima, das ihm nicht angenehm war, eine ganze Woche verbringen zu müssen.
Eine halbe Stunde später saß er ein paar Straßen weiter in einer der Bars, die noch geöffnet hatten. Seinen zweiten Whisky vor sich, starrte er in den Fernseher über der Theke, in dem ein Rugby-Spiel zweier drittklassiger Mannschaften lief. Überall konnte er Gesprächsfetzen aufschnappen, die sich um das Verschwinden der beiden Taucher drehten.
„Das hat man davon, wenn man die Haie schützt!”, meinte einer. „Das ist wie mit den Schlangen: Nur eine tote Schlange ist eine gute Schlange!”
„Wenn Haie Blut riechen, dann sind sie nicht mehr zu halten! Jesus , ich hab mal in so ein Maul gesehen: weiße, spitze Zähne in mehreren Reihen! Brrrr, ich sag euch, das war ein Anblick!”
Am liebsten würde ich Pam und Kim das Tauchen verbieten, ging es Shane durch den Kopf. Zwei Männer, die ihm aufgefallen waren, weil sie nicht redeten, verließen die Bar, und Shane fielen die krummen Beine des einen auf .
„Und wer managt jetzt das ‚Coral Beach‘, Matt?”, hörte er den Barkeeper einen sonnengebräunten Surfer- Typen fragen. Shane zahlte und drängte sich durch die Menge zum Ausgang.
„Hi.” Der Junge an der Tür war einen halben Kopf kleiner als er, hübsch wie ein Mädchen und kaum zwanzig. „Allein hier?”
„Bin mit meinen Frauen hier“ , brummte Shane und schob sich durch die Tür ins Freie.
Als er wieder auf seinem Bett lag, dachte er, dass er den ersten Tag und die erste Nacht seines Urlaubs überstanden hatte.