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Roger von der Spurensicherung blickte auf , als Shane in sein Büro kam. „Ich dachte, Tom hat die Nachtschicht?”
Shane winkte ungeduldig ab. „Roger, ich brauch sofort die Yachtmagazine, die wir im Apartment des falschen Andrew Barber gefunden haben.”
„Willst du dich schon zur Ruhe setzen und um die Welt segeln?”, fragte Roger gut gelaunt und gab ihm die Hefte .
Zurück im Büro blätterte Shane die beiden Magazine durch. Er hoffte, darin einen Hinweis auf Jonathan Bailor zu finden. Doch er fand nichts. Dennoch sagte ihm sein Gefühl, dass der falsche Andrew Barber die Magazine nicht zufällig oder aus purer Begeisterung für Yachten in seiner Wohnung aufbewahrt hatte.
„Shane, du bist im wahrsten Sinne des Wortes auf dem falschen Dampfer”, sagte Tom McGregor und legte ein Formular zur Seite. „Andrew Barber - oder wie immer er hieß - hatte ganz einfach ein Hobby. Wie jeder.”
„Ich habe keins”, brummte Shane.
„Nun ja, wie die meisten Menschen eben”, räumte Tom ein.
„Was ist deins? Du hast mir nie davon erzählt.”
Tom dachte nach, dann erwiderte er mit einem schiefen Lächeln: „Ich habe eigentlich auch keins.”
Shane begann, die Magazine ein weiteres Mal durchzublättern, diesmal fing er hinten an, dort, wo Yachten zum Verkauf angeboten wurden. In manchen Annoncen waren nicht die Namen der Besitzer, sondern nur die der Yachten genannt sowie der Name einer Agentur mit Telefonnummer. Nigel Hurst’s Yachting las er mehrmals. Das war die Werft, auf der John Palmer arbeitete. „Wie hieß Bailors Yacht?”
McGregor zuckte die Schultern.
Shane griff zum Telefon. Nach mindestens zehnmaligem Läuten meldete sich endlich Lewis.
„Shane, hast du sie nicht mehr alle? Wir spielen gerade gegen die verdammten Pakistani!”
“Ich weiß, Lewis, aber hast du von der Explosion dieser Yacht gehört?”
„Ich hab zwar nur noch ein Bein, doch taub bin ich noch nicht! Natürlich hab ich davon gehört. Den ganzen Tag gab es hier keine anderen Nachrichten.”
„Wie war der Name der Yacht?”
„Jesus, Shane! Mitten im Spiel!”
“Lewis! Ein Ex-Cop weiß so was!”, beharrte Shane.
“Seagull! Das Drecksding hieß Seagull!”, rief Lewis ungehalten.
„Weißt du was Näheres?”
„Das fragst du mich ausgerechnet jetzt?”
Shane stellte ihn sich vor, wie er in seinem Fernsehsessel saß, eine ganze Batterie Drinks vor sich. „Ich mach dir `en Vorschlag. Du hievst deinen verdammten Arsch ins Auto und dann erklär ich dir alles – bei ´ner Pulle Whisky.”
Shane sah auf die Uhr. “ Okay , ich komme.”
„Gut – vergiss den Whisky nicht!“
Er überflog noch einmal die Annoncen. Und da fand er sie.
Seagull: Erbauer: Feadship van Lent, neunzehnhundertfünfundachtzig, restauriert im Jahr zweitausend, Länge: einhundertfünfzig Fuß, fünfundvierzig Komma sieben Meter, größte Schiffsbreite: achtundzwanzig Komma fünf Fuß, acht Komma sieben Meter, Tiefgang: neun Fuß, zwei Komma sieben vier Meter, Höchstgeschwindigkeit: dreizehn Knoten.
Er überflog weitere Details, die Spezifizierung der Maschinen, den Spritverbrauch, die elektronische Ausstattung wie Radar, Autopilot und GPS. Angegeben war die Adresse einer Werft am Brisbane River: Nigel Hurst’s Yachting, Brisbane, Telefon- und Faxnummer sowie Internetadresse. Im Leben gibt es keine Zufälle, dachte Shane.
Der Verkehr hinunter an die Goldcoast war um diese Uhrzeit nicht allzu dicht. Shane legte die sechzig Kilometer in einer guten halben Stunde zurück. Auf dem Parkplatz des fünfundzwanzigstöckigen Apartmenthauses, in dem Lewis wohnte, stellte er den Wagen ab, klingelte und fuhr mit dem Aufzug in die sechzehnte Etage.
Lewis hatte bereits die Wohnungstür geöffnet und saß wieder im Sessel, nur einen Meter vom Fernsehgerät entfernt, das eine Bein auf ein Sitzkissen gelegt. Seine Krücken lagen neben ihm auf dem Boden. Shane stellte fest, dass Lewis noch verwahrloster aussah als bei seinem letzten Besuch. Er war weder rasiert noch gekämmt, seine grauen Haare waren fettig. Lewis hatte sich an diesem Tag offenbar nicht die Mühe gemacht, sich zu duschen und anzuziehen. Er trug lediglich eine Boxershorts und einen grau-weiß gestreiften Bademantel, dessen Gürtel er nur lose um den Bauch geschlungen hatte. Auf dem gläsernen Couchtisch mit unzähligen Kränzen von Gläsern und Flaschen standen Bierflaschen und eine fast leere Flasche Johnny Walker. Durch die geöffnete Balkontür wehte der Wind vom Meer, das man selbst in dieser Höhe rauschen hörte.
„Hast du Whisky mitgebracht?”, begrüßte Lewis ihn, die Augen hinter der großen Brille nach wie vor auf den Bildschirm gerichtet. Er streckte den Arm mit dem leeren Glas in Shanes Richtung - eine wortlose Aufforderung nachzuschenken.
Shane goss ihm aus der Flasche ein, die er unterwegs gekauft hatte.
Lewis roch an seinen Glas, trank. Erst dann sah er zu Shane hinüber, der sich auf die Couch schräg hinter Lewis gesetzt hatte . „So wie’s aussieht, verlieren wir das verdammte Spiel.” Er trank weiter. „Was willst du wissen?”
Shane berichtete vom Stand der Ermittlungen. „Der Mörder sucht John Palmer auf und fragt ihn nach dem Aufenthaltsort von Markus Auer. Er tötet Markus Auer. Kurz darauf tötet er einen Mann, der sich Andrew Barber nennt, was jedoch nicht sein richtiger Name ist. Auer und der falsche Barber kennen sich, hatten die gleiche Tätowierung: einen auf einem Gewehr sitzenden Doppeladler mit der Unterschrift SKANDERBEG, dem Namen eines albanischen Befreiungskämpfers aus dem fünfzehnten Jahrhundert.” Er machte eine Pause, um festzustellen, ob Lewis, der in den Fernseher starrte, ihm überhaupt zuhörte.
„Und? Weiter?”, brummte Lewis. Shane wunderte sich jedes mal wieder, dass Lewis immer noch sein Elefantengedächtnis hatte.
„ Beide Opfer haben sich die Tätowierungen entfernen lassen. Ein Andrew Barber besuchte in Surfer’s Paradise das Spielcasino, sein Name wurde am zehnten Oktober dort registriert. Ob es sich dabei um den echten oder den falschen Barber handelte, wissen wir noch nicht.” Shane trank einen Schluck Wasser zwischendurch. Er wollte ganz bestimmt nicht hier übernachten. „Der falsche Barber hatte zwei Bootsmagazine in seinem Apartment. In einem wird die Seagull, Jonathan Bailors Boot, das jetzt explodiert ist, zum Verkauf angeboten - von einem Agenten, auf dessen Werft John Palmer arbeitet. Der wiederum kannte Markus Auer von dem Automechaniker Ron Schuster, dessen Werkstatt in die Luft flog. Dieser Umstand sorgte dafür, dass Schuster seinen Kompagnon loswurde, und brachte ihm eine satte Versicherungssumme ein. Vor einer Woche wäre beinahe Annabel Bailor von Haien gefressen worden. Heute explodiert die Yacht ihres ... Wie sind die beiden genau verwandt?”
„Er ist ihr Halbbruder”, antwortete Lewis, ohne vom Bildschirm aufzusehen. Die Australier machten einen Punkt. „Wurde ja auch Zeit!” Lewis, noch immer den Blick auf die Mattscheibe gerichtet, hielt Shane das leere Glas erneut hin. Der füllte nach.
“Halbbruder?”
„Jonathan Bailors Vater starb, als Jonathan vier oder fünf Jahre alt war. Seine Mutter heiratete dann erst William Bailor. Hab ich vorhin recherchiert.“
„Verstehe.”
„Also”, sagte Lewis – seine Aussprache war noch immer klar – „was machen wir mit all den netten kleinen Zufälligkeiten? Und was willst du von mir?”
„Du hattest immer gute Ideen.”
„Ja!” Er lachte bitter. „Besonders damals, als ich diesem Wichser hinterherlief und der sich umdrehte und aus seiner MG feuerte. Das war mein letzter Lauf.” Er erwähnte jedes Mal, wie er sein Bein verloren hatte. Shane konnte es ihm nicht verdenken.
„Pass auf, Shane: Jonathan Bailor soll ein verdammter Spieler sein. Er liebt schnelle Autos, schöne Frauen, Luxus, die ganze Speisekarte rauf und runter, sozusagen.” Er schwieg, schien seine Aufmerksamkeit wieder ausschließlich dem Spiel zu widmen. „Ich erinnere mich”, sprach Lewis unvermittelt weiter, „dass hier schon mal ein Boot in die Luft geflogen ist. Nicht in Surfer’s, aber hier, vor Broadbeach. War eine Explosion draußen auf dem Meer. Es hieß, dass in der Küche ein Brand ausgebrochen sei. Liegt bestimmt schon ein Jahr zurück.”
„Wann war das genau?”
Lewis holte tief Luft. „Der Alkohol hat mir ein paar Löcher ins Hirn gefressen - früher hätte ich dir so was noch nach zehn Jahren sagen können. Stimmt’s?“
„Stimmt, Lewis, du hast noch nach zehn Jahren den Namen des Haustiers eines Verdächtigen gewusst.“
„Genau.“
Shane sprang auf. „Kommst du mit, oder willst du hier weiter rumhängen?”
Lewis sah ihn an. „Wo, verdammt, willst du hin?”
„Ich will wissen, wie die Yacht hieß, die du gerade erwähnt hast.”
Lewis zögerte einen Moment , dann stellte er sein Glas ab. „Dieses Spiel gewinnen sowieso die se elenden Pakistanis , gib mir mal die verdammten Krücken!”