KAPITEL LVII
Vielleicht sollten wir uns aufteilen«, schlug Fulminacci vor, der sich hektisch im Saal umblickte. »Nein, lieber nicht«, sagte Melchiorri. »Am Ende verlieren wir uns in dem Gedränge. Wenn wir Beatrice finden, muss einer von uns immer an ihrer Seite bleiben, wir dürfen sie keinen Moment aus den Augen lassen.«
Mühsam bahnten sie sich einen Weg zwischen den Grüppchen von feinen Damen und edlen Herren hindurch und suchten den riesigen Salon ab. Der Maler hielt in dem Meer aus bunten Kostümen fieberhaft nach einem blitzenden Streifen Türkis Ausschau und fürchtete dabei gleichzeitig, auf das düstere Schwarz des Dominikanerumhangs zu stoßen.
Die Gäste umkreisten unablässig die gedeckten Tische, was es den beiden Freunden erschwerte, einen festen Orientierungspunkt zu finden. Überdies mussten sie den Eindruck vermitteln, zwanglos durch den Saal zu promenieren, einzig um das Fest zu genießen. Jedes eilige oder gar verstohlene Verhalten würde Verdacht erwecken, und sie zweifelten nicht daran, dass sich unter den verkleideten Aristokraten auch einige Häscher der Inquisition befanden, die Mutis gemeinen Plan ausführen sollten.
Endlich entdeckte der Maler hinter einer Lücke in der Mauer aus Menschenleibern das zarte Wassergrün des Kleides der Freundin, worauf er dem Gefährten ein Zeichen machte und sich unauffällig auf die Stelle zubewegte. Melchiorri folgte ihm auf den Fersen und gab vor, sich angeregt mit ihm über einen wenig bekannten Aspekt der Bewässerungsmethoden lombardischer Bauern für ihre Reisfelder zu unterhalten.
Sie kamen nur langsam und alles andere als auf geradem Weg voran, denn sie mussten immer wieder große Halbkreise um Gruppen von Kostümierten beschreiben, die sich zusammenfanden und wieder auflösten, und durften dabei keine Unvorsichtigkeit begehen, aber auch nicht zu weit von der ursprünglichen Richtung abweichen. Ohne die zügelnde Gegenwart des Großmeisters hätte Fulminacci sich rücksichtslos zu Beatrice durchgekämpft, hätte auf zartgliedrige Zehen getreten und mehr als einen vornehmen Namen zur Seite gestoßen. Melchiorri aber hatte sich bei ihm untergehakt und erlaubte ihm nicht, seinem hitzköpfigen Drang nachzugeben, sondern lenkte seine Schritte mit der Gewandtheit eines Höflings, der es gewohnt war, sich mit zierlichen Schritten in einer solchen Umgebung zu bewegen.
Nach vielen Umwegen, schwer zu ertragenden Pantomimen, lächelnden Verbeugungen und anderem Getue erreichten sie schließlich ihr Ziel.
Beatrice unterhielt sich gerade mit Pater Kircher und Michelangelo Ricci in der Nähe einer großen Gruppe von Edelleuten, die sich vor dem Kamin versammelt hatte. Dieser war zur Feier des Tages mit Bergen von Blumen bestückt worden, die ihren intensiven Duft in der Luft verströmten.
Fulminacci und der Großmeister gesellten sich zu den dreien und nahmen Beatrice in die Mitte, die den Maler demonstrativ ignorierte, Melchiorri dagegen ein herzliches Lächeln schenkte.
»… dennoch glaube ich, eine inhärente Schwachstelle in Keplers Theorie von den Planetenumlaufbahnen gefunden zu haben«, erörterte Michelangelo Ricci die Lehre, die ihn in ganz Europa berühmt gemacht hatte, während Kircher schweigend zustimmte, »insbesondere, was die Neigung der Ekliptik angeht. Meine jüngsten Beobachtungen weichen von dem ab, was der große Deutsche in seiner Abhandlung De Motibus Stellae Martis schreibt, vor allem hinsichtlich seiner Behauptung…«
Fulminacci hatte nicht die geringste Ahnung von Astronomie und im Moment auch ganz andere Sorgen. Möglichst unauffällig versuchte er, Beatrices Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die jedoch völlig gebannt von der gelehrten Disputation zwischen dem Augustiner und dem Jesuiten zu sein schien. Erst als er sie kurz, aber fest in den verlängerten Rücken kniff, konnte er sie von der Debatte der Wissenschaftler ablenken. Ihr Blick hätte ihn vernichtet, wenn seine Besorgnis ihn nicht vollkommen unempfindlich gegen solche Signale gemacht hätte.
Sie entfernten sich ein paar Schritte von den Mönchen, derweil der Großmeister durch die Darlegung einiger eigener Beobachtungen das Gespräch in Gang hielt, um die Gelehrten weiter zu beschäftigen.
»Du hast mir wehgetan«, zischte die Kartenlegerin. »Ich hoffe nur, es gibt einen guten Grund dafür.«
»Einen ausgezeichneten Grund, glaub mir«, erwiderte der Maler. »Muti ist hier.«
Beatrice schluckte und legte eine Hand auf die Brust.
»Was… Was zum Teufel macht er hier?«
»Er ist wegen uns hier, Beatrice, keine Frage.«
»Solange wir uns im Palast aufhalten, kann er uns nichts tun«, sagte sie, wirkte aber selbst nicht recht überzeugt von ihren Worten.
»Darum geht es ja gerade. Ich habe mit Melchiorri darüber gesprochen, und wir sind sicher, dass sie versuchen werden, dich zu entführen, damit wir ihnen folgen, um dich zu befreien, was wir zweifellos tun würden. Wenn sie uns dazu bringen, den Palazzo Riario zu verlassen, sind wir Brennholz. Du darfst also nie von unserer Seite weichen, aus keinem Grund der Welt. Melchiorri denkt über einen Plan nach, der uns aus dieser Patsche heraushilft, aber dazu braucht er ein bisschen Zeit, und ihm wird nichts einfallen, wenn er sich den ganzen Abend Sorgen um dich machen muss, verstehst du?«
»Wie soll Muti mich denn ungesehen hier rausschaffen? Es sind mindestens tausend Gäste im Palast, das würde doch auffallen.«
»Wusste ich’s doch, dass du anfangen würdest zu diskutieren. Du bist starrköpfiger als eine Eselin. Mach dir keine Gedanken darüber, wie sie es anstellen würden. Dieser Mann ist listig wie ein Fuchs und bösartig wie Satan persönlich – er hat garantiert etwas ausgeheckt, das funktioniert, wenn wir nicht aufpassen. Solange du dicht bei uns bleibst, bist du einigermaßen sicher, aber sobald du dich auch nur für einen Augenblick entfernst, bringst du dich und damit auch uns in Gefahr, kapiert? Antworte mir!«
Es war offensichtlich, dass die junge Frau mit sich rang: Einerseits wollte sie dem jähzornigen Maler nicht das letzte Wort lassen, andererseits war der Gedanke, erneut in den Fängen der Inquisition zu landen, allzu schrecklich. Am Ende obsiegte die noch frische Erinnerung an den Folterkerker, und sie gab nach.
Die beiden gingen wieder zu den anderen und taten, als wäre nichts.
»Gewiss scheinen die Anomalien in den Umlaufbahnen der Jupitermonde, wie sie der große Galileo beobachtet hat, Eure These zu bestätigen«, sagte Kircher gerade. »Doch wenn man weitere Aspekte des Phänomens untersucht, kommt man zu anderen Schlussfolgerungen. Ich weiß, dass ein junger englischer Astronom, ein gewisser Newton, eine Methode zur Reihenbeobachtung entwickelt hat sowie einen Satz, mit dem man einen beliebigen Exponenten eines beliebigen Binoms dieser Reihen reproduzieren kann. Wenn wir nun diese Methode auf das fragliche Problem anwenden, besteht kein Zweifel, dass…«
Fulminacci, der sich zuerst bemüht hatte, den Darlegungen des Jesuiten zu folgen, gab bei den Feinheiten der reinen Mathematik auf und ließ den Blick durch den Raum schweifen.
Als er Pater Kircher etwas genauer in Augenschein nahm, bemerkte er, dass dieser ebenfalls sehr bedrückt wirkte, sosehr er auch in den Disput vertieft sein mochte.
Schon seit Tagen befand sich der Pater in einem Zustand der Angst und Besorgnis, der ihm sonst nicht eigen war, und der Maler bedauerte es von Herzen, dass diese undurchsichtige Intrige auch das ruhige Gelehrtenleben des guten Jesuiten beeinträchtigte, der zu den wenigen Menschen gehörte, die je ein ernsthaftes Interesse an ihm gezeigt hatten.
Auch Melchiorri, ein alter Hase auf dem Parkett der mondänen Gesellschaft, war nicht gerade glänzend in Form. Er beteiligte sich zwar lebhaft an der Diskussion und trug seine übliche lässige Ungezwungenheit zur Schau, aber man sah, dass er dabei jede Menge Gedanken wälzte, um eine Lösung für eine scheinbar ausweglose Situation zu finden.
Plötzlich erklangen helle, laute Trompetenstöße: Der Moment, auf den alle gewartet hatten, war gekommen. Die Königin von Schweden hielt Einzug in den Saal, um das Fest offiziell zu eröffnen.
Die Flügeltür zu der Vorhalle mit der großen Prunktreppe wurde geöffnet, und zwei Reihen von Wachen in der blau-goldenen Gardeuniform der Familie Vasa stellten sich zu beiden Seiten auf und präsentierten die glänzenden Hellebarden. Wieder ertönte Trompetengeschmetter, und im Saal wurde es still.
Einige Augenblicke lang schien gar nichts zu passieren, doch dann wurden die Trompeten leiser und stimmten einen feierlichen Marsch an, worauf die Monarchin in all ihrer königlichen Pracht erschien.
Im Laufe der vergangenen beiden Tage hatte Fulminacci öfters Gesprächsfetzen der Palastdienerschaft über die Festrobe der Königin aufgeschnappt. Die Gerüchte hatten sich überschlagen und häufig auch widersprochen, aber in einem waren sich alle einig: Mit dem Geld, das diese Robe gekostet hatte, hätte man eine kleine Armee mit allem Drum und Dran ausrüsten können.
Als er nun die Königin zwischen den beiden Gardereihen einherschreiten sah, vermutete der Maler, dass diese Schätzung noch zu niedrig angesetzt war.
Das Kleid bestand aus kostbarsten Seiden- und Brokatstoffen in zarten Nuancen von Hellblau und Gold, den Farben des königlichen Geschlechts, und war buchstäblich mit Perlen überhäuft, Hunderten, vielleicht Tausenden von Perlen unterschiedlicher Größe und Qualität. Die vielen Kerzenleuchter im Saal entlockten ihnen einen opalisierenden Schimmer, der die Königin in ein geradezu übernatürliches Licht tauchte.
Fulminacci betrachtete aufmerksam das stolze, unbewegte Gesicht der Monarchin und stellte fest, dass es nicht wirklich schön genannt werden konnte. Die Nase war etwas zu groß und deutlich gekrümmt, und darüber saßen zwei tief liegende Augen, deren schwere Lider ihnen einen melancholisch-gelangweilten Ausdruck verliehen. Auch die kleinen, aber fleischigen Lippen ihres Schmollmunds trugen nicht zu einem anziehenden Äußeren bei.
Dennoch zog sie, als sie langsam und majestätisch einherschritt, die Blicke aller Anwesenden auf sich. Sie schien nicht wie normale Sterbliche zu gehen, sondern wie ein Boot auf dem stillen Wasser eines Sees dahinzugleiten. Kein Schulterzucken, nicht die kleinste unruhige Bewegung störte dieses feierliche Schreiten, das Schreiten einer Frau, die königliche Erhabenheit aus jeder Pore atmete.
Sie ging durch diesen menschlichen Korridor, bestehend aus den Männern ihrer Ehrengarde, bis zur Mitte des Saals. Dort blieb sie stehen, und die große Schar der Gäste, die sich bei ihrer Ankunft verneigt hatte, richtete sich auf ein kaum merkliches Nicken von ihr wieder auf.
Wie aus dem Nichts tauchte die untersetzte Gestalt Kardinal Azzolinis an der Seite der Königin auf, während an die andere Donna Ottavia Giustiniani trat, ebenfalls strahlend in ihrem Kleid aus dunklem Brokat, die ihrer Beschützerin und Wohltäterin eine winzige Maske aus Seide in den allgegenwärtigen Farben Blau und Gold reichte. Christine setzte sie auf, wobei sie es geschickt vermied, ihre hoch aufgetürmte Frisur zu zerstören, an der vermutlich ein kleines Heer von Frisören mehrere Stunden lang gearbeitet hatte.
Nun, da die Königin zumindest symbolisch ebenfalls Anonymität erlangt hatte und alle Formalitäten erfüllt waren, konnte das Fest beginnen.