KAPITEL XLVIII
Der Palazzo war von bescheidener Größe und lag in einer Nebenstraße eines unbedeutenden Stadtviertels. Ein Haus wie viele andere, anonym, ohne besonderen Schmuck und durchschnittlich gut erhalten.
Ein kleiner Garten umgab es an allen vier Seiten. An der Rückseite erstreckte sich das vernachlässigte Grundstück einige Hundert Schritt lang bis zu dem Hügel, der das Viertel überragte, und wurde von einem niedrigen, lang gestreckten Bau begrenzt, in dem sich die Stallungen befanden. Hinter dem Stallgebäude stieg der Hügel steil an und war mit einer dichten Macchia aus kleinen Bäumen und Sträuchern bewachsen.
Es würde nicht einfach sein, ins Haus zu gelangen, wusste der Skorpion, und viel schwieriger, wieder hinauszukommen.
Aber man konnte es versuchen.
Die Bewachung war äußerst unauffällig. Seine Widersacher hatten aus den vorhergehenden Fehlern gelernt und es vermieden, allzu sichtbare Truppen aufzustellen, aber man spürte, dass die Wachmannschaft ansehnlich und gut gerüstet war.
Von seiner Position aus konnte der alte Mörder hin und wieder einen Kopf an einem der Fenster auftauchen sehen, und zweimal im Laufe des Vormittags hatten drei Männer das Gebäude umrundet. Sie waren wie einfache Knechte gekleidet, aber man sah deutlich, dass es sich um eine Tarnung handelte. Der gleichmäßige Schritt, die aufrechte Haltung und die Art, wie sie ihre Arbeitsgeräte hielten, verrieten die Soldaten. Darüber hinaus ließen die Bescheidenheit des Hauses und der schlechte Zustand des Gartens nicht eben auf eine große Zahl von Dienstpersonal schließen.
Fieschi war vollkommen sicher, dass Pater Eckart an diesem unauffälligen Ort in Sicherheit gebracht worden war, und Fieschi war der bestinformierte Mann der Stadt. Es bestand kein Zweifel daran, dass seine Quellen zuverlässig waren.
Der Genueser war mitten in der Nacht in das Zimmer des Skorpions gekommen, als er gerade das Haus verlassen wollte. Er wäre schon weg gewesen, wenn nicht ausgerechnet in dem Moment, als er sich hinausschleichen wollte, ein Reiter in den Hof galoppiert wäre, sodass er seine Flucht hatte aufschieben müssen.
Er hatte beschlossen zu warten, bis die von dieser unerwarteten Ankunft ausgelöste Unruhe sich gelegt hatte und die anderen Bewohner wieder zu Bett gegangen waren, aber als er seine wenigen Habseligkeiten zusammensammelte, war Fieschi eingetreten.
Der Genueser hatte sofort bemerkt, dass sein Gast fertig angekleidet war, und fein gelächelt.
»Ich halte es für keine gute Idee, jetzt abzuhauen«, sagte er einfach.
Der Skorpion hatte sich die Antwort erspart, da seine Absicht offensichtlich war.
»Messere, ich sehe, dass Ihr kein großes Vertrauen zu mir habt. Aber Ihr irrt Euch, glaubt mir.«
Der Mörder sah seinem Gegenüber schweigend in die dunklen, magnetischen Augen.
Fieschi schüttelte den Kopf. »Ich kann es Euch nicht verübeln, an Eurer Stelle würde ich mich genauso verhalten. Doch ich darf Euch mitteilen, dass sich seit gestern einiges verändert hat. Die… wie soll ich sagen… Voraussetzungen sind jetzt vollkommen anders. Was sowohl Euch als auch mir zugutekommen wird.«
Der Skorpion, der kurz den Blick abgewandt hatte, taxierte ihn erneut.
»Ich hatte kurz den Auftraggeber erwähnt, der mich mit Eurer Rettung beauftragt hatte, aber seinen Namen nicht genannt. Das war zu jenem Zeitpunkt nicht angebracht, wie Ihr verstehen werdet. Doch jetzt haben sich die Bedingungen meiner Übereinkunft mit ihm geändert. Ich habe gerade eine gute Nachricht aus der Toskana erhalten, welche die Art der Beziehung, die ich mit dieser unangenehmen Person zu unterhalten gezwungen war, radikal umkehrt. Ich erspare Euch die Einzelheiten, die Euch nur langweilen und mich schmerzen würden. Jedenfalls kann ich Euch anvertrauen, dass es sich nicht um eine freiwillige Übereinkunft handelte. Um es deutlich zu sagen, ich bin erpresst worden, doch das Druckmittel ist nun Gott sei Dank aus der Welt geschafft. Wenn Ihr es erlaubt, kann ich Euch nun aus freien Stücken zu Diensten sein, ganz ohne Hintergedanken.«
»Warum tut Ihr das?«, fragte der Skorpion.
»Sagen wir, aus Hochachtung vor Euch. Einer lebenden Legende, wie Ihr es seid, bei der Arbeit zuzusehen, ist nicht nur ein Vergnügen, sondern auch eine einmalige Gelegenheit, etwas zu lernen. Ich verhehle Euch nicht, dass ich nebenher auch einen Vorteil aus Eurem Wirken ziehen werde, aber der ist weiß Gott nebensächlich und steht in keinerlei Widerspruch zu Euren Zielen.«
Der Auftragsmörder musterte den kleinen Mann mit den zerzausten Haaren immer noch und versuchte in seinem Gesicht zu lesen.
»Niemand macht etwas umsonst.«
»Gewöhnlich ist es so, da kann ich Euch nur recht geben. Und auch ich werde meinen Gewinn aus unserer Zusammenarbeit ziehen, keine Sorge. Es steht Euch natürlich frei, mein Angebot anzunehmen oder nicht. Ich denke allerdings, dass Ihr es Euch in der gegenwärtigen Lage nicht leisten könnt, auf die angebotene Hilfe zu verzichten. Es ist schweres Geschütz gegen Euch aufgefahren worden, und Ihr seid allein. Gewiss, Ihr seid der Skorpion, aber Eure Feinde sind zahlreich und gut vorbereitet. Was meint Ihr?«
Danach hatte es nicht mehr viel zu sagen gegeben. In seinem Metier waren die Fähigsten diejenigen, die schnelle Entscheidungen treffen konnten, und der Skorpion war der Beste von allen. Selbstverständlich durfte er Fieschi nicht trauen, aber er musste sein Angebot erst einmal annehmen. Sein Plan, sich davonzustehlen und allein weiterzuarbeiten, war der helle Wahnsinn, das sah er jetzt ein. Er würde sich die Unterstützung des Genuesers und seiner Männer zunutze machen und sich dabei gleichzeitig gegen jede mögliche Gefahr wappnen, die von ihnen ausgehen konnte.
Ein schwieriger Balanceakt, keine Frage, aber nicht unmöglich.
»Gehen wir an die Arbeit«, hatte der Skorpion gesagt.
Fieschi hatte sich wie üblich als Meister seines Fachs erwiesen: Innerhalb einer Stunde hatte er von glaubwürdiger Seite den Ort erfahren, an den Pater Eckart zu seinem eigenen Schutz gebracht worden war.
Im Morgengrauen hatte der Genueser dem Skorpion eine Verkleidung ausgehändigt, mit der er sich – unter der gebotenen Vorsicht natürlich – frei in der Stadt bewegen konnte.
Und so hatte der Meuchelmörder Fieschis Haus auf dem Rücken eines mageren Esels verlassen, im Habit eines Bettelmönchs. Ein dichter grauer Bart umrahmte sein Gesicht, das dadurch weniger ausgemergelt wirkte, und unter seiner Kutte steckte ein kleines Kissen, das einen Bauch andeuten sollte.
Den störrischen Vierbeiner antreibend, wobei seine Füße in den geflickten Sandalen auf dem Boden schleiften, war er durch die Straßen gezogen und hatte mithilfe einer genauen Wegbeschreibung das betreffende Haus ohne Schwierigkeiten gefunden.
Der Skorpion betrachtete die abgeblätterte Fassade des kleinen Palazzos und harrte darauf, dass der nächste Teil des Plans in die Tat umgesetzt würde.
Sobald das Mittagsläuten der Kirchen verklungen war, sah er von dem einen Ende der Straße her einen von Maultieren gezogenen Wagen herankommen, während sich vom anderen Ende ein Gemüsekarren näherte, dessen hoch aufgetürmte Ladung auf dem unebenen Pflaster bedenklich schwankte.
Das war der Moment, auf den er gewartet hatte: Die Männer des Genuesers traten in Aktion, um für eine Ablenkung der Wachsoldaten zu sorgen. Der Skorpion band den Esel an einem niedrigen Lattenzaun an und betrat einen ungepflasterten Weg, der sich am Hang des Hügels entlangschlängelte, wobei das Haus immer zu seiner Linken lag. Er ging langsam, betrachtete aufmerksam die Wegränder, als suche er nach essbaren Kräutern, und bückte sich hin und wieder, um ein paar Blätter zu pflücken, die er in den Jutesack um seine Schulter steckte. Der Weg führte ein Stück vom Haus entfernt an einem ungepflegten Obstgarten vorbei und verlief dann zwischen wild wuchernden Büschen, deren Zweige sich ineinander verschränkten und das Sonnenlicht fast ganz abhielten.
Der Auftragsmörder ging um eine hohe Brombeerhecke herum und begann im Schutz des dichten Gebüschs den Hügel hinaufzusteigen, bis er auf halber Höhe des steilen Hangs war. Von dort bog er nach links ab, näherte sich der östlichen Grenze des zum Palazzo gehörenden Grundstücks und erreichte kurz darauf die Hinterseite des Stallgebäudes.
Das gedrungene Gebäude war fast vollständig verfallen, die Fenster hatte man grob mit Brettern vernagelt. Dem Skorpion machte es keine Mühe, ein paar davon zu entfernen und in den Stall einzudringen, dessen Boden mit Schutt und dem verkalkten Kot von Generationen von Vögeln überhäuft war.
Er durchquerte flink den kleinen Raum und verbarg sich hinter der angelehnten Tür, wo er auf den richtigen Augenblick wartete, um hinauszuschlüpfen.
Er brauchte nicht lange zu warten.
In perfekter Abstimmung trafen der Maultierwagen und der Gemüsekarren direkt vor dem Eingang des schmalen Palazzos aufeinander und rammten sich. Der Karren kippte um, das Gemüse rollte über das Pflaster, und die beiden Lenker begannen sich wütende Beschimpfungen an den Kopf zu werfen.
In kürzester Zeit lief eine kleine Menschenmenge zusammen, die zum größten Teil von Fieschis Leuten gebildet wurde. Die Schaulustigen ergriffen die Partei des einen oder des anderen, und eine hitzige Diskussion entspann sich, die in ein Handgemenge auszuarten drohte. Einschließlich der Wagenlenker waren nicht mehr als zwanzig Personen versammelt, aber sie veranstalteten einen Lärm, dass man glauben konnte, es sei eine Revolte ausgebrochen.
Der Streit zog immer mehr Menschen an, sowohl Passanten als auch Anwohner, bis schließlich ein halbes Dutzend als Diener verkleidete Wachen aus dem Haus liefen und das Getümmel aufzulösen versuchten.
Das war der richtige Moment.
Schnell und lautlos huschte der Skorpion aus dem Stall und durch den verwilderten Garten bis zur rückwärtigen Hauswand. Die von Fieschi gelieferten Angaben erwiesen sich als exakt, und der Mörder fand den Nebeneingang ohne Schwierigkeiten.
Sobald er sich im Hausinnern befand, zog er sein Schwert und suchte nach der Treppe in den ersten Stock, wo Pater Eckart vermutlich untergebracht war.
Oben angekommen traf er auf einen Wachposten am Fenster, der den Fortgang des Tumults beobachtete. Der Mann hatte noch nicht einmal Zeit, sich umzudrehen, als er Schritte hinter sich hörte.
Die Klinge schnitt als gebogener, tödlicher Blitz in seine Kehle und trennte ihm fast den Kopf ab. Lautlos brach er zusammen, die Augen vor Erstaunen weit aufgerissen.
Der Skorpion eilte durch den Flur und suchte die Zimmer nach seinem Opfer ab.
Nur eine der Türen war geschlossen, die er ohne Zögern auftrat.
Der Jesuit saß an einem Schreibpult und las, während ein weiterer Wachposten an dem Eckfenster stand und das Schauspiel unten verfolgte.
Der Skorpion stürzte sich auf ihn, entschlossen, ihn schnell zu erledigen, doch der Mann bewies gutes Reaktionsvermögen und Furchtlosigkeit und schaffte es, rechtzeitig seine Waffe zu ziehen.
Das war kein Anfänger, erkannte der Skorpion, als sein Gegner seine ersten beiden Stöße gewandt parierte. Man war offenbar so schlau gewesen, den besten Fechter dem Jesuiten als Leibwächter zuzuteilen.
Der Skorpion stellte sich auf die Fähigkeiten des anderen ein und lockerte seine Hals- und Schultermuskeln. Er wusste, dass er nicht viel Zeit hatte, denn die Wachen auf der Straße konnten jeden Augenblick zurückkommen.
Er wandte eine Finte an und ließ seine Klinge in der staubigen Luft des sonnendurchfluteten Zimmers wirbeln. Sein Gegner reagierte prompt, aber nicht geistesgegenwärtig genug, um den seitlichen Hieb abzuwehren, den er ihm mit todbringender Schnelligkeit versetzte.
Die Klinge traf den Soldaten knapp unterhalb des linken Knies und durchtrennte die Sehnen dort. Der Mann schrie auf und fiel, hob dabei noch seinen Degen, um die lebenswichtigen Organe zu schützen, aber der Skorpion vollführte eine halbe Drehung nach rechts und stach ihm die scharfe Spitze seiner Waffe in den Hals. Blut spritzte in hohem Bogen heraus, und mit dem Blut entwich auch das Leben aus dem Körper.
Der Mörder hielt nicht in seiner Drehung inne und richtete sein Schwert in einer einzigen fließenden Bewegung auf den Jesuiten, der ob der Geschwindigkeit der Ereignisse wie versteinert an seinem Pult sitzen geblieben war.
Die Klinge beschrieb eine saubere, anmutige Kurve, traf den Mönch am Halsansatz und trennte ihm mit einem einzigen Schnitt den Kopf von den Schultern.
Der Leib des Opfers sackte zu Boden, während sein Kopf über die staubigen Holzdielen hüpfte. Das herausschießende Blut zeichnete eine Ellipse aus dunkelroten Tropfen an die Wand.
Mit dem Fuß drehte der Skorpion die Leiche auf den Rücken und bediente sich des Schwerts, um die Kutte hochzuschieben, bis die Oberschenkel entblößt waren.
Die weißliche, schlaffe Haut wies nicht das gesuchte Mal auf.
Er durfte nicht länger verweilen.
So schnell und lautlos, wie er gekommen war, verließ er das Zimmer, lief die Treppe hinunter und hinaus in den Garten, ohne sich noch einmal nach dem Krawall auf der Straße umzusehen.
Innerhalb weniger Minuten befand er sich bereits in der dichten Macchia hinter dem Stall und erklomm erneut den Hang.
Nun standen nur noch zwei Namen auf der Liste.
Nur noch zwei.