KAPITEL XXIII
Befindet sich Königin Christine noch im Theater?«, fragte Bischof de Simara.
»Nein«, anwortete Azzolini, »ich habe persönlich dafür gesorgt, dass sie in ihre Kutsche stieg und in den Palazzo zurückfuhr, ehe ich hierherkam. Ich wüsste nicht zu sagen, ob sie außer sich war vor Angst über das Geschehen oder vor Wut über den unvermeidlichen Abbruch der Oper.«
Der Kardinal schwieg einen Augenblick und betrachtete die traurigen sterblichen Überreste des Ermordeten.
»Wieder ein Jesuit«, bemerkte er schließlich, »und wieder ein Deutscher. Der dritte innerhalb weniger Tage. Und wir sind kein Stück weiter. Wie kommen Eure Ermittlungen voran?«
»Ich habe jeden Mann eingesetzt, der mir zur Verfügung steht, aber im Moment gibt es nichts Neues. Keine Spur, keinen Hinweis, nichts. Eine meiner Informantinnen hat versprochen, mir alsbald eine Nachricht zukommen zu lassen, aber bis jetzt tappen wir noch im Dunkeln.«
»Ich dagegen glaube, auf etwas gestoßen zu sein«, sagte der Kardinal, »auch wenn ich nicht sicher bin, ob es in einem direkten Zusammenhang mit diesen Vorfällen steht. Kurz vor Beginn der Aufführung habe ich mit Pater Kircher gesprochen. Der Gute hat mir anvertraut, dass sowohl Pater Stoltz als auch Pater Klamm mit ihm zusammen im Novizeninternat von Paderborn studiert haben. Er kannte die beiden Jesuiten, versteht Ihr? Ich weiß nicht, ob das etwas zu bedeuten hat, aber es ist immerhin ein Hinweis, dem nachzugehen sich lohnt. Wisst Ihr etwas über diesen ermordeten Mönch hier?«
De Simara schüttelte den Kopf.
»Nur dass Pater Baumgartner aus Köln stammte und seit mehreren Jahren in Rom lebte. Ein eher unauffälliger Mensch, alles in allem. Ein wenig bekannter Altertumsforscher, ein Philologe, um genau zu sein.«
Der Franzose musterte forschend das ausdruckslose Gesicht seines Gegenübers. »Glaubt Ihr, dass auch er in Paderborn studiert hat?«, fragte er, Azzolinis Gedanken erratend.
»Darauf kann uns nur Kircher eine Antwort geben, aber im Moment ist er zu verstört, als dass wir ihn befragen könnten.«
»Wir müssen es aber wissen«, beharrte de Simara. »Es mag taktlos erscheinen, den alten Pater unter diesen Umständen zu belästigen, aber falls er uns eine auch noch so schwache Spur liefern kann, wäre das sehr wichtig. Versucht, mit ihm zu sprechen, ich bitte Euch.«
Achselzuckend ging Azzolini auf Pater Kircher zu und richtete ein paar knappe Worte an ihn, die de Simara nicht verstand.
Pater Kircher nickte zweimal langsam.
»Und wenn…«, überlegte der Franzose laut, als der Kardinal wieder bei ihm war, »wenn… Nein, das ist doch zu weit hergeholt…«
»Fahrt nur fort, Monsieur«, forderte Azzolini ihn auf. »Was wolltet Ihr sagen?«
»Haltet mich nicht für verrückt, Eminenz, aber… nun ja, wir wissen, dass der gesuchte Mann sich in den Jahren, in denen Kircher im Novizeninternat in Paderborn war, irgendwo in Deutschland versteckte. Wir wissen außerdem, dass er sich in diesem Moment in Rom befindet, auch wenn wir keine blasse Ahnung haben, wer er ist oder wie er aussieht. Nehmen wir nun einmal an, dass sein Versteck damals ebenjene Novizenschule war. Das ist natürlich nur eine vage Hypothese, doch die Archive der Gesellschaft Jesu werden traditionell gut gepflegt. Jede kleine Information wird genauestens vermerkt und systematisch aufbewahrt. In diesen Archiven könnten wir nach einem Hinweis suchen, der unsere Vermutungen erhärtet.«
»Ihr habt recht«, sagte Azzolini, »einen Versuch ist es wert. Gleich morgen schicke ich jemanden hin, um Nachforschungen anzustellen. Ich werde mir einen plausiblen Vorwand ausdenken müssen, damit die Gesellschaft keinen Verdacht schöpft, aber das sollte nicht schwer sein. Ich glaube, ich habe den richtigen Mann dafür an der Hand, fähig und diskret. Vorläufig werden wir weiter nach Plan vorgehen, ohne in unserer Wachsamkeit nachzulassen. Vielleicht wissen wir morgen ja mehr. Diese Spionin, die Ihr vorhin erwähnt habt, meint Ihr, sie könnte uns Informationen liefern, um…«
»… ihn zu identifizieren?«, beendete der Franzose die Frage.
»Genau.«
»Ich hoffe es. Wenn uns das gelänge, wäre es ein großer Fortschritt. Aber wir sollten auch die anderen Spuren weiterverfolgen und nichts unversucht lassen.«
Im Gegensatz zu ihrem Freund hatten Zane und Beatrice keine Schwierigkeiten, das Theater zu verlassen. Als die enthauptete Leiche gefunden wurde und Panik ausbrach, hielten sie sich gerade in der Nähe des Künstlereingangs auf und konnten daher schnell mit dem Strom der Menge hinausgelangen.
Draußen hielten sie sich noch eine Weile inmitten des Gedränges auf und versuchten, Fulminacci irgendwo unter den Leuten zu entdecken und den von Mund zu Mund gehenden Gerüchten und Vermutungen ein paar zusammenhängende Fakten zu entnehmen. Die Nachrichten, die sie aus genauso zahlreichen wie unzuverlässigen Quellen bekamen, lauteten sehr unterschiedlich: Einige behaupteten, es sei ein Mordanschlag auf die Königin von Schweden verübt worden, andere sprachen von einem Ehrenduell, wieder andere von einem rätselhaften Mord an einem Geistlichen oder stellten noch makabrere und wildere Spekulationen an.
Es war unmöglich, Wahres von Flunkereien zu unterscheiden, doch nach den Ereignissen der vergangenen Tage hielt Beatrice die These von dem ermordeten Geistlichen für die wahrscheinlichste.
Lange drängten sich die beiden suchend durch den Menschenauflauf, aber keine Spur von Fulminacci. Dann erschienen plötzlich Trupps von Schergen, die die Zuschauer wenig methodisch nach irgendwelchen Hinweisen oder Augenzeugenberichten befragten. Beatrice und Zane kamen überein, dass es zu gefährlich wäre, noch länger zu verweilen, und machten sich schweren Herzens auf den Heimweg.
»Nanni ist einer, der sich zu helfen weiß«, sagte Beatrice, während sie in Richtung des Flusses davongingen. »Ich bin sicher, dass er es geschafft hat zu entwischen. Außerdem können wir ihm unter diesen Umständen sowieso nicht helfen.«
Ihr stummer Begleiter nickte ernst.
Sie mieden die großen Hauptstraßen und machten einen Umweg über Nebenstraßen und Gassen. Je weiter sie sich von der Gegend um das Theater entfernten, desto mehr verzweigte sich der Menschenstrom, der sich aus dem Gebäude ergossen hatte, in viele kleine Bäche. Zahlreiche Schaulustige standen immer noch vor dem Haupteingang herum, aber die massive Präsenz der Wachen hatte die meisten vertrieben.
Beatrice und Zane trugen immer noch ihre Bühnenkostüme und mussten sich daher trotz der warmen Abendluft fest in ihre Umhänge hüllen.
Als sie in die Nähe des Ghettos kamen, bemerkten sie, dass alle Kreuzungen von bewaffneten Männern bewacht wurden. Es waren aber nicht die üblichen Wachen, denn sie trugen keine Uniform und patrouillierten auch nicht durch die Straßen, sondern hielten unbeweglich die Stellung.
Die Häscher der Inquisition planten eine neue Schandtat.
Die beiden kehrten um, gingen ein Stück vom Fluss weg und bogen in eine Reihe von Gassen ein, die in einen wenig bevölkerten Teil der Stadt führten.
Dort war das niedrigst gelegene Viertel Roms, das bei starken Regenfällen noch mehr vom Tiber überflutet wurde als das Ghetto. Im Laufe der Jahrhunderte, seit seine Bewohner, anders als die jüdische Gemeinde, frei entscheiden durften, wo sie sich niederließen, hatten immer mehr Menschen das Viertel verlassen, das jetzt praktisch leer stand. Dadurch waren die sowieso schon heruntergekommenen Behausungen noch mehr verfallen und boten denen, die sich dorthin verirrten, einen trostlosen und gespenstischen Anblick, besonders bei Nacht. Wie immer in solchen Fällen war die Gegend zu einem Schlupfwinkel für dunkles Gelichter und arme Schlucker geworden, welche die Ruinen zu ihrem Zufluchtsort erkoren hatten. Die Wachen betraten das Viertel bei Tag nur selten und ungern und nach Sonnenuntergang überhaupt nicht.
Zane und Beatrice gingen vorsichtig weiter und spähten jedes Mal zuerst um die Ecke, ehe sie in eine Gasse einbogen oder einen kleinen Platz überquerten. Hin und wieder, wenn sie um ein eingestürztes Haus oder halb zerstörte Thermen herumgingen, sahen sie hinter den zerbrochenen Mauern den Widerschein eines Lagerfeuers.
Meistens saßen halb verhungerte Bauern darum, die vom Land in die Stadt geflohen waren, um der harten Fron für die gierigen Großgrundbesitzer zu entkommen und etwas zu essen zu finden. Manchmal waren es auch Grüppchen von Hirten, die diese abgelegenen Orte aufsuchten, um ihre Herden für die Nacht unterzubringen und morgens auf die Märkte zu treiben.
Zuweilen jedoch verbargen sich in den Höhlen aus Mauerresten und Trümmern gefährliche Banden von Straßenräubern, Dieben und Halsabschneidern, ruchlose Verbrecher, die nichts zu verlieren hatten.
Zum Glück fand sich Zane mit verbundenen Augen in dieser Unterwelt zurecht; er kannte jede Kluft, jeden Durchgang, jeden Schleichweg. Bei seinen geheimnisvollen Besorgungen für die Wahrsagerin hatte er die finsteren Gassen schon unzählige Male durchkämmt und wusste genau, welche Bereiche man meiden musste und welche man relativ sicher durchqueren konnte.
Als sie zum Fluss kamen, war die Nacht schon weit fortgeschritten. Nur eine schmale Mondsichel spendete ein schwaches, milchiges Licht, doch der Slawe bewegte sich sicher und ohne Zögern, als verfügte er über einen sechsten Sinn.
Er stieg zum Ufer hinunter und führte seine Begleiterin zu einem winzigen Anleger, wo ein kleines Boot mit flachem Boden an einem rostigen Metallring festgemacht war.
Das Boot war mit Laubwerk bedeckt, damit es sowohl vom Wasser als auch vom Ufer aus nicht leicht zu sehen war. Zane entfernte die Tarnung, half Beatrice beim Einsteigen und begann kräftig zu rudern.
Es war nicht einfach, den Fluss in einer derart dunklen Nacht zu überqueren, zumal die Regenfälle des Frühjahrs das Wasser hatten stark anschwellen lassen, sodass die sonst ruhige Strömung wild und bedrohlich wirkte. Zane jedoch stammte aus einem Land von Seefahrern und hatte fast sein ganzes Leben auf dem Wasser zugebracht – weder die starke Strömung noch die häufigen Strudel erschreckten ihn.
Mithilfe seiner herkulischen Kräfte und seiner Erfahrung überwanden die beiden das nasse Hindernis ohne Gefahr.
Das Boot legte mit einem dumpfen Schlag am anderen Ufer an, wo Zane es festmachte. Anschließend kletterten sie auf eine Mole aus Stein, die noch von den alten Römern stammte und auf der sie gut vorankamen.
Keine Menschenseele begegnete ihnen, und innerhalb von wenigen Minuten hatten sie die Hütte der Wahrsagerin erreicht.
Kaum waren sie durch die Tür getreten, empfing sie eine vertraute Stimme: »Teufel, ihr habt aber lange gebraucht! Ich wollte mich gerade schlafen legen.«