KAPITEL XXXVIII

 

Von hier aus müsst Ihr allein weitergehen, Signore. Viel Glück.« Der Skorpion spähte erneut durch das Gebüsch, hinter dem er sich verbarg, und beobachtete den langen, verlassenen Bogengang. In der Dunkelheit konnte er die Säulenreihe um die Parkseite des Hauses kaum erkennen.

Nun, da er dem Aufenthaltsort seines nächsten Opfers ganz nahe war, fühlte der alte Auftragsmörder, wie die wohlbekannte Ruhe ihn überkam, eine Ruhe, die der Vollendung der Tat, welche den Kern seines finsteren Gewerbes bildete, immer vorausging.

Die Umstände, die ihn hierhergeführt hatten, kamen ihm im Nachhinein wie ein langes, traumähnliches Intermezzo vor. Die Verkleidung als Gardist, die Flucht - alles erschien so merkwürdig, so ungewöhnlich, so unerklärlich.

Man hatte ihn in ein ärmlich eingerichtetes Zimmer mit niedriger Decke geführt, in dem er allein zurückgeblieben war und auf den Mann gewartet hatte, der anscheinend der Urheber des Plans zu seiner Rettung war. Beim Hinausgehen hatten seine Begleiter die einzige Tür des Zimmers abgeschlossen, was ihn nicht wenig beunruhigte. Als das Schloss wieder aufschnappte, war die Sonne schon seit einer geraumen Weile untergegangen.

Die Tür ging auf, und ein untersetzter Mann trat ein, dessen ohnehin schon gewöhnliches Gesicht noch durch einen schwarzen, ungepflegten Bart verdüstert wurde. Nur seine Augen leuchteten fiebrig und wach.

Die beiden Männer musterten sich lange schweigend, als wollte jeder sein Gegenüber einschätzen, ehe er ein Gespräch begann. Nach langem Zögern stellte sich der Fremde vor, und der Skorpion erfuhr, dass er sich Lapo Fieschi gegenübersah, dessen Ruf als Spion ihm durchaus bekannt war.

»Seid Ihr wohlauf?«, fragte Fieschi.

Der Skorpion nickte.

»Das freut mich. Ihr fragt Euch gewiss, warum ich mir die Mühe gemacht habe, Euch von meinen Männern in Sicherheit bringen zu lassen. Nein, keine Sorge, ich bin überzeugt, dass Ihr Euch auch allein aus der Klemme befreit hättet. Euer Ruhm ist alles andere als unverdient, das weiß ich. Leider ist es mir nicht erlaubt, Euch die Gründe zu nennen, die meinen Auftraggeber dazu bewogen haben, mich mit Eurer Rettung zu betrauen.«

»Was wollt Ihr von mir?«, fragte der Skorpion, den dieses Gerede verdrossen machte.

»Wollen?«, erwiderte Fieschi. »Nichts, Messere, wir wollen gar nichts von Euch. Im Gegenteil, ich möchte Euch fragen, wie wir Euch helfen können. Glaubt mir, wir haben nichts anderes im Sinn, als mit Euch zusammenzuarbeiten. Das sind meine Anweisungen, und ich gedenke, die Zusagen an meinen Auftraggeber einzuhalten.«

»Es ist wohl zwecklos, Euch danach zu fragen, wer dieser mysteriöse Auftraggeber ist.«

»Es schmerzt mich, Euch bestätigen zu müssen, dass er im Augenblick nicht die Absicht hat, seine Identität zu enthüllen. Und was seine Ziele angeht, so könnte ich sie Euch nicht einmal verraten, wenn ich es wollte, da ich selbst nicht das Geringste darüber weiß. Abgesehen von diesen beiden Ausnahmen stehe ich vollkommen zu Eurer Verfügung.«

»Ich verstehe Eure Lage gut«, sagte der Skorpion, »denn mir ergeht es gerade ähnlich. Das Unternehmen, das ich zu Ende führen muss, scheint ebenfalls geheimnisumwittert zu sein. Mir sind weder die taktischen noch die strategischen Ziele bekannt, aber das ist eine Unannehmlichkeit, mit der wir es in unseren Berufen häufig zu tun haben. Ich fühle mich allerdings verpflichtet, Euch darauf hinzuweisen, dass die Art meines Auftrags Euch zuwider sein könnte.« »Darüber macht Euch keine Gedanken. Ich pflege gewisse Fragen nicht zu stellen, und was mein zartbesaitetes Wesen angeht, so glaube ich behaupten zu können, schon alles gesehen zu haben, was es zu sehen gibt, ohne dass mein Gewissen mir größere Probleme bereitet hätte. Außerdem denke ich, die Natur des Auftrags, der Euch nach Rom geführt hat, bereits verstanden zu haben.« »Sehr gut, das erspart uns viel unnötiges Geschwätz. Kennt Ihr den Palazzo Salvaneschi?«

Bei der praktischen Planung eines Vorhabens sprachen sie dieselbe Sprache, stellten der Skorpion und Fieschi bald fest. Beide waren sie Männer der Tat, die nicht viel von langwierigen Betrachtungen hielten, aber sie besaßen auch genug Erfahrung, um riskante Schritte zu vermeiden und eine gründliche Vorbereitung bis ins Detail kopfloser Verwegenheit vorzuziehen.

Der Skorpion sah sich gezwungen, seinem Retter die Identität seines nächsten Opfers mitzuteilen: Pater Eckart, Hauslehrer und Bibliothekar bei der adeligen Familie Salvaneschi.

Auf diese Weise erfuhr er, dass der Palazzo, in den er sich einschleichen musste, über einen geheimen Zugang verfügte, von dem vermutlich noch nicht einmal die Bewohner etwas wussten. Das Haus war Anfang des vergangenen Jahrhunderts erbaut worden, zu einer unruhigen, kriegsgebeutelten Zeit also, deren unrühmlicher Tiefpunkt die Plünderung Roms durch die Landsknechte Kaiser Karls V. gewesen war. Als Vorsorge gegen ähnliche Katastrophen hatten die Planer des herrschaftlichen Baus ihn mit einem Geheimgang versehen, der es seinen Bewohnern ermöglichte, ihn im Notfall unbemerkt zu verlassen. In Laufe der Jahrzehnte hatte der Palazzo mehrfach die Besitzer gewechselt, bevor die Salvaneschis ihn vor rund zwölf Jahren erworben hatten. Die Situation in der Ewigen Stadt war schon längst viel friedlicher geworden, die Gefahr einer Besetzung durch ausländische Truppen gering, sodass der Geheimgang allmählich in Vergessenheit geraten war. Fieschi hatte ihn bei einem seiner Erkundungsgänge der antiken Katakomben, die sich unter den Straßen und Plätzen der Stadt hindurchwanden, per Zufall entdeckt. Seine genaue Kenntnis dieses unterirdischen Wegenetzes war ihm schon häufig bei seinen verborgenen Aktivitäten zustattengekommen.

Der Gang führte ans Flussufer nahe der Engelsbrücke, aber der Genueser hatte herausgefunden, dass man auch durch einen engen, in den nackten Fels gehauenen Seitengang in ihn hineingelangen konnte, einen der Ausläufer des weiten Geflechts von Katakomben, das sich unter einem Großteil des Viertels ausbreitete.

Fieschi schickte zwei seiner Männer zur Erkundung aus, die bestätigten, dass der Wohnsitz der Salvaneschi dicht von Azzolinis Wachen umstellt war, und zwar nicht nur am Haupttor, sondern auch an den Nebeneingängen. Weitere bewaffnete Männer patrouillierten um das Gebäude herum und bewachten auch die Mauer, die den kleinen, zum Palazzo gehörigen Park umschloss. Auf eine der üblichen Weisen einzudringen war also wenn nicht unmöglich, so doch recht schwierig und gefahrvoll, weshalb die Existenz eines unbekannten Zugangs einen unschätzbaren Vorteil darstellte.

Es wurde beschlossen, dass der Auftragsmörder von einem Mitglied von Fieschis Organisation begleitet werden sollte, einem erfahrenen Mann, der das Tunnellabyrinth wie seine Westentasche kannte und ihn bis zur Mündung des Gangs in einen versteckten Winkel des Parks bringen würde. Von dort an würde der Skorpion auf sich gestellt sein. Fieschi wollte nicht das Risiko eingehen, dass im Falle einer Panne sein Mann gefasst würde und die Spur bis zu ihm zurückverfolgt werden könnte. Der Führer war ein kleiner, magerer, schweigsamer Mann, der an ein leise huschendes Nagetier erinnerte.

Sie hatten die Katakomben direkt von Fieschis Haus aus betreten, durch einen engen Gang im Keller, der in eine große unterirdische Zisterne voller Schutt und Geröll hineingegraben war. Dieser Durchgang führte sie in das ausgedehnte Netz von Tunneln, das ein Randgebiet der Katakomben bildete. Der Führer bewegte sich mit sicheren Schritten durch die von seiner Fackel kaum erhellte Dunkelheit. Nachdem sie die schmalen Gänge mit den unzähligen Nischen, in denen die Knochen vieler Generationen von Römern bleichten, hinter sich gelassen hatten, kamen sie durch breitere und höhere Tunnel, deren Wände oft mit Graffiti und kleinen Freskenbildern von Fischen und Tauben – heiligen Symbolen der Frühchristen – geschmückt waren.

Sie kamen noch durch viele solcher unterirdischer Abschnitte, schlüpften durch Engpässe und stiegen vom Zahn der Zeit angenagte Treppen hinauf, bis sie sich in einer merkwürdigen kleinen Höhle wiederfanden, einer Art Grotte eher, mit lauter Stalagmiten und Stalagtiten. Diese Formationen erkannte das stets aufmerksame Auge des Skorpions sofort als künstlich, und er verstand, dass sie sich im Innern eines Zierbrunnens befanden. Das bestätigte sich, als sie auf den Ausgang zuhielten und er mehrere verfallene Skulpturen von Satyrn und Nereiden bemerkte, aus deren Mündern Wasserstrahlen hätten hervorschießen sollen. Doch der Brunnen war offensichtlich schon lange stillgelegt, was man auch an dem wild wuchernden Gestrüpp sah, welches das kleine Bauwerk belagerte.

Am Ausgang der Grotte blieb der Führer stehen. »Meine Aufgabe ist vorläufig beendet«, sagte er. »Ich werde hier auf Euch warten, bis der Mond hinter dem Palazzo verschwunden ist. Danach müsstet Ihr Euch allein durchschlagen.«

Der Park lag still und verlassen da. Weder Mensch noch Tier störte den Frieden dieses Ortes, und nur das Rascheln des Laubwerks im nächtlichen Windhauch war zu hören. Der Skorpion merkte erst jetzt, dass der Nordwind sich gelegt hatte und die Wolkendecke endlich aufgerissen war, um die Mondsichel und einen fast klaren Himmel zum Vorschein zu bringen. Je weiter er sich von dem Brunnen entfernte, desto offensichtlicher war die Vegetation von Menschenhand gezähmt worden.

Der Bereich direkt vor dem Eingang des Palazzos bestand aus einer unbegrünten Kiesfläche, wenn man von den zwei schmalen Beeten mit niedrigen Rosensträuchern absah, die schon in voller Blüte standen. Darauf achtend, dass der Kies unter seinen Füßen möglichst wenig knirschte, überquerte der Skorpion den kleinen Platz und schlüpfte schnell in den Schatten, den die dicken Mauern des Hauses warfen.

Beim Näherkommen hatte er keine erleuchteten Fenster in diesem Flügel gesehen, was aber nicht bedeuten musste, dass drinnen niemand mehr wach war. Deshalb näherte er sich mit größter Umsicht den Terrassentüren, durch die man in die Eingangshalle gelangte.

Der Skorpion drückte die Klinke einer der Türen herunter und stellte fest, dass niemand sich die Mühe gemacht hatte, die Riegel vorzulegen. Geräuschlos durchquerte er die Halle, wobei er sich an die schlecht beleuchteten Ecken hielt, und erreichte die Prunktreppe. Von Fieschis Informanten wusste er, dass Pater Eckart zusammen mit den Dienstboten in der dritten Etage wohnte. Es gab also keinen Grund zu zögern. Wohl wissend, dass nun der gefährlichste Teil seines Plans kam, begann der Mörder die Treppe hinaufzuschleichen. Da Vorsicht ihn hier nicht weiterbrachte, galt es, schnell und entschlossen zu handeln.

Mit leichten Schritten lief er die Marmorstufen empor, nahm aber weder in der ersten noch in der zweiten Etage irgendein menschliches Geräusch wahr. Das große Haus wirkte so ausgestorben, dass man glauben konnte, seine Bewohner hätten es verlassen. Einen Augenblick lang fürchtete er, es könnte sich tatsächlich so verhalten, doch der Gedanke an die Wachen draußen beruhigte ihn. Niemand ließ ein leeres Haus bewachen.

Auf dem Treppenabsatz im dritten Stock hielt der Skorpion kurz inne, um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Er wusste, dass Pater Eckarts Zimmer sich im linken Flügel befand. Er musste sich also links halten und nach etwa zehn Metern wieder links in den ersten Korridor abbiegen. Das Zimmer des Jesuiten war das vorletzte auf der rechten Seite.

In fast völliger Dunkelheit folgte der Skorpion der Beschreibung, die ihm sein Gedächtnis diktierte, und als er den richtigen Korridor gefunden hatte, sah er mit einiger Erleichterung, dass es am anderen Ende ein hohes Fenster gab, durch welches das schwache Licht des Nachtgestirns hereinfiel. Mit abgezirkelten Bewegungen zog er sein Schwert aus der Lederscheide und näherte sich der anvisierten Tür, an die er ein Ohr hielt, um zu hören, ob sich dahinter etwas regte. Er verharrte eine ganze Weile in dieser Stellung, vernahm aber nur ein leises Schnarchen.

Die Sache versprach glatter zu verlaufen, als er gedacht hatte.

Er legte die linke Hand auf den Türgriff und drückte ihn unendlich langsam herunter. Es wäre unverzeihlich, durch eine kleine Unvorsichtigkeit eine Unternehmung zu gefährden, die sich bis dahin als relativ einfach erwiesen hatte.

Schließlich war der Griff unten, und der Skorpion öffnete vorsichtig die Tür. Als sie weit genug offen war, schlüpfte er hinein und suchte sogleich mit den Augen nach dem Bett, in dem Pater Eckart liegen musste.

Das Zimmer ging nach Osten, weshalb das Mondlicht direkt durch die zwei großen Fenster hereinfiel, doch der Mörder hatte wenig Zeit, das zu bemerken. Denn kaum war er eingetreten, spürte er einen leichten Stich unterm Kinn.

Als er nach links blickte, sah er das Schimmern einer Degenklinge, die geradewegs auf seine Kehle gerichtet war.

»Endlich lernen wir uns einmal kennen, Skorpion«, sagte Capitaine de la Fleur, wobei sich ein Grinsen auf seinem gebräunten Gesicht ausbreitete.