KAPITEL XXI

 

Zane drückte sich hier und da herum und versuchte, möglichst unbefangen auszusehen. Er mischte sich unter eine Gruppe von Schneiderinnen, die gerade die Bühne überquerte, und erreichte das andere Ende, wo er sich auf einem Hocker niederließ. Wenn er saß, war seine Größe kein Problem mehr, und er hoffte, dort so lange ausharren zu können, bis seine Gefährten Valocchi und die Zeichnung gefunden hatten, die ihnen so wichtig war.

Nach einer Weile kam Beatrice zu ihm.

»Ich habe jetzt alles abgesucht«, berichtete sie, »aber keine Spur von dem Flamen oder Nanni gefunden. Hast du etwas entdeckt?«

Der Slawe schüttelte den Kopf.

»Der einzige Ort, an dem ich noch nicht nachgesehen habe, ist das Kulissenlager auf der anderen Bühnenseite. Wir müssen irgendwie dorthin kommen, bevor die Aufführung anfängt, sonst haben wir keine Möglichkeit mehr.«

Da sie nicht den leeren, offenen Raum durchqueren wollten, beschlossen sie, sich zwischen den gewaltigen Bühnenbildern hindurch zu dem Lager im hinteren Teil durchzuschlagen.

Das war kein leichtes Unterfangen. Die Rückseite der Kulissen bestand aus einem Wald von Gerüsten und gespannten Seilen, mit denen die schweren Stellwände befestigt waren, und mehr als einmal musste Zane seiner Begleiterin helfen, über die wuchtigen Gestelle hinwegzuklettern. Dafür war es hier vergleichsweise ruhig. Nur wenige Bühnenarbeiter liefen herum und zurrten die Trossen und Gegengewichte fest, mit denen die beweglichen Teile bei den Kulissenwechseln hochgehievt wurden. Keiner achtete auf sie.

Schließlich erreichten sie die andere Seite, gingen um eine letzte feste Kulisse herum und fanden die Tür zum Lagerraum.

Das Erste, was sie sahen, war die in einer Ecke liegende, gefesselte und zur Wand gedrehte Gestalt des Assistenten.

Der Mann war wieder zu sich gekommen und wimmerte durch den Knebel in seinem Mund hindurch, um Hilfe herbeizurufen. Zane warf seiner Gefährtin einen fragenden Blick zu, die jedoch nur die Achseln zuckte und ratlos die Hände ausbreitete.

Der Riese beugte sich über den Gefesselten, der sie nicht hereinkommen sehen hatte, und betrachtete ihn eine Weile verdutzt. Dann kam er offenbar zu einer Entscheidung und versetzte dem Unbekannten einen gezielten Faustschlag in den Nacken. Der hörte sofort auf, sich zu winden, und verfiel erneut in tiefe Bewusstlosigkeit.

Diesmal war es Beatrice, die ihn fragend ansah, worauf Zane ebenfalls die Achseln zuckte und die Hände ausbreitete.

»Scheint sonst keiner da zu sein«, sagte die Kartenlegerin, »aber wir sollten uns trotzdem umsehen. Wäre ja möglich, dass Valocchis Zeichnungen hier irgendwo herumliegen.«

Als er seinen Namen hörte, steckte der Flame den Kopf hinter dem großen ionischen Giebel hervor.

»Jezus Cristes! Kann man denn heute Abend nie seine Ruhe haben?«

Beatrice und Zane kamen herbei, sodass das Liebespaar sich schon wieder bedecken musste.

»Bist du Valocchi, der Maler?«, fragte Beatrice.

»Besser wär’s, ich wär ein anderer«, antwortete der wohlbeleibte Flame. »Ihr seid schon die Zweiten, die mich suchen. Zuerst Fulminacci, jetzt ihr. Hier hat man nie seine Ruhe!«

»Wo ist Fulminacci? Wir suchen ihn wie eine Nadel im Heuhaufen.«

»Heuhaufen? Hier gibt es keine Heuhaufen. Ich verstehe nicht…«

»Lass gut sein. Wo ist Fulminacci hin, zum Teufel?«

»Ach, der sucht seine Zeichnung. Glaubt, dass er sie unter meinen findet. Ich hab ihm gesagt, sie sind in der Foyerkammer, oben im vierten Rang. Darauf sagt er, gut, ich geh dahin. Also hab ich ihm den Schlüssel für die Kammer gegeben und ihm erklärt, wie er über die Hintertreppe dort raufkommt. Er ist gegangen, und ich hab mich wieder um meine Angelegenheiten gekümmert. Wär sehr freundlich, wenn auch ihr jetzt verschwinden würdet.«

»Einen Moment noch. Gibt es im vierten Rang einen weiteren Ausgang?«

»Nein, nur den Hauptausgang. Entweder geht Fulminacci da raus oder er kommt hierher zurück. Keine andere Möglichkeit. Würdet ihr jetzt bitte gehen?«

Zane und Beatrice bedankten sich mit einem Nicken und gingen zur Tür.

»God zy dank!«, rief Valocchi und stürzte sich wieder auf seine Eroberung.

Bevor sie den Bühnenraum betraten, besprach sich Beatrice mit dem Slawen.

»Ich glaube, es ist keine gute Idee, Nanni suchen zu gehen. Wir sind nicht passend gekleidet, und du ragst überall heraus wie ein Berg. Außerdem halte ich es für ausgeschlossen, dass er in seiner Aufmachung als griechischer Kämpfer zum Haupteingang hinausgeht. Er wird wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. Wenn er die Zeichnung gefunden hat, wird er zwangsläufig dort vorbeikommen.«

Zane nickte verstehend, worauf die beiden hinter den Kulissen zur anderen Bühnenseite zurückkletterten.

Der Slawe setzte sich hinter den jungen Schneiderinnen auf seinen Hocker, während Beatrice sich einer Gruppe von Tänzerinnen anschloss, die ähnliche Kostüme trugen wie sie.

Das Zwischenspiel schien ewig zu dauern. Fulminacci saß wie auf glühenden Kohlen und wartete darauf, dass die Leute endlich wieder in ihre Logen gingen, damit er sich zu seinen Freunden hinunterstehlen konnte. Obwohl er jetzt etwas weniger auffällig gekleidet war, hielt er es nicht für ratsam, das Theater durch den Haupteingang zu verlassen, wo es vor Lakaien nur so wimmelte, die ihn bestimmt anhalten würden. Leichter wäre es, sich durch den Dienstboteneingang zu verdrücken, wo sich dann seine Spur in den umliegenden Gassen verlieren würde.

Nach schier endlosem Warten, als er schon glaubte, sein rechtes Ohr sei mit dem Holz der Tür verwachsen, hörte er das Geräusch vieler Schritte, was darauf schließen ließ, dass die Zuschauer ihre Plätze wieder einnahmen. Der Auftritt Pisaninos stand bevor, des Kastraten, von dem man sich Wunderdinge erzählte. Das Publikum würde seine Darbietung sicher gebannt verfolgen, und auch die weniger Musikbegeisterten würden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, eine Stimme zu hören, die die größten Theaterhäuser Europas erobert hatte. Flink wie ein Wiesel sauste der Maler aus der Kammer und durch das halbkreisförmige Foyer zu der Tapetentür, durch die er hinunter zur Bühne gelangen würde.

Doch wenn man vom Pech verfolgt ist, wie die Philosophen wissen, kann man noch so schnell laufen. Direkt in der Nische, in der die kleine Tür verborgen war, saßen ein Edelmann und eine elegante Dame, die ihr Techtelmechtel offensichtlich für wichtiger erachteten als Pisaninos Kunst.

Der Maler musste mitten im Lauf bremsen und schlitterte über den Parkettboden. Da es hier nicht weiterging, entschied er sich, alles zu riskieren und zur Haupttreppe abzubiegen. Wenn er Glück hatte, schaffte er es bis zum dritten Rang und konnte von dort aus die Geheimtreppe nehmen.

In der Zwischenzeit hatte Pisanino, nichts ahnend von den Schwierigkeiten des armen Malers, den ersten Teil seiner Arie beendet, ein langes Largo in feierlichen Molltönen, und widmete sich nun mit viel Hingabe und Können den Koloraturen, die als Höhepunkte seines Repertoires galten. Doch Fulminacci hatte nicht die Muße, der Stimmakrobatik des großen Sängers zu lauschen, weil er wie ein Besessener durchs Theater rannte.

Vier Stufen auf einmal nehmend lief er die Treppe hinunter und durch den Korridor der nächsten Etage auf die kleine Tür zu, die seine vorläufige Rettung sein würde.

Der Korridor war leer, und er kam ungehindert zu der Tür, nur dass sie leider abgesperrt war. Ihm blieb keine Zeit, das Schloss aufzubrechen, selbst wenn er ein geeignetes Werkzeug dabeigehabt hätte, also verwarf er den Gedanken schnell wieder.

Mit einem verzweifelten Aufstöhnen rannte Fulminacci weiter.

Er würde es im nächsten Stockwerk wieder versuchen, in der Hoffnung, dass die Tür dort nicht verschlossen wäre. Andernfalls musste er sich etwas Neues ausdenken.

Zum Glück begann der Sänger seine Arie noch einmal von vorn, da das Publikum zum richtigen Zeitpunkt »da capo« gerufen hatte.

Wie im Flug lief der Maler die zweite Treppe hinunter, stieß sich dabei mit den Händen an der Wand ab, um nicht an Schwung zu verlieren, und sauste wie eine Musketenkugel durch den Flur des zweiten Rangs.

Als er den Türgriff drückte, ohne auf Widerstand zu stoßen, fiel er beinahe in Ohnmacht vor Erleichterung. Er wollte gerade die Wendeltreppe in Angriff nehmen, als er aus dem Augenwinkel eine Person in einem langen Mantel aus einer der nächstgelegenen Logen schlüpfen sah. Sie machte sich noch nicht einmal die Mühe, die Tür hinter sich zu schließen. Ohne Zweifel handelte es sich um dieselbe Person, die er vorhin schon gesehen hatte, denn er bemerkte das leichte Nachziehen des rechten Beins. Die verhüllte Gestalt entfernte sich schnell und lief die Treppe zum unteren Rang hinunter.

Il Pisanino trillerte immer noch in den höchsten Tönen und schien nicht so bald aufhören zu wollen; ansonsten war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Jetzt, da er beinahe in Sicherheit war, wurde Fulminacci ruhiger, und seine angeborene Neugier gewann wieder die Oberhand.

Nur ein schneller Blick in die Loge, dachte er. Ich spähe kurz mal hinein, und dann nichts wie weg!

Er war sich nicht ganz im Klaren, weshalb dieser doch eher harmlose Zwischenfall ihn so neugierig gemacht hatte, es sei denn wegen des neuerlichen Gefühls, den geheimnisvollen Operngast von irgendwoher zu kennen.

Er kehrte um und lief zum offenen Eingang der Loge.

Ein männlicher Körper in einem langen schwarzen Gewand lehnte schlaff an einem Pfeiler. Doch es waren nicht die Töne aus Pisaninos goldener Kehle, seien sie auch noch so himmlisch, die ihn hatten schwach werden lassen.

Jemand hatte dem Mann den Kopf abgeschlagen, der nun auf der Brüstung der Loge prangte, von wo aus er mit leerem Blick zur Tür starrte.