KAPITEL III

 

Vor der Basilika hatte sich eine große Menge von Schaulustiggen und Nichtstuern versammelt, die lärmend auf das Hauptportal zudrängten.

Der Maler ließ sich nicht entmutigen. Unter Einsatz seiner Ellbogen gelang es ihm, sich einen Weg durch den Menschenauflauf zu bahnen und in die Kirche zu gelangen.

Drinnen herrschte ein noch größeres Gedränge als draußen. Alles schob und drückte auf die Kapelle im rechten Seitenschiff zu, in der sich das Verbrechen ereignet hatte.

Fulminacci hatte diese Kirche bereits früher besucht, insbesondere, um die prächtigen Mosaiken der von Ponzio entworfenen Cappella Paolina zu studieren, von der er sich zu dem Hintergrund eines seiner Gemälde hatte inspirieren lassen.

Jetzt jedoch musste er sich in die entgegengesetzte Richtung zur Kapelle des heiligen Sakraments vorarbeiten, die Papst Sixtus V. gewidmet und Ende des vergangenen Jahrhunderts fertiggestellt worden war.

Mit großer Mühe schob er sich weiter, aber das Gedränge wurde immer dichter, und trotz seines energischen Rempelns machte er nur wenig Fortschritte. Als er etwa die Hälfte geschafft hatte, stolperte er über den Stab eines Bettlers, der sich wie er zum Ort des Verbrechens durchboxen wollte. Der Maler verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie, glitt eine glatte Marmorstufe hinunter und landete hinter dem Sockel einer Statue. Um sich wieder aufzurichten, stützte er sich mit der rechten Hand an dem Sockel ab, wobei seine Halt suchenden Finger sich unwillkürlich um einen runden, kleinen Gegenstand schlossen.

Ein Blick genügte ihm, um zu erkennen, dass es sich um etwas Kostbares handelte, einen schimmernden Stein in einer silbernen, fein ziselierten Fassung. Blitzschnell ließ er das Schmuckstück in seiner Rocktasche verschwinden und hoffte, dass der rechtmäßige Besitzer das heimliche Manöver nicht mitbekommen hatte. Als er sich umblickte, stellte er fest, dass niemand zu ihm hinsah, denn alle Augen waren auf die Kapelle zu seiner Rechten gerichtet. Er würde später noch Zeit und Gelegenheit haben, seinen Fund zu begutachten, wenn er dieses Gewühl erst einmal hinter sich gelassen hatte.

Wieder auf den Beinen, kämpfte er sich weiter durch, bis er endlich eine Stelle erreichte, von der aus er den Tatort überblicken konnte.

Die Leiche lag in der Nähe eines prunkvoll geschmückten Altars und war mit einem Tuch bedeckt, sodass man nur die Füße sehen konnte.

Die Menge wurde mit Müh und Not von einem Dutzend Soldaten in päpstlicher Uniform auf Abstand gehalten, die sich der langen Griffe ihrer Piken bedienten, um dem Ansturm Einhalt zu gebieten.

Neben der sterblichen Hülle des Mönchs bemerkte Fulminacci einen Offizier der Wache, zwei wichtig aussehende Männer in dunkler Kleidung und einen hochrangigen Geistlichen. Sie sprachen verhalten miteinander.

Auf einen Wink des Prälaten hin hob der Offizier einen Zipfel des Tuchs an, damit der Geistliche, der offenbar gerade erst eingetroffen war, die Leiche sehen konnte.

Das Opfer lag mit seitlich ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, in einer recht gemessenen Haltung also, wenn man die Umstände seines Dahinscheidens bedachte. Der abgetrennte Kopf war auf seine Brust gesetzt worden. Nach dem vielen, ringsum verspritzten Blut zu urteilen, musste der Leichnam von denjenigen, die als Erste herbeigeeilt waren und ihn gefunden hatten, so hergerichtet worden sein.

Fulminacci holte die provisorische Brille aus der Tasche, die Pater Kircher ihm gegeben hatte, und setzte sie sich auf die Nase, um alles genauer betrachten zu können. Soweit er es aus dieser Entfernung abschätzen konnte, war der tödliche Hieb mit viel Kraft und einer extrem scharfen Klinge ausgeführt worden. Die Ränder der grausigen Wunde wirkten glatt und ebenmäßig, ohne Risse.

Aus einer Tasche an seinem Gürtel zog der Maler einen kleinen Papierblock und einen feinen Kohlestift hervor, um damit die Szene detailgenau abzuzeichnen. Was ihn am meisten interessierte, war der Ausdruck auf dem Gesicht des Toten.

In den Jahren, die er bereits in Rom lebte, hatte er mehreren öffentlichen Enthauptungen von Straßenräubern und Mördern beigewohnt, denn diese Ereignisse kamen ziemlich häufig vor und zogen stets eine große Zuschauermenge an.

In der Mehrheit der Fälle handelte es sich bei den Verurteilten um einfache Männer aus dem Volk, die durch ein armseliges Leben in Elend und Verbrechen verroht waren. Sie hatten meist schon die Leiden einer langen Kerkerhaft hinter sich und mehrere Verhöre unter Folter erlitten, ehe sie vor ihren Henker traten. Man kann sich vorstellen, in welchem Zustand sie das Schafott bestiegen und wie wenig sie folglich als Modell für das Porträt eines heiligen Märtyrers geeignet waren, dessen Antlitz bereits vom göttlichen Licht verklärt wird.

Hier hatte er jedoch erstmals Gelegenheit, einen toten Mönch nach der Natur zu zeichnen, einen vermutlich frommen Mann, dessen Züge ein Altarbild mit einer Szene aus dem Evangelium nicht entstellen würden.

Tatsächlich entsprach das Gesicht des Jesuiten vollkommen den Erwartungen des Malers, auch wenn es selbst in der Totenstarre noch einen gewissen Ausdruck der Überraschung erkennen ließ.

Er arbeitete einige Minuten lang rasch und konzentriert, bis er ein ausreichend wirklichkeitsgetreues Abbild angefertigt hatte.

Als die Skizze fertig war, richtete er seine Aufmerksamkeit erneut auf die Personen, die den entstellten Leichnam umgaben, um nach weiterem Material zu suchen, das er später einmal verwenden konnte.

In der ersten Reihe, unmittelbar vor den Wachen, die das Volk in Schach hielten, bemerkte er sogleich den Bettler, der ihn vorhin zu Fall gebracht hatte.

Im ersten Moment war er versucht, sich zu ihm durchzukämpfen, um ihm die Lektion zu erteilen, die er verdiente. Fulminacci war kein Mann, der gern die andere Wange hinhielt, und die von diesem Elenden erlittene Demütigung ließ das Blut in seinen Adern kochen, aber er machte sich schnell klar, dass es äußerst schwierig sein würde, seinen Widersacher in diesem höllischen Gedränge zu erreichen. Außerdem schien es ihm in Anbetracht der anwesenden Wachen keine gute Idee zu sein, eine Schlägerei anzufangen – noch dazu in einer Kirche und in Gegenwart eines ermordeten Priesters.

Seit er sich in der Hauptstadt der Christenheit aufhielt, war er schon mehrmals einem Trupp solcher Schergen aufgefallen, und nie hatte es sich um eine angenehme Erfahrung gehandelt.

Andererseits konnte er diese Grobheit nicht einfach auf sich sitzen lassen, und da eine sofortige Rache nicht möglich war, beschloss er, den Bettler zu zeichnen, um sich sein Aussehen einzuprägen. Bestimmt würde er bald wieder seinen Weg kreuzen, und dann hoffentlich unter günstigeren Umständen.

Er versuchte, die Gesichtszüge des zerlumpten Individuums besonders genau wiederzugeben, auch wenn sich dieses Unterfangen als überaus schwierig erwies. Der Mann bewegte sich nämlich hektisch durch die Menge, wobei er seinen Stab wie eine Keule schwang und sich umsah, als hätte er etwas verloren. Seine Augen schnellten unablässig hin und her, und seine Miene war aufmerksam und konzentriert, der Mund wild entschlossen zusammengekniffen.

Der Maler sagte sich, dass der Lump wohl nach einem geeigneten Opfer für einen Taschendiebstahl suchte, denn diese Tätigkeit wurde von einer bestimmten Sorte von Bettlern mit großer Geschicklichkeit ausgeübt.

Als er seine Porträtzeichnung beendet hatte, entfernte sich Fulminacci vom Tatort und trieb sich noch ein wenig in dem Getümmel in der großen Basilika herum.

Aus den Gesprächsfetzen, die er hier und da aufschnappte, erfuhr er, dass Pater Bartolomeo Stoltz, Jesuit und erster Bibliothekar der Segnatura Vaticana, der päpstlichen Bibliothek, ein von allen geschätzter Ordensbruder gewesen war, dessen Namen nicht das kleinste Gerücht befleckte.

Allein das war schon ungewöhnlich in einer Zeit, in der die Würdenträger der Kirche eine gewisse Neigung zu, gelinde gesagt, lockeren Sitten zeigten. Bischöfe, Monsignori, erlauchte Kardinäle und andere Kirchenfürsten – alle, die im Leben der Stadt eine größere oder kleinere Rolle spielten, wurden früher oder später in irgendeinen Skandal verwickelt, und wenn eine Schmiergeldaffäre ruchbar wurde, konnte man sicher sein, dass eine Soutane dahintersteckte.

Solche Vorfälle waren ein gefundenes Fressen für das Volk, das sich bei jedem Anzeichen von Unmoral wochenlang, monatelang oder manchmal sogar jahrelang über diesen oder jenen vornehmen Namen das Maul zerriss, sosehr die Machthabenden auch versuchten, dies zu unterbinden.

Über Pater Stoltz hingegen war nie auch nur das Geringste zu hören gewesen.

Fulminacci, der keine Ausnahme bildete, was die Sensationslüsternheit der Leute anging, war denn auch in gewisser Weise enttäuscht, als sich bestätigte, dass Pater Stoltz allem Anschein nach ein untadeliges Leben geführt hatte. Wobei seine Enttäuschung allerdings von Beunruhigung durchsetzt war, denn die Todesumstände des Geistlichen verhießen nichts Gutes.

In der Öffentlichkeit wahrten die Mitglieder der römischen Aristokratie, sowohl die weltlichen als auch die geistlichen, die strengsten und höflichsten Umgangsformen, aber es war kein Geheimnis, dass solche Förmlichkeiten rein äußerlich waren.

Von jeher fochten gegnerische Lager in der Stadt einen gnadenlosen Krieg hinter den Kulissen aus, um an die Macht zu gelangen oder an der Macht zu bleiben. Der Hass saß auf allen Seiten tief, und häufig wurden Skandale von dieser oder jener Partei dazu benutzt, den Gegner in Misskredit zu bringen. Auch hatte es schon oft Gerede über den verdächtigen Tod einer einflussreichen Persönlichkeit gegeben, der nach Meinung von Beobachtern weder dem göttlichen Willen noch dem Lauf der Natur zugeschrieben werden konnte.

Die bevorzugte Waffe war dabei das Gift, wenn man dem, was so gemunkelt wurde, Glauben schenken durfte. Seit Menschengedenken aber war es noch nie vorgekommen, dass ein möglicher Feind auf so offene und brutale Weise unschädlich gemacht worden war.

Diese Dinge wusste der Maler natürlich nur vom Hörensagen, denn seine gesellschaftliche Stellung erlaubte es ihm nicht, in höheren Kreisen zu verkehren.

Wohl aber verkehrte er in den Tavernen, und in den Tavernen wurde viel über solche Dinge geredet.

Wenn ein paar Männer um einen Krug Wein herumsaßen, fand sich immer auch der Diener eines Signor Sowieso oder der Barbier des Kardinals XY, der sich gut informiert über die geheimen Machenschaften und Intrigen im Umfeld der Mächtigen zeigte. Von solchen Leuten erfuhr man von alten und neuen Feindschaften oder von Bündnissen zwischen dieser und jener Familie und dieser und jener Partei.

So inoffiziell diese Informationen auch waren, das einfache Volk wusste doch stets gut Bescheid darüber, wenn in der Politik etwas im Gange war, ganz zu schweigen davon, was in den Schlafgemächern vor sich ging.

Seine Erfahrung nach einigen Jahren in Rom sagte dem Maler, dass es unabsehbare Folgen haben würde, sollte auch nur der Schatten eines Verdachts aufkommen, Pater Stoltz könnte im Zusammenhang mit irgendwelchen politischen Machenschaften ermordet worden sein.

Solche Überlegungen machten den Mord noch mysteriöser.

Wenn man dazu bedachte, dass der Jesuit mit den Intrigenspielen der Mächtigen oder fleischlichen Ausschweifungen offenbar nichts zu tun gehabt hatte, erschien seine Ermordung als ein unlösbares Rätsel.

Nachdem Fulminacci sich davon überzeugt hatte, dass es nichts weiter gab, womit er seine Neugier stillen konnte, verließ er die Kirche.

Während er die breite Treppe hinunterging und dabei den Nachzüglern auswich, die erst jetzt zu dem Spektakel eilten, tastete er seine Jackentasche ab, um sicherzustellen, dass ihm der gerade gefundene Gegenstand in dem Gewühl nicht wieder entwendet worden war.