KAPITEL VIII
Fulminacci erwachte kurz nach Sonnenaufgang vom Geläut der nahen Pfarrkirche.
Er brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, wo er war. Die Ereignisse des vergangenen Tages tauchten nur verschwommen wie ein unangenehmer Traum wieder auf.
Er erhob sich von dem schmalen Bett und merkte, dass ihm alles wehtat. Die Verletzungen an den Armen brannten noch immer ein bisschen, aber vor allem fühlten sich seine Muskeln steif und schmerzend an. Er schüttelte den Kopf, um die Nebel des Schlafs zu vertreiben, kleidete sich schnell an und ging in das andere Zimmer, wo Beatrice schon an einem runden Tischchen saß und Karten auf der rissigen, unebenen Holzplatte verteilte.
»Ich lege dir die Karten«, verkündete sie.
Fulminacci war verblüfft über die scharfen Sinne seiner Freundin. Obwohl er kaum ein Geräusch gemacht hatte und sie ihm den Rücken zukehrte, hatte sie seine Anwesenheit sofort bemerkt.
»Die Botschaft ist nicht sehr klar, es gibt ein paar veränderliche Größen, die schwer zu deuten sind. Aber du solltest dich vor einem gefährlichen Tier hüten. Einem kleinen, aber tödlichen Tier. Falls dich das interessiert, da du ja gewöhnlich auf nichts und niemanden hörst.«
Fulminacci beeilte sich, die erforderlichen Beschwörungen zu murmeln, um mögliches Unglück abzuwenden.
»Ich habe noch mal über das nachgedacht, was du mir gestern Nacht erzählt hast, aber ich bin ratloser als je zuvor. Vielleicht ist es am besten, wenn du zum Campo dei Fiori gehst und mit Giovanni da Camerino sprichst. Das ist das Oberhaupt der Compagnia degli Sbasiti, einer der Bettlerbruderschaften, die ich erwähnt habe. Ich kenne ihn gut, er ist ein anständiger Mann. Wenn jemand etwas über deine seltsamen bewaffneten Bettler weiß, dann er. Du findest ihn vor dem Brunnen.«
»Wie soll ich ihn erkennen? Am Campo dei Fiori ist immer ein Riesengetümmel.«
»Er ist um die sechzig und hat ein rundes, wohlgenährtes Gesicht. Aber keine Sorge, der Brunnen ist sein Kommandoposten, von dem er sich tagsüber nur selten entfernt. Du wirst ihn leicht finden.«
»Kann ich heute Nacht wieder bei dir schlafen? Ich habe Bedenken, nach Hause zu gehen.«
»Natürlich, komm her, solange du willst.«
»Gut, dann geh ich jetzt zum Campo dei Fiori. Und Beatrice…«
Die Wahrsagerin hob den Blick von den Karten.
»Danke für alles.«
»Ich bitte dich, mach ich doch gern.«
Der Maler warf seinen Umhang über, setzte den großen Hut auf und ging am Tiberufer entlang.
Auf dem Campo dei Fiori hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, um der Hinrichtung eines verurteilten Straßenräubers beizuwohnen. Solche öffentlichen Exekutionen waren stets eine Attraktion für die kleinen Leute, denn sie boten Unterhaltung und eine gute Gelegenheit zum Geschäftemachen für die zahlreichen Straßenhändler, die Essen, Getränke, Amulette, Wundermittel, falsche Reliquien und sonstige Devotionalien verkauften.
Fulminacci folgte Beatrices Anweisungen und kämpfte sich bis zum Brunnen durch, wo er diesen Giovanni, das Oberhaupt der Bettlerbruderschaft, finden sollte.
Tatsächlich hatte er keine Schwierigkeiten, den Mann zu erkennen. Er stand aufrecht neben dem dünnen Wasserstrahl und sah sich mit dem aufmerksamen Blick und der Miene eines Admirals um, der vom Deck eines Schiffs aus die Manöver seiner Flotte in einer Seeschlacht verfolgt.
Fulminacci stellte sich vor und legte ihm sein Problem dar, wobei er mehrfach seine Freundschaft mit Beatrice betonte.
»Hm, das ist allerdings eine merkwürdige Sache«, sagte Giovanni. »Bist du wirklich sicher, dass es Bettler waren?«
»Das hat mich Beatrice auch gefragt«, antwortete der Maler, »und, ehrlich gesagt, kann ich es nicht beschwören. Es war dunkel, und sie gingen zu zweit auf mich los. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass es sich um Bettler handelte. Sie sahen zumindest so aus.«
»Also, wie dir Beatrice vielleicht schon erklärt hat, sind wir Bettler hier in Gilden organisiert. Jede hat ihre eigene Spezialität und vor allem ihr eigenes, abgegrenztes Gebiet. Ist ja wohl klar, dass bei so großen Gemeinschaften nicht jeder machen kann, was er will. Wir zum Beispiel haben schon vor vielen Jahren ein Abkommen mit den Sbirren getroffen, damit wir uns nicht gegenseitig auf die Füße treten. Wer sich nicht daran hält, wird bestraft, sonst kriegen wir die reinste Anarchie, verstehst du? Gewaltanwendung ist verboten. Hier in Rom gibt es vierzehn Bettlergilden, und jede hat Hunderte von Mitgliedern. Wenn auch nur ein paar davon plötzlich herumlaufen und Leute angreifen würden, wäre der Teufel los, das kannst du dir vorstellen. Die Schergen würden im Nu über uns herfallen, und wir würden alle in der Engelsburg landen und dasselbe Ende nehmen wie dieser arme Hund, den sie gleich auf das Schafott führen werden. Man muss immer auf der Hut sein. Wir dürfen es auch mit kleinen Diebstählen und der Beutelschneiderei nicht übertreiben, ganz zu schweigen von brutalen Überfällen. Und die, die dich um die Ecke bringen wollten, hatten sogar Degen, wie du sagst. Du musst bedenken, wer sich als Bettler durchschlägt, macht das, weil er arm und verzweifelt ist, weil er keine andere Wahl hat. Man kann nicht einfach irgendeinem armen Teufel eine Waffe in die Hand drücken. Wie lange hast du üben müssen, um ein guter Fechter zu werden?«
»Viele Jahre«, antwortete der Maler, »und man hört nie auf zu lernen.«
»Siehst du, das meine ich. Guck dir mal meine Männer da an – was glaubst du, wie viele von denen in der Lage wären, einen Degen auch nur zu halten? Das ist doch ein schlechter Witz. Andererseits treiben sich in letzter Zeit eine Menge seltsamer Gestalten in Rom herum. Da ist etwas im Busch, ich weiß nur noch nicht, was. Spione, Geheimagenten, vielleicht auch gedungene Mörder, übles Gelichter aus halb Europa. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der eine oder andere von ihnen sich als Bettler verkleidet hat, um unter diesem Deckmantel sein Unwesen treiben zu können. Mein Gott, sieh dich bloß um: Ganz Rom scheint eine Bettlerstadt zu sein!«
»Eine große Hilfe bist du mir ja nicht.«
Giovanni grinste und klopfte ihm auf die Schulter.
»Im Namen meiner alten Freundschaft mit Beatrice verspreche ich dir, mich umzuhören. Ich werde meine Männer ausschicken, und wenn es etwas zu erfahren gibt, wirst du es erfahren, keine Sorge. Inzwischen solltest du dich nach Sonnenuntergang nicht mehr auf der Straße blicken lassen. Die haben es einmal versucht und werden es wieder versuchen, wer sie auch sind. Und sprich mit niemandem darüber, vor allem nicht mit Bettlern, falls du welche kennst. Nicht alle Gilden haben einen so guten Ruf wie die, die zu leiten ich die Ehre habe. Die von Santa Elisabetta zum Beispiel sind Spitzel der Sbirren. Und sie sind nicht die einzigen.«
In diesem Moment teilte sich die Menge unter dem Schafott, und ein von zwei Maultieren gezogener Karren, auf dem der Verurteilte stand, rollte auf den Platz.
»Siehst du den dort?«, fragte Giovanni laut, um den Lärm, der sich erhoben hatte, zu übertönen. »Das ist Zennaro, der Bandit. Sie haben ihn vor ein paar Wochen auf der Straße nach Gaeta geschnappt. Die Schergen mussten eine regelrechte Schlacht beginnen, um ihn zu fassen. Sie hatten Glück, dass er von einem Büchsenschuss getroffen wurde, sonst wäre er ihnen wieder entwischt. Er hat fast sechs Jahre lang Furcht und Schrecken im Umland verbreitet, und jetzt ist es mit ihm vorbei.«
Der Karren setzte seinen Weg zwischen den beiden Hälften der lärmenden Masse fort. Die Römer warfen dem Verurteilten obszöne Scherze und Schmährufe an den Kopf, und dieser zeigte sich keineswegs furchterstarrt angesichts des bevorstehenden Todes, sondern zahlte es ihnen schlagfertig mit gleicher Münze zurück.
»Kaltblütig ist er ja, das muss man ihm lassen«, bemerkte Fulminacci.
»Ja, keine Frage«, antwortete Giovanni. »Er ist zwar ein Verbrecher und Mörder, aber Mut hat er. Allerdings haben sie ihn gewiss eine halbe Flasche Grappa trinken lassen, ehe sie ihn auf den Platz brachten. Der Papstkönig legt Wert darauf, dass seine Hinrichtungen ein gutes Schauspiel für das Volk abgeben. Es ist nämlich schon passiert, dass die Wachen wimmernde und vor Angst bereits halb tote Verurteilte aufs Schafott schleifen mussten, und so etwas kommt bei den Leuten gar nicht gut an. Deshalb geben sie ihnen jetzt immer ordentlich zu trinken, ehe sie vor den Henker geführt werden. Klar, wenn einer von vornherein keinen Mut hat, macht ihm auch der Grappa keinen. Aber er hilft, so oder so. Und die Geschäfte laufen besser, muss ich sagen.«
Vor dem Schafott hielt der Karren an. Zennaro, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt waren, stieg mithilfe der Wachen herunter und ging ohne weitere Aufforderung die sechs Stufen zum Richtblock hinauf.
Ein Dominikanerpater kam mit einem Kreuz in der Hand auf ihn zu, um ihm den letzten geistlichen Trost zu spenden, doch der Räuber stieß den Pater mit einem Fluch von sich, worauf die Menge mit begeisterter Zustimmung reagierte.
»Henker«, schrie Zennaro mit dröhnender Stimme und breitem römischem Akzent, »wo bist du?«
Ein Mann mit schwarzer Kapuze über dem Kopf baute sich vor ihm auf.
»Tu deine Arbeit und schlag gut zu, wenn’s geht. Aber vorher lass mich noch zwei Worte an dieses freundliche Publikum richten. Liebe Christen! Ihr seid hierher zu diesem öffentlichen Platz gekommen, um mich sterben zu sehen, aber ich habe nichts für euch übrig. Ich habe gelebt wie ein Mann und werde bei Gott auch sterben wie ein Mann. Ihr dagegen seid wie die Schafe und werdet sterben wie die Schafe. Ob es durch Hunger, Pest oder das Tertianafieber ist, was macht das schon für einen Unterschied? Man klagt mich an, einen Haufen Leute ausgeraubt zu haben, und das stimmt, bei der Madonna! Ich habe es mit offenem Visier und der Flinte in der Hand getan, und ich bereue nichts. Aber die Fürsten und der Papst, was machen die anderes als ich? Denkt darüber nach, Leute, überlegt, wer der größere Verbrecher ist. So, ich bin fertig, Henker. Du kannst dir jetzt deine Brötchen verdienen.«
Man ließ den Verurteilten vor dem Richtblock niederknien und drehte seinen Kopf in die richtige Position. Der Henker hob das Beil. Plötzlich verstummte das Stimmengewirr. Alle hielten den Atem an und warteten auf den tödlichen Hieb.
Endlich fiel das Beil. Der säuberlich abgetrennte Kopf rollte in den groben Strohkorb unter dem Richtblock, und Blut spritzte in hohem Bogen über die ersten Zuschauerreihen.
Die Hinrichtung wurde von einem Aufschrei erregten Entsetzens begleitet, der sich zu Raserei steigerte, als der Henker den abgeschlagenen Kopf aus dem Korb hob und der Menge zeigte.
Das Geschrei hielt noch ein paar Minuten an, dann legte sich die Aufregung allmählich, und die Zuschauer zerstreuten sich.
Während die Leute davonströmten, ertönte auf einmal ein Schrei vom anderen Ende des Platzes her. Die Menschenmenge wogte wie hohes Gras im Wind, und alle fragten laut, was passiert sei.
Auch Fulminacci schob sich in die Richtung, aus der die Schreckensrufe zu kommen schienen.
Nach und nach, indem er hier ein Wort und da einen halben Satz aufschnappte, erfuhr er, dass ein weiterer Geistlicher ermordet aufgefunden worden war, und zwar in der Kirche Santa Maria dell’Anima, in der Nähe der Piazza Navona.
Er ließ sich von der murmelnden Menge mitziehen und erreichte die große Piazza, wo er sich mit Ellbogengewalt einen Weg durch das Gewühl bahnte, bis er die Fassade der Kirche sehen konnte, doch danach kam er keinen Schritt weiter.
Ein Kordon von Soldaten in der Uniform der pästlichen Wache sperrte den Kirchplatz ab und hielt die Neugierigen mit Piken auf Abstand.