KAPITEL XXXII

 

Der Skorpion überquerte eine Piazza und tauchte in ein Gassengewirr ein, in dem sich mehrere Fuhrwerke stauten. Er spürte, dass sich die Schlinge enger um ihn zusammenzog, doch das beflügelte ihn nur, statt ihm Angst zu machen.

In den wenigen Minuten, die er gebraucht hatte, um vom einen Ende der Piazza zum anderen zu kommen, hatte er einen kühnen Plan ausgearbeitet, mit dem er sich der Gefangennahme zu entziehen gedachte. Zunächst einmal galt es festzuhalten, dass das Eindringen der Soldaten in die Taverne ziemlich stümperhaft vonstattengegangen war: Als die ersten Schergen durch den Haupteingang hereingestürmt kamen, war das Gebäude noch nicht vollständig umstellt gewesen. Was bedeutete, dass seine Gegner sich weder durch taktisches Geschick noch durch eine gute Koordination ihrer Einsatzkräfte auszeichneten. Die Sbirren der Stadtpolizei waren nach wie vor ein zusammengewürfelter Haufen von Männern, die mehr aufgrund von Empfehlungen irgendeines einflussreichen Fürsprechers als wegen ihrer Fähigkeiten eingestellt wurden. Hinzu kam, dass die Truppen, welche die Viertel durchkämmten - nach dem zu urteilen, was er hier und da aufgeschnappt hatte –, aus gemischten Einheiten von Italienern und Franzosen bestanden, was mit Sicherheit für Konfusion sorgte. Nicht nur wegen der Verständigungsschwierigkeiten, sondern auch, weil Franzosen und Italiener in Rom seit einiger Zeit nicht gut aufeinander zu sprechen waren. Erst vor ein paar Jahren hatte eine Wirtshausschlägerei zwischen einigen korsischen Wachen vom Geleitschutz des französischen Gesandten und einer Bande italienischer Raufbolde beinahe zu einem ernsten diplomatischen Zwischenfall geführt. Die Italiener hatten, wie man wusste, ein langes Gedächtnis für solche Zusammenstöße, und es waren nicht wenige Ressentiments zurückgeblieben.

Unter diesen Umständen blieb seinen Verfolgern nichts anderes übrig, als sich mehr auf ihre große Zahl denn auf ihren Scharfsinn zu verlassen. Bestimmt hatten sich die Franzosen und die Männer des Kardinals von der Herberge aus fächerförmig verteilt und patrouillierten durch alle Straßen, um ihn zum Flussufer zu drängen, wo sie die Brücken und Anlegestellen überwachten. Eine ähnliche Taktik wurde auch bei der Wildschweinjagd angewandt, indem die Treiber breit ausschwärmten und das Wild in eine abgeschlossene Schlucht trieben. Der Unterschied bestand darin, dass die Jäger es hier nicht mit einem verängstigten Tier zu tun hatten, sondern mit einem erfahrenen Berufsverbrecher, der an solche Situationen gewöhnt war.

Sein Gegenzug würde einfach und folgerichtig sein: Er würde warten, bis das Netz sich eng um ihn zusammengezogen hatte, um dann mithilfe einer der vielen Listen, die er in fast einem halben Jahrhundert seiner Laufbahn entwickelt hatte, durch die Maschen zu schlüpfen.

Nur eines machte ihm Sorgen.

Nach dem Verlauf der letzten Stunden lag es auf der Hand, dass seine Gegner wussten, wie er aussah. Am Flussufer, bei den Anlegeplätzen der Fährleute, hatte er wiederholt beobachtet, dass die Soldaten irgendwelche Blätter herumzeigten. So unwahrscheinlich es auch schien, sie waren offenbar im Besitz einer Zeichnung von ihm.

Daran konnte nur einer schuld sein: dieser verdammte Maler, der ihm nicht nur das Amulett geklaut, sondern sich offenbar auch die Mühe gemacht hatte, ein Porträt von ihm anzufertigen, das Azzolini und de Simara prompt hatten vervielfältigen lassen.

Der Skorpion nahm sich erneut vor, die Rechnung mit diesem lästigen Schmierfink von einem Maler in Bälde zu begleichen.

Doch jetzt war nicht der Moment, persönlichen Rachegelüsten nachzugeben.

Noch länger durch die Gassen und Nebenstraßen zu streifen, hielt er für zu riskant. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass ein übereifriger Krämer mit einem guten Gedächtnis für Gesichter die Zeichnung gesehen hatte und ihn erkannte. Ratsamer war es, sich einen abgelegenen Unterschlupf zu suchen und das Herannahen der Treibjagd abzuwarten.

Von diesem Entschluss gestärkt musterte er aufmerksam die vielen armseligen Tavernen der Gegend und wählte schließlich eine, die für seine Zwecke geeignet war.

Der einzige Eingang des Lokals lag an einer schmutzigen, stinkenden und wenig bevölkerten Gasse. Es bestand aus zwei Räumen, von denen der eine auf die Gasse hinausging, während man durch den hinteren auf einen winzigen Innenhof blickte.

Er betrat die Taverne und setzte sich in das hintere Zimmer. Dort drang das fahle Licht des kalten, windigen Tages kaum hinein, und der Wirt hatte es auch nicht für nötig befunden, Kerzen oder eine Öllampe anzuzünden. Eine dicke Magd nahm seine Bestellung auf und brachte ihm nach einer Weile einen angeschlagenen Krug mit saurem Wein, ein Stück Schwarzbrot und etwas Ricotta.

Der Skorpion trank keinen Schluck von dem Wein, nicht nur, weil er schlecht war, sondern weil er nie Alkohol trank. Ohne Ausnahme, zu keinem Anlass.

Er aß ein Stückchen Ricotta, der ihm erstaunlicherweise schmeckte, und beobachtete das Kommen und Gehen der Fuhrknechte und Lastenträger, die in der Osteria einen Schluck tranken und einen Schwatz hielten. Diese Stammkunden waren, wie nicht anders zu erwarten, laute, vulgäre Männer, für die der Skorpion nur kalten Widerwillen empfand, aber im Moment dienten sie ihm gut als Deckung.

Am Tresen drängten sich gerade fünf oder sechs dieser Flegel, die sich um ein paar abgegriffene, fleckige Würfel zankten, um auszumachen, wer die Rechnung bezahlen musste. Die Tische in der Nähe der Tür waren voll besetzt mit Männern, die das saure, trübe Gesöff in sich hineinschütteten, doch je weiter man in das Lokal hineinkam, desto leerer wurde es.

Die beiden Tische neben ihm waren frei.

Das lag vermutlich auch daran, dass dieses innere Zimmer so stark nach Feuchtigkeit und Moder stank, dass es einem den Atem raubte. Durch die Wände der Osteria war im Laufe der Jahre beständig Wasser gesickert, sodass sie von oben bis unten mit Schimmel bedeckt waren.

Der Skorpion störte sich nicht an solchen belanglosen Kleinigkeiten. Weder der Gestank noch die Dunkelheit konnten ihm etwas anhaben.

Gegen Mittag kam eine Gruppe von vier Männern hereingepoltert, die selbst nach dem Maßstab der Stammkundschaft ziemlich verwahrlost aussahen. Sie schienen schon reichlich getrunken zu haben, fingen sofort an herumzukrakeelen, schlugen sich grölend auf die Schultern und riefen der unansehnlichen Magd obszöne Scherze zu.

Die Trunkenbolde blieben nicht am Tresen stehen, sondern setzten sich an den Nachbartisch und bestellten lauthals zwei Krüge Wein, Brot, Käse und Oliven.

Verärgert zog der Skorpion seinen Hut tiefer ins Gesicht und wartete darauf, dass sie ihr bäuerliches Mahl beendeten. Die vier hatten es jedoch keineswegs eilig, wieder zu gehen. Einer von ihnen zog einen speckigen, zerknautschten Stoß Karten aus der Jackentasche, worauf eine hitzige Partie Zecchinetta begann, ein bei den unteren Schichten besonders beliebtes Spiel.

Der Spielverlauf wurde immer turbulenter.

Seine Tischnachbarn gerieten sich Runde für Runde in die Haare, überhäuften sich bei jeder unbesonnen abgelegten Karte mit wüsten Beschimpfungen und bei jedem Stich mit heftigen Drohungen und würzten das Ganze mit einer beinahe ununterbrochenen Abfolge von Flüchen.

Irgendwann packte einer den Kartenstapel und schleuderte ihn auf einen seiner Mitspieler, sein Pech verfluchend. Die Karten verstreuten sich überall, und einige landeten auch auf dem Tisch des Skorpions, der sich bemühte, ruhig zu bleiben, obwohl er den dringenden Wunsch verspürte, dieses Gezänk mit ein paar Schwerthieben zu beenden. Der getroffene Spieler stand schimpfend auf, um die Karten einzusammeln und die Partie neu zu beginnen. Doch statt zuerst die auf dem Boden liegenden aufzuheben, ging er zum Tisch des Skorpions hinüber, der nicht schnell genug reagierte, denn ehe er dem Spieler die Karten reichen konnte, stand dieser schon vor ihm.

Sie sahen sich ins Gesicht, und der Mann musterte ihn einen Moment, während er mit der linken Hand die verstreuten Karten neben dem Weinkrug zusammenschob.

»Sie suchen Euch, Signore«, sagte der Mann, »und sie sind schon ganz nahe.«

Der Skorpion hatte nicht damit gerechnet, dass der ungehobelte Spieler ihn ansprechen würde, noch dazu auf diese Weise. Sein erster Impuls war es, sein Schwert zu ziehen und es ihm in den Hals zu stoßen, doch die ruhige Miene und der offene, direkte Blick des Fremden besänftigten ihn irgendwie. Er konnte sich sein Verhalten selbst nicht erklären.

»Keine Sorge, Signore«, fuhr der Spieler fort, »wir sind Freunde und wurden geschickt, Euch aus der Bredouille zu helfen. Nicht alle in Rom wollen Euch das Fell über die Ohren ziehen.«

»Wer seid Ihr?«, fragte der Skorpion mit vom langen Schweigen rauer Stimme.

»Das ist nicht von Bedeutung. Ihr braucht nur zu wissen, dass wir Euch helfen wollen.«

»Wer schickt Euch? Antwortet, zum Teufel, oder macht Euch bereit, Euch zu verteidigen.«

»Wir haben keine Zeit zum Reden. Die Männer des Kardinals sind Euch auf den Fersen, und außerdem ist hier zu viel Pack.«

Der Mann hatte sein ordinäres Wesen abgelegt und sprach jetzt recht manierlich.

»Folgt uns, wenn Euch Euer Leben lieb ist. Wir bringen Euch am anderen Flussufer in Sicherheit. Dort gibt es jemanden, der Euch sehen möchte.«

Der Skorpion blickte sich um und überdachte schnell die Lage. Auch wenn er als Fechter seinesgleichen suchte, war er nicht sicher, vier bewaffnete, entschlossene Männer ohne Weiteres überwältigen zu können. Und selbst wenn er sie tötete oder in die Flucht schlug, würde das Kampfgetümmel die Aufmerksamkeit der Sbirren erregen, die die Stadt durchkämmten und inzwischen in nächster Nähe sein mussten. Er kannte diese Männer nicht und traute normalerweise niemandem. Andererseits blieb ihm keine große Wahl. Falls die vier tatsächlich freundliche Absichten hegten, konnte er nur gewinnen. Sollte sich jedoch herausstellen, dass sie ihm feindlich gesonnen waren, würde er sich ihrer trotzdem besser woanders entledigen können. In einer einsamen Gasse dürfte es ihm nicht schwerfallen, ein paar drittklassige Gauner wie sie loszuwerden.

Er stand auf und machte seinem Gegenüber ein Zeichen, ihm zur Tür vorauszugehen.

Draußen nahmen ihn die vier in die Mitte und fingen wieder an, mit heiseren Säuferstimmen herumzugrölen und sich unter die Leute zu mischen. Schulter klopfend und Witze reißend gingen sie durch die Gasse und kamen auf einer mit ärmlichen Verkaufsständen vollgestopften Piazzetta heraus. Sie überquerten sie und bogen in eine weitere Gasse voll von verdorbenem Gemüse ein, das noch nicht einmal die Elenden des Viertels aufsammeln mochten. Hier gingen sie nur wenige Meter, wobei sie versuchten, dem fauligen Matsch in der Mitte des Wegs auszuweichen, und blieben dann vor der Werkstatt eines Färbers stehen.

Drinnen herrschte eine infernalische Hitze, und der Gestank der Färbemittel und der Gerbsäuren war so stark, dass dem Skorpion kurz schwindelte. Die Männer führten ihn durch einen Innenhof in einen Lagerraum, in dem die Stoffballen und das zusammengerollte gegerbte Leder aufbewahrt wurden.

»Wie habt Ihr mich gefunden?«, fragte der Skorpion.

Wortlos gab der Anführer des Quartetts ihm ein dünnes Blatt Papier, mit dem er sich an den Eingang stellte, um es bei vollem Licht betrachten zu können. Er sah seine eigenen Gesichtszüge, die mit wenigen Kohlestrichen hingeworfen, aber erstaunlich gut getroffen waren. Die Zeichnung war offensichtlich von einem besseren Original dieses dreimal verfluchten Malers abgepaust worden, der seinen Weg in den letzten Tagen genau zweimal zu viel gekreuzt hatte.

Wenn ein Bild von dieser Ähnlichkeit im Umlauf war, hatte er ohne die Hilfe dieser vier Fremden wenig Chancen, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Das Porträt musste in großer Zahl kopiert worden und an jeden Schergentrupp verteilt worden sein.

»Hier, Signore. Zieht diese Kleider an.«

»Was habt Ihr vor?«, fragte der Skorpion.

Der Mann grinste. »Wir werden den Schergen des Kardinals einen schönen Streich spielen. Diese Kleider sind Euer Passierschein für die andere Flussseite.«