KAPITEL XXV
Fulminacci fuhr aus dem Schlaf, geweckt von einem plötzlichen Geräusch. Er brauchte einen Augenblick, um zu sich zu kommen. Sein Schlaf war von wilden, unzusammenhängenden Träumen durchdrungen gewesen, und durch das ruckartige Erwachen fühlte er sich verwirrt und desorientiert.
Im Laufe der Nacht musste das Wetter umgeschlagen sein, was er bemerkte, als er die Decke beiseiteschob und von einer für den Spätfrühling ungewöhnlichen Kälte überfallen wurde.
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, ihre Scheibe aber hinter dichtem Gewölk verborgen, das mit großer Geschwindigkeit, angetrieben von einem kalten Nordwind, über den Himmel jagte, als würden all diese Haufenwolken zur selben Verabredung eilen.
Er war immer noch sehr müde.
Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihn so erschöpft, dass eine einzige durchschlafene Nacht seine Kräfte nicht wiederherstellen konnte.
Er warf sich zurück aufs Lager, deckte sich bis zum Kinn zu und wollte noch einmal einschlafen, merkte aber bald, dass dies ein aussichtsloses Unterfangen war. Sein Körper mochte zerschlagen sein, aber sein Geist war hellwach und arbeitete schon mit voller Kraft, um all den Aufregungen, die ihm zugestoßen waren, einen Sinn zu verleihen.
Ächzend stand er wieder auf und begann sich anzuziehen.
Da an Schlaf nicht mehr zu denken war, konnte er genauso gut von Beatrice die versprochene Erklärung der Zusammenhänge verlangen.
Dieser Moment schien ihm nun gekommen zu sein.
Er zog Stiefel und Rock an und ging ins Nebenzimmer, wo er jedoch weder die Freundin noch den Slawen antraf, und das, obwohl es noch sehr früh war und sie erst spät in der Nacht schlafen gegangen waren.
Wut und Enttäuschung machten sich in ihm breit.
Er betrachtete die Tarotkarten auf dem Tisch, die Kräuterbündel an der Decke und ertappte sich dabei, wie er wieder über sein Verhältnis zu Beatrice nachdachte.
Die Wahrsagerin war eine seiner ersten Bekanntschaften in Rom gewesen. Sie hatten sich in einer Taverne kennengelernt, die sie regelmäßig aufsuchte, um ihrer Tätigkeit als Kartenlegerin nachzugehen, und in die er, noch fremd in der Stadt, eingekehrt war, um zu Mittag zu essen und ein paar Erkundigungen einzuziehen.
Beatrice war es, die ihm gezeigt hatte, wo er eine Unterkunft zu einem annehmbaren Preis finden konnte, und die ihm auch Romoletto vorgestellt hatte, den Wirt, bei dem er in den folgenden Monaten und Jahren immer eine heiße Suppe und Kredit bekommen hatte.
In kürzester Zeit hatte sich eine ungewöhnliche und tiefe Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, die nicht zuletzt auf ihrem gemeinsamen Schicksal als arme Teufel, die sich mit Mühe und Not über Wasser hielten, beruhte.
Nach der ersten Bekanntschaft hatten sie sich in regelmäßigen Abständen und mit einer gewissen Häufigkeit wiedergesehen. Von Anfang an jedoch war ihr Verhältnis irgendwie merkwürdig, ja geradezu unnatürlich gewesen, weil er Beatrice, die doch zweifellos sehr anziehend war, nie wirklich als Frau betrachtet hatte. Sie benahm sich manchmal so schroff und redete oft so spöttisch und sarkastisch, dass er sich ihr immer irgendwie unterlegen fühlte. Mit anderen Worten, es war ein bisschen, als hätte er es mit einer älteren, klugen und strengen Schwester zu tun, obwohl Beatrice bestimmt zehn Jahre jünger war. Trotzdem war sie zu einer Art Vertrauten für ihn geworden, die er dankbar als Blitzableiter für seinen Zorn benutzte, wenn er sich einmal wieder als verkanntes Genie empfand.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass Beatrices Eigenleben, ihre persönliche Geschichte, ihre Träume, Pläne und Wünsche für ihn ein Buch mit sieben Siegeln waren.
Am Abend zuvor, als sie sich hastig im Theater umgezogen hatten, hatte ihn die Erkenntnis ihrer weiblichen Reize wie ein Blitz getroffen.
Es war wie eine Offenbarung gewesen, unerwartet und aufwühlend.
Seitdem hatte er trotz aller Gefahren und Verwicklungen immer wieder an seine Verwirrung bei diesem – wenn auch flüchtigen – Anblick der geschmeidigen, anmutigen Körperformen seiner Gefährtin denken müssen. Das Bild hatte sich in seinem Kopf festgesetzt wie ein Holzwurm und hörte nicht auf, an ihm zu nagen.
Dabei tat Beatrice herzlich wenig, um ihre Vorzüge zur Geltung zu bringen. Ihre Kleidung bestand gewöhnlich aus mehreren übereinandergezogenen Röcken, die bis auf die Füße reichten, einem unförmigen, zu weiten Mieder und einem zerfetzten Schultertuch – eine Aufmachung also, die selbst Aphrodite nicht eben anziehend hätte erscheinen lassen. Trotzdem konnte Fulminacci sich nicht erklären, wieso er bisher nicht bemerkt hatte, wie lieblich die Gesichtszüge der Freundin waren, wie leuchtend ihre Augen, die je nach Lichteinfall hellblau bis violett schimmerten, und wie weich und fließend ihre Haare, auch wenn sie immer alte Bänder und Gazestreifen hineinflocht. Sie glänzten in einem Kupferrot, das an diesen venezianischen Maler namens Tizian erinnerte, von dem er während eines kurzen Besuchs in der Lagunenstadt einige Gemälde hatte bewundern dürfen.
Fulminacci merkte, dass seine Gedanken eine gefährliche Richtung nahmen, konnte aber nichts dagegen tun. Anders als sonst ging es hier nicht bloß um körperliche Anziehung; da war noch mehr, etwas Stärkeres, Tieferes, Erregenderes, eine Art süße Qual, als würde jemand genüsslich ein scharfes Stilett in seinem Herzen umdrehen. Als wäre ihm ein Teil seiner selbst entrissen worden und er sehnte sich nun ständig danach, diesen Teil zurückzuerlangen.
Es war ein dumpfer, pulsierender und zugleich brennender Schmerz, gegen den er nichts tun konnte.
Eines wusste er sicher: Es handelte sich hierbei nicht um das normale, gesunde, fleischliche Begehren, das er für die vielen Dienstmädchen, Küchenmädchen, Wäscherinnen und Schneiderinnen empfunden hatte, mit denen er im Laufe der Jahre kürzere oder längere intime Beziehungen eingegangen war. Das war schlicht und einfach Fleischeslust gewesen, die ohne Probleme befriedigt werden konnte.
Diesmal jedoch spürte er, ohne es genauer begründen zu können, dass der rein körperliche Liebesakt nicht genügen würde, um diesen Schmerz zu lindern, diesen anscheinend unstillbaren Durst zu löschen. Er fand noch nicht einmal ein passendes Wort, um dieses neue Gefühl zu beschreiben.
Der Innenhof der französischen Gesandtschaft lag zu dieser Morgenstunde noch verlassen da.
Trotz der scheinbaren Ruhe mied der Kardinal den Haupteingang und trat durch eine kleine Seitentür ein, die direkt zu den Gemächern von Bischof de Simara führte.
In einem kleinen Vorraum stieß er beinahe mit einer jungen Frau zusammen, die in einen bauschigen, bunten Rock gehüllt war und lange, kupfern schimmernde Haare hatte. Statt bei der Begegnung mit einer hochgestellten Persönlichkeit wie ihm die Augen zu senken, blickte sie ihm furchtlos ins Gesicht, sodass er ihre außergewöhnliche Schönheit bemerkte, die dunkelblauen Augen und die aufrechte, anmutige Haltung, beides ungewöhnliche Eigenschaften bei Frauen aus dem niederen Volk.
Während die Unbekannte sich mit flatternden Röcken entfernte, sinnierte der Kardinal, wie seltsam es doch war, eine Frau aus dem Volk, womöglich gar eine Zigeunerin ihrer Kleidung nach zu urteilen, mit so sicherer, unbefangener Haltung aus den Privatgemächern von Monsieur de Simara kommen zu sehen, als wäre sie dort zu Hause.
Noch dazu zu dieser frühen Stunde!
Aber in Rom war in diesen Zeiten alles und noch viel mehr möglich, auch dass ein Bischof, obendrein ein Jesuit, ein Verhältnis mit dieser Art von Weibsbild unterhielt.
Sein boshafter Gedanke verflüchtigte sich jedoch so schnell, wie er gekommen war. Es gab ernstere Dinge, um die man sich Sorgen machen musste, als die Zerstreuungen und merkwürdigen Vorlieben seines Nächsten.
Azzolini stieg rasch die Treppe hinauf und wurde in das Arbeitszimmer des Bischofs geführt, der ihn bat, in einem prunkvollen Sessel neben einem der hohen Fenster Platz zu nehmen.
De Simara legte wortlos ein Blatt Papier auf das Tischchen daneben.
Durch die ungewohnte Zurückhaltung des Bischofs neugierig gemacht, betrachtete der Kardinal das Blatt.
»Interessant«, bemerkte er, »und, wenn ich mir ein ästhetisches Urteil erlauben darf, auch gut gemacht. Wollt Ihr so freundlich sein, mir zu sagen, um wen es sich handelt?«
»Wir haben es mit einem Glücksfall zu tun, Eminenz. Eine meiner Mitarbeiterinnen hat mir die Zeichnung gerade gebracht. Das ist er!«
»Er? Heilige Jungfrau!« Azzolini sprang erregt auf, ging zum Fenster und studierte das Porträt noch einmal genauer.
»Wie… Wie seid Ihr…?«, stotterte der Kardinal.
»Ein Glücksfall, wie gesagt. Ein junger Maler, ein Freund meiner Agentin, hat die Zeichnung in Santa Maria Maggiore angefertigt, kurz nach dem Mord an Pater Stoltz. Er hatte keine Ahnung, wen er da porträtierte, und glaubte, es sei einfach ein Bettler, der ihn zuvor angerempelt hatte. Er beschloss, ihn zu zeichnen, um sich sein Gesicht einzuprägen und sich später an ihm rächen zu können. Dieser Maler scheint ein Heißsporn zu sein, dessen Ehrgefühl in keinem Verhältnis zu seinem bescheidenen gesellschaftlichen Rang steht. Jedenfalls können wir uns bei seinem aufbrausenden Charakter bedanken. Wenn er gewusst hätte, dass er es mit dem gefährlichsten Auftragsmörder Europas zu tun hat!«
Der Bischof berichtete der Reihe nach, was dem Maler zugestoßen war und wie seine Informantin Kenntnis davon erlangt hatte.
»Erstaunlich, wirklich erstaunlich!«, murmelte Azzolini. »Mir scheint, dieser junge Mann hat, obschon er von einfacher Herkunft ist, viel Mut und Tüchtigkeit bewiesen. Heilige Muttergottes, dreimal dem Skorpion zu begegnen und noch unter den Lebenden zu weilen. Einfach unglaublich! Aber ich habe auch gute Neuigkeiten.«
Aus dem Ärmel seines Talars zog der Kardinal die Namensliste und reichte sie dem Bischof.
»Die Spur, auf die uns Pater Kircher gebracht hat, war offensichtlich die richtige«, sagte er. »Das ist die Liste der Novizen, die im Jahr 1622 zusammen mit Kircher in Paderborn studiert haben. Pater Stoltz, Pater Klamm und Pater Baumgartner stehen darauf sowie weitere achtzehn Personen, die nach Alter und Aufnahmedatum der Gesuchte sein könnten. Ich habe bereits überprüft, wer von ihnen noch lebt und sich zur Zeit in Rom aufhält. Seht, es sind nur drei Namen außer dem von Kircher. Wenn wir Kircher einmal ausschließen, und das können wir wohl, beschränkt sich unsere Suche auf diese drei Personen. Mit der Zeichnung und dieser Liste müssten wir ihn endlich fassen.«
»Gestattet mir, etwas weniger optimistisch zu sein, Eminenz«, entgegnete der Bischof. »Obwohl ich ihm nie persönlich begegnet bin, glaube ich, den Skorpion nur allzu gut zu kennen. Wir sollten ihn nicht unterschätzen. Auch wenn wir uns jetzt einen Vorteil verschafft haben, bleibt er dennoch ein gefährlicher Gegner. Dieser Mann ist eine lebende Legende. Gewiss, wir sind jetzt zum ersten Mal in der Lage, mit gleichwertigen Mitteln gegen ihn zu kämpfen. Denkt aber daran, dass wir nicht wissen, über welche Informationen er wirklich verfügt, weshalb wir nicht vernünftigerweise behaupten können, ihm einen Schritt voraus zu sein.«
»Ihr habt recht, de Simara, ich sollte meine Zuversicht dämpfen. Immerhin müssen wir jetzt weniger Kräfte vergeuden, weil wir sie auf bestimmte Ziele richten können. Als Erstes sollten wir Männer zum Schutz der drei Jesuiten abstellen und auch Pater Kircher angemessen bewachen lassen. Es ist nicht gesagt, dass der Skorpion genauso denkt wie wir.«
»Ich werde das sofort veranlassen, Eminenz. Jetzt kann ich mich endlich einer Aufgabe widmen, auf die ich schon nicht mehr gehofft hatte.«
»Und das heißt?«
»Das heißt, dass die Jagd auf den Skorpion eröffnet ist!«