KAPITEL XXXVI

 

Bernardo Muti schob die Abdeckung des in der Wand verborgenen Gucklochs auf. Der Raum war schwach beleuchtet, und sein flackernder Blick konnte nur eine große, magere Gestalt ausmachen, die auf einer Bank saß und die Ellbogen auf die Knie stützte.

»Das also ist der Mann?«

»Ja«, bestätigte Fieschi. »Mein Teil unserer… hm, Abmachung ist damit erfüllt. Nun erwarte ich, dass Ihr Euch an Euren haltet.« Er bemühte sich um einen möglichst neutralen Ton, merkte aber, dass sich ein leichtes Beben in seine Stimme geschlichen hatte.

Der Inquisitor wandte sich von dem Loch ab und sah ihn an. Seine Augen waren kalt und durchdringend wie die eines Basilisken, obwohl ein unbeteiligter Zuschauer ein kurzes Aufblitzen grausamer Belustigung in ihnen hätte entdecken können.

Der Mönch machte sich nicht die Mühe zu antworten, hielt sein rechtes Auge wieder an den Spion und fuhr mit seiner Beobachtung fort.

Fieschi hätte am liebsten laut geschrien, beherrschte sich aber und wartete, dass Muti sich dazu herabließ, ihm seine Entscheidung mitzuteilen. Er wusste genau, dass der Alte mit ihm Katz und Maus spielte.

Sobald seine Männer ihm den Skorpion gebracht hatten, hatte er Muti benachrichtigt. Gemäß den Anweisungen des Inquisitors hatte er den berüchtigten Mörder in sein eigenes Quartier führen lassen, das zufällig in der Nähe des Palazzos des Heiligen Offiziums lag.

Weniger als eine halbe Stunde später hatte eine Kutsche ohne Wappen vor seiner Wohnung gehalten, und der Dominikaner war

in das Arbeitszimmer getreten, in dem Fieschi ihn ungeduldig erwartete.

Von diesem Moment an hatte die Zeit für den Genueser stillgestanden; die Furcht hielt ihn in der Zange und machte ihm das Atmen schwer.

Endlich löste sich Muti von dem rissigen Holzpaneel mit dem Guckloch und richtete das Wort an ihn.

»Er sieht nicht gerade beeindruckend aus«, bemerkte er. »Bloß ein alter Mann.«

»Tut mir leid, Euch widersprechen zu müssen, aber dieser alte Mann ist der gefürchtetste Auftragsmörder Europas. Mehr als ein Fürst wäre bereit, ein Vermögen für seinen Kopf zu bezahlen.«

»Was wisst Ihr über ihn?«

»Nicht sehr viel. Gerüchte, Legenden, Geschichten. Ich glaube, meine Männer, Ihr und ich gehören zu den wenigen, die je sein Gesicht gesehen haben. Unter den Lebenden, meine ich.«

»Sehr interessant. Das war eine Leistung, die Eurem Ruf alle Ehre macht, Fieschi. Der erste Teil unserer Vereinbarung kann damit als erfüllt angesehen werden.«

»Der erste Teil? Ich habe mich an unsere Abmachung gehalten! Jetzt seid Ihr dran!«

Der Mönch durchbohrte ihn mit einem eisigen Blick.

»Verzeiht, aber ich bestimme hier die Regeln. Seht Ihr, bei einem Handel sind nicht immer beide Seiten in einer gleich starken Position. Oft ist eine davon überlegen, und die stellt die Bedingungen. Ich fürchte, diesmal kommt Euch die schwächere Rolle zu, denn ich habe Macht über etwas, an dem Euch sehr viel liegt, wenn ich mich nicht irre.«

Der Genueser senkte den Kopf, und seine Augen füllten sich mit Tränen ohnmächtiger Wut.

»Gut«, fuhr Muti fort, »ich sehe, Ihr seid dabei, Vernunft anzunehmen. Wie gesagt, der erste Teil der Übereinkunft ist erledigt. Was ich nun von Euch verlange, ist, dass Ihr diesem Mann, diesem… Skorpion, wie Ihr ihn nennt, Eure volle Unterstützung anbietet, egal, was er vorhat. Ihr habt Euch eine schöne Organisation aufgebaut, mit Informanten und Spionen in der ganzen Stadt und auch außerhalb ihrer Mauern, sodass es Euch nicht schwerfallen dürfte, meine Anweisungen umzusetzen.«

»Aber… wir wissen nicht, warum er nach Rom gekommen ist und was er für Pläne hat. Ich kann nicht sagen, ob…«

»Ihr habt wohl immer noch nicht verstanden – ich hatte Euch für scharfsinniger gehalten, Fieschi. Der Skorpion hat die Morde der vergangenen Tage begangen. Azzolini ist hinter ihm her, die Franzosen sind hinter ihm her, und aus ebendiesem Grund, denke ich, liegt es im Interesse des Heiligen Offiziums, seinen Vorhaben die größtmögliche Unterstützung zu gewähren.«

»Muti, Ihr verlangt viel von mir«, entgegnete Fieschi mit ernster Miene. »Ihr wisst sehr gut, dass ich mich stets aus gewissen Angelegenheiten herausgehalten habe.«

»Nun, irgendwann ist immer das erste Mal, wie es so schön heißt. Außerdem bleibt Euch nichts anderes übrig, oder?«

Zum Zeichen seiner Zustimmung neigte Fieschi erneut den Kopf.

Das hatte er in den vergangenen Stunden für seinen Geschmack etwas zu oft getan, aber wie der Inquisitor richtig bemerkte, hatte er im Moment keine andere Möglichkeit. Fürs Erste konnte er nichts weiter tun, als sich den Forderungen des grausamen Mönches zu fügen. Doch er wusste, dass dieses Spiel nicht ewig so weitergehen würde. Früher oder später würden sich die Machtverhältnisse wieder umkehren, und er würde ausreichend Gelegenheit bekommen, Rache zu nehmen. Sobald er von der Bedrohung erfahren hatte, die über seiner geliebten Tochter schwebte, hatte er ein paar seiner getreuesten Männer auf den Weg nach Lucca geschickt. Jetzt ging es nur darum, Zeit zu gewinnen, damit seine Gesandten rechtzeitig ans Ziel kamen. Danach würde sich das Blatt wieder wenden.

Er musste nur durchhalten. Und abwarten.

»Sie haben sie bestimmt in den Palast der Inquisition gebracht«, sagte Fulminacci und drehte das karminrote Haarband zwischen den Fingern. »Wir müssen ihr zu Hilfe eilen! Sofort, ehe es zu spät ist! Los, Zane, mach deine Messer bereit!«

Der Slawe legte seine riesenhafte Pranke auf die Schulter des Malers und schüttelte den Kopf. Sein trauriger Blick sprach deutlich von seinem Kummer über das Schicksal ihrer jungen Freundin.

»Du willst nicht mitkommen? Gut, dann gehe ich eben allein.«

Der Maler war buchstäblich außer sich vor Verzweiflung, und Zane musste den Druck seiner Hand verstärken, bis sich seine langen, kräftigen Finger in die Haut des Gefährten gruben und dieser schmerzhaft aufstöhnte.

»Lass mich los, verdammt! Wenn du nicht bereit bist, dein Leben für Beatrice zu riskieren, so lass wenigstens die gehen, die es mit den Heerscharen der Hölle aufnehmen würden, um sie zu beschützen. Lass mich, sage ich!«

Zane sah sich gezwungen, auch Fulminaccis andere Schulter zu packen, um ihn zurückzuhalten.

»Kapierst du denn nicht? Vielleicht wird sie gerade in diesem Augenblick gefoltert! Wir müssen sofort etwas unternehmen. Lass mich gehen, du Idiot, lass mich!«

Der Maler steigerte sich in eine wahre Hysterie hinein. Je mehr der Gefährte versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen, desto mehr wehrte er sich, ohne sich jedoch aus Zanes schraubstockartigem Griff befreien zu können. Zane wartete geduldig ab, bis er seine Raserei überwunden hatte, und achtete darauf, dass er sich bei seinen tobsüchtigen Befreiungsversuchen nicht verletzte.

Fulminacci fluchte und wand sich mit aller Kraft, bis er schließlich erschöpft und keuchend aufgab und zu Boden sank.

Zane beugte sich über ihn und verharrte so, bis das Schluchzen des Malers nachließ.

Lange blieb er am Flussufer sitzen, während sein stummer Freund, der ihn nicht mit Worten trösten konnte, ihn durch seine Gegenwart beruhigte.

»Was… was sollen wir jetzt tun?«, murmelte er heiser, als er wieder Herr seiner selbst war. Zane antwortete mit ein paar flinken Gesten.

»Ich verstehe dich nicht, Zane. Nimm den Block und schreib’s auf.«

Der Slawe griff nach den Blättern und kritzelte einige Worte hin.

»Freunde: Kircher Christine Azzolini«, las Fulminacci mit noch immer verschleierten Augen.

»Genau, Kircher! Vielleicht kann er etwas tun oder uns irgendwie weiterhelfen. Die Gesellschaft Jesu ist sehr mächtig. Los, Zane, wir haben schon zu lange herumgetrödelt, und das war allein meine Schuld.«

Die beiden machten sich eiligst auf den Weg, überquerten die Sisto-Brücke und liefen durch die engen, von Menschen wimmelnden Gassen des Borgo-Viertels. Es war schon später Nachmittag, als sie endlich die Piazza del Collegio Romano erreichten, wo sich der Sitz der Gesellschaft Jesu befand. Sie betraten das Gebäude und stiegen die Treppe zu Pater Kirchers Wohnung hinauf, vor der wie üblich Fernando, der treue Diener, Wache hielt.

»Pater Kircher ist gerade vom Palazzo Riario zurückgekehrt«, teilte ihnen der dienstbeflissene Bursche mit. »Er ist sehr müde. Ich weiß nicht, ob er Euch empfangen kann, Signor Sacchi.«

»Es betrübt mich, den guten Pater zu dieser Stunde zu stören, Fernando, aber es geht um Leben und Tod. Sag ihm, dass ich hier draußen warte.«

Als die beiden Gefährten in die Räume des Jesuiten geführt wurden, trafen sie ihn zusammengesunken in einem Sessel beim Fenster an. Pater Kircher hob müde den Blick, und sogar der resolute Maler zögerte, auf ihn zuzugehen, weil er so entkräftet aussah. Aber er konnte es sich nicht leisten zu warten. In dem Bewusstsein, dass jeder Augenblick zählte, nahm er seinen Mut zusammen und erzählte dem Pater aufgewühlt, aber kurz und bündig, was passiert war. Kircher hörte ihm mit halb geschlossenen Augen zu, als hätte er Mühe, wach zu bleiben, und trotz des eindringlichen Tons des Malers wirkte er nicht sehr aufmerksam, sondern mit anderen, größeren Dingen beschäftigt. Doch als Fulminacci geendet hatte, sprach er freundlich und keineswegs verärgert zu seinen Besuchern.

»Mein Sohn, ich bin nur ein armer Mönch, und auch wenn viele Mächtige mich durch ihre Wertschätzung und Freundschaft ehren, sind meine Möglichkeiten doch sehr begrenzt, wenn es um eine so furchteinflößende Einrichtung wie die heilige Inquisition geht. Wie Euch nicht entgangen sein wird, ist das Verhältnis zwischen dem Heiligen Offizium und der Gesellschaft Jesu recht gespalten, um es mal euphemistisch auszudrücken. Aber wenn ich Euch irgendwie helfen kann, sagt es mir ruhig.«

»Ihr kennt doch Kardinal Azzolini gut und seid mit ihm vertraut. Vielleicht würde er uns empfangen, wenn Ihr uns ein Empfehlungsschreiben ausstellt. Ich bin sicher, dass er etwas für Beatrice tun kann. Ihr seid unsere einzige Hoffnung.«

»Ja, möglich wär’s«, antwortete der Pater nachdenklich, »obwohl der Kardinal im Moment mit wichtigeren Angelegenheiten beschäftigt ist, fürchte ich. Ich weiß nicht, ob er bereit sein wird, einen Teil seiner kostbaren Zeit Eurem Problem zu widmen. Aber ich kann Euch ein Schreiben an Königin Christine ausstellen. Kommt, helft mir, aufzustehen und mich an den Schreibtisch zu setzen. Heute fühle ich mich älter als Methusalem.«

Kircher setzte rasch in seiner schrägen, gestochenen Handschrift ein Schreiben an die Königin auf. Dann faltete er den Brief dreifach, erhitzte ein Stäbchen Siegellack, ließ ein paar Tropfen auf die äußeren Falzstellen fallen und drückte sein Siegel hinein.

»Ähm, Pater, verzeiht, wenn ich Euch noch länger belästige, aber es gibt da etwas, das uns ebenfalls weiterhelfen könnte. Ich verstehe nicht ganz, wie es dazu kam, aber ich halte es für möglich, dass Beatrice in Verbindung mit jemandem bei der französischen Gesandtschaft steht. Als sie verhaftet wurde, kam sie jedenfalls gerade von dort. Bei all den hochgestellten Persönlichkeiten, die Ihr kennt, könnt Ihr uns doch gewiss mit jemandem in Kontakt bringen, der dort etwas zu sagen hat. Wir haben vorhin versucht hineinzugelangen, aber man hat uns sehr unfreundlich davongejagt.« Kircher seufzte und nahm ein neues Blatt, auf das er mit zitternder Hand ein paar Zeilen schrieb.

»Das Siegel wird Euch beim Pförtner ausweisen«, sagte er und gab dem Maler das Schreiben. »Übrigens, wie geht es mit der Brille?«

»Brille? Was für eine Brille?«, fragte Fulminacci verwirrt.

»Die Augengläser, die ich Euch angepasst habe, mein Sohn. Seht Ihr jetzt besser?«

»Ach so, entschuldigt, Pater, ich war gerade nicht bei der Sache. Doch, ich glaube, sie sind gut, auch wenn ich in den letzten Tagen nicht viel Zeit hatte, sie auszuprobieren.«

»Schön, wenn das hier überstanden ist, kommt wieder zu mir, dann nehmen wir die letzten Änderungen vor. Falls uns noch genug Zeit bleibt.«

»Zeit? Wie meint Ihr das, Pater?«

»Ach, schon gut, das führt zu weit, und Ihr würdet es wahrscheinlich sowieso nicht verstehen. Geht jetzt.«