27. Kapitel
Seit drei Tagen waren die Frauen jetzt im Lager der Freien Reiche.
Dort herrschte große Aufbruchstimmung. In Gruppen oder allein machten sich die Krieger auf, um endlich zu ihren Familien zurückzukehren. Krieger der Freien Reiche und ehemalige Hordenkrieger machten sich sogar oft gemeinsam auf den Heimweg. Nur hin und wieder kam es zu Reibereien zwischen den langjährigen Feinden, die aber in der Regel schnell von den Gardisten unterbunden wurden. Während die Krieger die Aussicht auf dauerhaften Frieden genossen und in meist sehr schlichten, weil lediglich friedlichen Zukunftsträumen schwelgten, zogen sich die Verhandlungen zwischen ihren Führern zäh dahin.
Camoras Reich galt es neu aufzuteilen, und Gebietsansprüche entmachteter Fürsten und neu ernannter Statthalter zu überprüfen. Um nicht sofort neue Feindschaften zu schüren, musste alles wohl bedacht werden. Immer wieder fand sich Fürst Darius der Frage gegenübergestellt, ob bloßes Erbrecht dem Recht des Eroberers vorzuziehen war. Da die Sitze im neu gegründeten Rat der Reiche zahlenmäßig gleich mit Führern der Freien Reiche und den ehemaligen Hordenführern besetzt waren, kam es zu ewig andauernden Gesprächen und Auseinandersetzungen darüber.
Morwena, die selbstverständlich regelmäßig an diesen Runden teilnahm, nutzte trotz ihrer wachsenden Müdigkeit jede sich bietende Gelegenheit, um nach der Großkönigin zu sehen.
Sie betrat gerade erneut zusammen mit Marga das Zelt, trat an Caitlins Bett und fragte mit besorgter Miene: »Wie geht es ihr heute? Gibt es endlich eine Besserung?«
Gideon, der seit der Ankunft der Frauen so gut wie gar nicht geschlafen hatte, erhob sich mühsam von seinem Stuhl und fuhr sich erschöpft durchs Gesicht. »Kaum! Das Fieber konnten wir bekämpfen, Krämpfe hat sie auch keine mehr bekommen, aber sie wacht nicht auf. Nichts, gar nichts wirkt. Weder Hylias Heilzauber noch meine Kräuter. Wenn sie nicht bald zumindest so weit zu sich kommt, um etwas zu trinken, werden wir sie verlieren. Sie … sie vergeht einfach. Wir haben etliche Male versucht, ihr Brühe einzuflößen, aber sie schluckt nicht. Sie atmet nur noch, das ist alles.«
»Vielleicht hätte man sie doch besser bei Ayala lassen sollen«, überlegte die Königin tief bekümmert, legte dem Gelehrten die Hand auf die Schulter und drückte den auf den Stuhl zurück.
Dankbar sackte er auf die Sitzfläche und zuckte die Achseln.
Doch Hylia lachte sofort freudlos auf. »Ich habe Ayala aus dem Wasserverlies heraus bestellen lassen, dass ihre Tochter todkrank wäre, und sie ließ antworten, ihre Töchter wären wohlauf, und der Zustand einer Verräterin würde sie nicht kümmern. Sie hätte keinen Finger für Caitlin gerührt. Höchstwahrscheinlich hätte sie sogar ihre Freude am schlechten Zustand ihrer ungehorsamen Tochter gehabt.«
Mit Tränen in den Augen blickte sie zum Bett. »Sie hat sich solche Mühe gegeben, sie hat gekämpft und getan, was sie konnte. Während das Fieber stieg und stieg, hat sie nur noch von Rhonan gesprochen und davon, dass er endlich eine richtige Familie haben müsste, damit er sich nicht so ungeliebt fühlte. Sie wanderte in unserem Verlies herum und redete pausenlos von ihrem Mann. Jetzt sind ihre Kräfte restlos erschöpft. Die Kalla haben uns unterwegs etwas zu essen gegeben, aber Caitlin konnte es nicht bei sich behalten, wie schon seit zwei Tagen nichts mehr. Sie hat es immer wieder versucht, hat nur langsam und wenig gegessen, aber es ging einfach nicht mehr. Sie … Bei allen Göttern, wenn ich wüsste, es könnte ihr helfen, würde ich freiwillig zurück ins Verlies gehen, aber ich kann nichts mehr für sie tun. Sie wird sterben, und ich denke, sie wird noch in dieser Nacht sterben.«
Ihre Stimme versagte völlig, und sie schlug unglücklich die Hand vor den Mund, um aufkeimendes Schluchzen zu unterdrücken.
»Das geht nicht, das darf ich nicht zulassen«, erklärte Morwena mit Bestimmtheit. »Meine Söhne und mein Neffe vertrauen auf mich.«
Gideon, der wie ein Häufchen Elend auf einem Stuhl kauerte, sah sie traurig an. »Ihr seid die Herrscherin über El’Maran, meine Königin, aber der Tod wohnt offensichtlich woanders. Ihr könnt nichts mehr tun.«
»Das muss sich erst noch herausstellen«, erwiderte sie und ging mit gerunzelter Stirn im kleinen Zelt hin und her.
Marga stand derweil an Caitlins Lager und betrachtete ihre bleiche Freundin mit schwerem Herzen und nassen Augen. »Wie können die Götter so etwas zulassen? Warum muss sie sterben, obwohl sie nichts Böses getan hat, und diese Hexe mit all ihren Lügen und Morden darf weiterleben? Ich verstehe es nicht und könnte schreien vor Wut.«
Morwena stellte plötzlich ihre Wanderung ein, stand eine Weile wie angewurzelt, griff sich schließlich die verwirrte Marga und umarmte sie wild. »Du hast ja so recht, meine Kleine! Warum habe ich nicht früher daran gedacht? Die Hexentochter wird ihr helfen können. Genau das ist es!«
Alle Anwesenden starrten sie entgeistert an.
»Das ist nicht Euer Ernst?«, würgte Hylia schließlich hervor. »Die wird Caitlin nichts anderes als den Tod bringen.«
»Unsinn! Toter als tot geht ja wohl nicht. Sie hat Derea das Leben und den Arm gerettet, sie wird vielleicht auch der Prinzessin helfen können. Marga, hol sie her!«
»Aber …« begann die, wurde jedoch sofort unterbrochen.
»Ich dulde keinen Widerspruch. Sie ist nur ein junges Ding, das an die falschen Menschen geraten ist. Sie kann nicht von Grund auf schlecht sein, wenn sie Derea gerettet hat, was ihr, nach seinen Angaben, sehr schwergefallen sein dürfte. Rasch, Marga, bitte sie her!«
Die eilte unwillig aus dem Zelt, aber Hylia ergriff an ihrer Stelle das Wort. »Ihr irrt Euch in Bezug auf Juna, Ihr irrt Euch gewaltig. Ich kenne sie besser, und ich sage Euch: Sie ist die Bösartigkeit in Person. Sie hat Meister Fergus getötet und davor ein Talermädchen nur so zum Spaß zu Tode gefoltert. Fast hätte sie Rhonan umgebracht, und dann hat sie mit Lust und Vergnügen zugesehen, wie Ligurius ihn gefoltert hat. Ihr hättet ihre strahlenden Augen hinterher sehen müssen. Es war ekelhaft. Sie ist völlig widernatürlich. Wenn sie Derea geholfen hat, dann hatte das seinen Grund. Glaubt bloß nicht, sie hätte es aus Menschlichkeit getan. Sie weiß gar nicht, was das ist, und tut nur, was ihren eigenen Plänen dienlich ist. Zu meinem Bedauern kenne ich ihre Ziele nicht, aber sie dürften kaum mit den unseren übereinstimmen.«
»Menschen können sich ändern«, gab die Königin zumindest äußerlich unbeeindruckt zurück. »Das Erste, was ich von Rhonan gehört habe, war, dass er ein nichtsnutziger, hinkender Säufer wäre. Offensichtlich hat er sich auch geändert.«
»Oh, ich bitte Euch! Das war nun wirklich etwas anderes«, gab Gideon sofort zu bedenken, und Morwena nickte ihm freundlich lächelnd zu.
»Ja, etwas anders ist es immer. Schließlich hinkt diese Juna nicht, und ob sie dem Trunk ergeben ist, weiß ich nicht. Wir können sie ja fragen.«
Der Gelehrte und Hylia sahen sich verzweifelt an. Morwena war anscheinend wild entschlossen, ihre Wünsche durchzusetzen, und nicht bereit, Einwänden auch nur zuzuhören. Allerdings sagte Gideon sich auch, dass sie mittlerweile an einem Punkt angekommen waren, an dem man durchaus auch gefährliche Wege gehen konnte. Insofern zumindest hatte Morwena recht: Toter als tot ging nicht.
Eine verbissen dreinblickende Marga brachte kurze Zeit später die übers ganze Gesicht strahlende Juna herein. Die Fürstentochter hatte sich gewundert, dass ihre Bitte nicht rundweg abgeschlagen worden war, aber die Hexe hatte sich nur vor Lachen gebogen und war sofort aufgesprungen.
Jetzt knickste diese vor Morwena. »Es ist mir eine Ehre, dass die Herrscherin El’Marans ausgerechnet mich ans Krankenbett der neuen Großkönigin ruft.«
»Erhebe dich, Kind!« Die Königin lächelte huldvoll. »Ich habe dir noch gar nicht dafür gedankt, dass du meinem Sohn das Leben gerettet hast. Er hat mir so viel von dir berichtet, und es war alles nur Gutes.«
Marga und Hylia warfen sich wilde Blicke zu, während die Hexentochter mit leiser Stimme erklärte: »Euer Sohn spricht meist mehr mit dem Herzen als mit der Vernunft. Ohne ihn hätte ich weder Fluss noch Wald überlebt. Außerdem war er stets freundlich, fast könnte man sagen gütig zu mir. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie mich das überrascht hat. Dafür musste ich mich erkenntlich zeigen, und Euer Sohn hat bestimmt übertrieben, als er sich lobend über mich äußerte.«
Sie warf Morwena einen kläglichen Blick zu. »Ich bin kein guter Mensch, nur, neben Eurem Sohn gelingt es sicher niemandem, richtig schlecht zu sein.«
Marga gab Geräusche von sich, die man unschwer als Würgen erkennen konnte, und Hylia brummte ungehalten.
Die Königin selbst nickte voller Verständnis. »Das hast du gut erkannt, meine Liebe. Er verfügt über ein ansteckendes Wesen. Wir werden uns später einmal ausführlich darüber unterhalten, aber jetzt wäre es nett, wenn du versuchen könntest, auch für Caitlin etwas zu tun. Trotz aller Bemühungen erwacht sie nicht mehr.«
»Wenn ich zu Diensten sein kann? Herzlich gern«, erwiderte Juna, zwinkerte Marga im Vorbeigehen zu und beugte sich über die Prinzessin.
Unter den argwöhnischen Augen Gideons und der Frauen ließ sie ihre Hände immer wieder über den ausgemergelten Körper gleiten, dann wandte sie sich wieder Morwena zu. »Es steht sehr schlecht, wie Ihr sicher wisst. Ich müsste meine Kräuter holen, und ich kann Euch in Anbetracht der Umstände nichts versprechen, nur, dass ich mein Möglichstes tun werde, um die Königin am Leben zu erhalten.«
»Das genügt, meine Liebe. Eile dich!«
Mit einem erneuten Knicks verließ sie das Zelt.
»Oh, ich könnte mich übergeben«, schimpfte Marga und rannte, offensichtlich am Rande eines Nervenzusammenbruchs, durchs Zelt. »Dieses widerliche, verlogene Miststück! Sie kennt wirklich überhaupt kein Schamgefühl.«
»Sie wird Caitlin nichts einflößen«, erklärte auch Hylia mit Bestimmtheit. »Das lasse ich auf keinen Fall zu.«
Sie warf Marga und dem Gelehrten fassungslose Blicke zu. »Habt ihr euch das angehört? Ich dachte, ich werde verrückt. Spricht die von Güte. Die weiß doch nicht einmal ansatzweise, was das ist.«
»Ausgerechnet sie, die …«
»Genug! Und bleib stehen oder setz dich! Du machst mich ganz verrückt«, unterbrach Morwena die Hauptmännin und sah in die Runde.
»Ihr werdet dieser Hexentochter jede Unterstützung gewähren, die sie benötigt, und ihr werdet sie tun lassen, was immer sie will.«
»Aber …«, begann Hylia.
»Nichts aber«, unterbrach die Königin erneut und heftig.
»Ihr könnt Caitlin nicht mehr helfen, wenn ich euch richtig verstanden habe. Wir haben also nichts mehr zu verlieren. Selbst wenn Camora oder Maluch jetzt meine einzige Hoffnung wären, würde ich auf sie vertrauen. Ich will, dass diese Frau lebt. Ich habe es meinen Söhnen versprochen, und ich will es für meinen Neffen. Ich bin auch guter Hoffnung, denn Derea vertraut ihr und …«
»Ja!«, schrie Marga dazwischen. »Weil er sich in sie verliebt hat. Sie muss ihn verhext haben, sonst …«
Sie brach ab, weil alle sie entsetzt ansahen und ihr plötzlich wieder einfiel, dass sie darüber Stillschweigen hatte bewahren sollen.
»Was sagst du da?«, wollte die Königin auch schon mit versteinerter Miene wissen.
Darius’ Tochter wand sich verlegen und brachte mühsam hervor: »Entschuldigung! Vergesst, was ich eben gesagt habe! Das war nur meine Vermutung, weil ich mir nicht vorstellen konnte, aus welchen Gründen Derea ihr sonst vertraut haben sollte. Aber das ist Unsinn! Nie hätte er …«
Sie war tatsächlich dankbar, dass die Hexentochter in diesem Augenblick zurückkam und damit jedes weitere Gespräch im Keim erstickte. Allein die bohrenden Blicke Morwenas fand sie schon schlimm genug.
»Ich benötige ein Feuer, einen kleinen Kessel darüber und Wasser – und zwar hier im Zelt«, erklärte Juna und breitete schon auf einem Tischchen ihre Kräuter und Pulver aus.
Während Gideon und Marga liefen, um ihre Wünsche zu erfüllen, stellte sich Hylia zu ihr an den Tisch. »Ich traue Euch nicht und will haargenau wissen, was Ihr vorhabt.«
»Aber gern«, gab die mit charmantem Lächeln zurück. »Die Königin ist schwach, zu schwach, um auch nur diese Nacht noch zu überleben. Aber das wisst Ihr selbst, nicht wahr? Ich werde sie gleich in einen Rausch versetzen. Der wird sie nicht heilen, sie wird auch nicht erwachen, aber sie wird hoffentlich tun, was ich ihr sage – trinken zum Beispiel. Betet lieber, dass es mir gelingt! Wenn ich denke, dass es an der Zeit ist, werde ich sie wecken. Wenn Ihr ihr helfen wollt, bringt mir kräftigende Fleischbrühe oder einen stärkenden Kräutertrank. Ganz nach Belieben! Bereitet zu, was ihr am besten hilft, zu überleben, wenn Ihr meint, dass Ihr zumindest dazu in der Lage seid.«
Die Priesterin ging einen Schritt auf sie zu und sah sie drohend an. »Wenn Ihr ihr ein Leid zufügt, dann werdet Ihr das bereuen. Verlasst Euch darauf!«
»Ihr wisst selbst, dass sie mehr tot als lebendig ist. Ich kann mich tatsächlich auch nicht daran erinnern, meine Hilfe aufgedrängt zu haben«, erwiderte die ungerührt. »Wenn Ihr mir nicht traut, kann ich gern wieder gehen. An ihrem Überleben liegt mir persönlich nicht sehr viel.«
Die beiden Frauen maßen sich mit unterkühlten Blicken, und Hylia wünschte sich nicht zum ersten Mal, auch nur erahnen zu können, was in der Hexentochter vorging. Sie sah von der zur streng blickenden Königin, kniff die Lippen zusammen und schwieg.
Juna lächelte sie geringschätzig an, bevor sie ihre Kräuter zerrieb.
Nachdem ein kleines Feuer brannte und das Wasser im Kessel darüber kochte, wandte sich Maluchs Ziehtochter an die übrigen Anwesenden. »Es könnte durchaus sein, dass nicht nur die Prinzessin der berauschenden Wirkung der Kräuter zum Opfer fällt. Wer sich dieser Gefahr lieber nicht aussetzen möchte, sollte jetzt gehen.«
»Hilfreich wird unsere Gegenwart kaum sein«, erklärte Morwena sofort und zerrte die sichtlich unwillige Marga mit sich.
Aber Hylia und Gideon blieben sitzen, auch wenn sie sich zweifelnde bis ängstliche Blicke zuwarfen.
In der nächsten Zeit wurden sie dann Zeugen, wie die Hexentochter Blätter und Pulver in den Kessel streute und sich daraufhin ein geradezu betörender, süßlicher Qualm ausbreitete. Hylia hielt sich vorsichtshalber ein Tuch vor Mund und Nase, und Gideon folgte sehr schnell ihrem Beispiel. Juna warf ihnen belustigte Blicke zu und lenkte mit einfachen Handbewegungen den Qualm zum Bett. Bald war Caitlin darin kaum noch zu sehen.
Die Hexentochter beugte sich über sie, öffnete leicht die Lippen der Königin, blies Rauch in Nase und Mund, presste ihre Hände fest an deren Schläfen und sprach dabei leise und mit betonungsloser Stimme ihre Zauberformeln. Darauf hätte sie auch verzichten können, da es nur ungereimtes Zeug war. Aber sie wusste, dass Menschen von Hexen unverständliche Worte erwarteten, und hatte trotz der Schwierigkeiten, eine geistige Verbindung zu der im Sterben liegenden Frau herzustellen, noch ihren Spaß an den ängstlichen und beeindruckten Mienen der beiden Heiler.
Allmählich verflüchtigte sich der Rauch, und verblüfft, aber auch mit aufkeimender Hoffnung durften die Priesterin und der Gelehrte erleben, wie Caitlin auf Junas Befehl hin den Kräutertrank, der ihr an die Lippen gehalten wurde, schluckte.
Die Hexentochter strich vor sich hin murmelnd über den Leib der Prinzessin und flößte ihr wenig später auch noch Brühe ein. Erneut ließ sie im Anschluss daran ihre Hände sanft über Caitlins Bauch kreisen.
Hylia konnte es kaum glauben, aber ihre junge Freundin erbrach die Speisen nicht wieder. Im Schein des kleinen Feuers meinte sie sogar, etwas Farbe auf deren Wangen ausmachen zu können.
Juna drehte sich zu ihr um und warf ihr einen höhnischen Blick zu. »Mich und meine Fähigkeiten kennt auch Ihr nur zur Hälfte, Nebelfrau. Eure Königin ist zwar etwas gestärkt, steht aber immer noch auf der Schwelle des Todes. Es ist ungewiss, wohin ihr nächster Schritt sie führen wird, und daher schwierig, eine Verbindung zu ihr zu halten. Ich fühle mich etwas schlapp und mache jetzt einen kleinen Spaziergang. Seht in der Zwischenzeit zu, dass das Feuer nicht ausgeht und dass Eure geliebte Caitlin nicht den falschen Weg geht.«
Mit diesen Worten und einem heiseren Lachen verließ sie das Zelt.
»Ich glaub es kaum«, murmelte Gideon beeindruckt und strich schon liebevoll über die Stirn der Prinzessin. »Sie hat tatsächlich getrunken. Hylia, es besteht noch Hoffnung.«
»Sollte sie jemals wieder erwachen, kann ich nur hoffen, dass es auch noch Caitlin ist, die erwacht«, entgegnete die düster. »Ich trau dieser Hexe nicht.«
Vor dem Zelt schwankte Juna stark und hielt sich schließlich sogar an einem Fahnenmast fest, während sie versuchte, zusammen mit der kühlen Nachtluft auch neue Kraft einzusaugen. Viel zu viel von ihrer eigenen Lebenskraft hatte sie der sterbenden Königin schon zukommen lassen, aber um das einzige Ziel zu erreichen, das sie unbedingt und mit jeder Faser ihres Herzens erreichen wollte, musste sie weitermachen. Sie ahnte, dass die Rettung Caitlins sie Jahre ihres Lebens kosten würde, aber nur so würde sie sich ihren Herzenswunsch erfüllen können. Was bedeuteten schon ein paar lächerliche Jahre, wenn er nur in Erfüllung ging?
Zwei Priesterinnen führten Rhonan ins Sommerzimmer.
Er war klitschnass und schwankte. Das Erste, weil er gerade seine allabendliche Dusche am Wasserfall hinter sich hatte, Letzteres weil seine Beinmuskeln, wie alle anderen auch, völlig verkrampft waren.
Weder Martha noch einen Kerker hatte er bisher gesehen. Diese Drohung hatte offensichtlich nur Caitlin quälen sollen. Ihm selbst wäre zumindest der Kerker lieber gewesen. Denn sein Verlies war ein Erdloch im Garten, das mit einer Kromplatte verschlossen war und in dem er weder stehen noch sitzen oder gar liegen konnte. Gezwungenermaßen kauerte er mit angezogenen Beinen in seinem modrigen Gefängnis und dachte an seine sterbenskranke Ehefrau. Ständig sah er ihre fiebrig glänzenden Augen vor sich und hörte ihre brüchige Stimme. Aus kurzem Schlaf schreckte er immer wieder hoch, geweckt von der Furcht, sie könnte schon nicht mehr leben. Er gab sich auch jetzt nicht der Hoffnung hin, dass ein Gespräch mit der Königin ihm etwas Erfreuliches bringen könnte.
Ayala topfte gerade eine Pflanze um und sah jetzt hoch. »Ich fühle mich ja geehrt durch die Anwesenheit des Großkönigs, aber ich frage mich langsam, wie lange ich mich noch an ihr erfreuen soll. Könnt Ihr mir behilflich sein?«
»Ihr seid die Hausherrin, Ayala. Wenn Ihr mich fortschickt, werde ich mich Euren Wünschen gern fügen. Eure Gastfreundschaft lässt doch zu wünschen übrig.«
Sie lächelte ihn ausgesprochen freundlich an. »Wir haben nicht gern Männer im Haus. Ich gebe zu, dass unsere Grube für Winterknollen nicht für jemanden von Eurer Größe gebaut wurde, aber Ihr wolltet ja unbedingt bleiben.«
»Die Räumlichkeiten sind in der Tat beengt, aber ich hatte zumindest erwartet, dass man mir hin und wieder etwas zu essen anbieten würde.«
»Ich hatte Euch doch gesagt, dass ich Euch nicht als Gast betrachten werde. Ihr glaubtet, damit leben zu können. Solltet Ihr verhungern, dürft Ihr Euch bei Euren Freunden dafür bedanken. Sie lassen sich schließlich viel Zeit mit Eurer Befreiung. Meine Schuld ist das nicht.«
Sie bedachte ihn mit einem kurzen Blick, bevor sie mit ihrer Arbeit fortfuhr. »Sie verlassen sich meines Erachtens ein bisschen zu sehr darauf, dass ich Euch noch benötige. Seht Ihr, die Quelle ist doch bereits geöffnet. Ich will sie ja gar nicht wieder versiegeln, ich will nur hinein.«
»Auch dazu müsstet ihr an den Dämonenwächtern vorbei. Nur mit Kahandar kann man sie besiegen, und nur ich kann Kahandar führen. Ich will nicht selbstherrlich erscheinen, aber ich fürchte, Ihr benötigt mich tatsächlich noch für Eure Pläne.«
»Ja, das könnte sogar sein. Eure Überlegung, dass Ihr als Einziger bei mir zumindest nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schweben würdet, war vom Ansatz her richtig, die Einzelheiten waren jedoch nicht gut durchdacht. Aber Euch fehlten Zeit und Muße, nicht wahr? Eure Sorge um Caitlin war einfach zu groß«, erwiderte sie und griff sich einen anderen Topf.
Während sie abwechselnd Erde und Sand hineinschaufelte und dabei offensichtlich auf die jeweiligen Mengen achtete, erklärte sie im Plauderton. »Wisst Ihr, Rhonan da’Kandar, ich bin nicht so dumm, wie Ihr vielleicht denkt. Sollten die Siegel hier eintreffen, werde ich wissen, dass Euer Heer am Wolkenberg versammelt ist. Stellt Euch vor, ausgerechnet meine eigenen Söhne werden dort auf mich warten, um mir Einhalt zu gebieten.«
Sie sah kurz hoch, lachte über seine finstere Miene und fuhr fort: »Dass Ihr etwas vorhabt, hätte ich von allein gewusst. Was genau Ihr vorhabt und wie weit Eure Pläne fortgeschritten sind, erfahre ich täglich von Juna, meiner geliebten Patentochter. Falls Ihr es wissen wollt, Hylia hat von Canon erfahren, dass das Heer bereits bei da’Salanka ist. Wir beide müssen also nicht mehr lange warten. Juna wird dafür sorgen, dass Hylia am Fieber erkrankt, so dass sie nicht mehr berichten kann, dass Eure Armee geradewegs in die Falle läuft, die ich für sie vorbereiten werde.«
Rhonan hatte plötzlich noch mehr Mühe, sich auf den Beinen zu halten, und noch sehr viel mehr Mühe damit, seine Beherrschung nicht zu verlieren. Allein die Tatsache, dass Ayala sich weiterhin mit so viel Hingabe ihrer Aufgabe widmete, während sie die grässlichsten Neuigkeiten preisgab, trieb ihn zur Weißglut.
Wenn sie seine Anspannung bemerkte, zeigte sie es nicht, als sie noch ein wenig Pulver in den Topf gab, zufrieden ihr Werk betrachtete, einen kleinen Schössling griff und dann fragte: »Habt Ihr schon einmal miterlebt, was geschieht, wenn Priesterinnen ihre Kräfte bündeln? Ich sage es Euch: Körper zerplatzen, Menschen verglühen oder erstarren zu Eis. Juna hat Euch ansatzweise gezeigt, über welche Kräfte wir verfügen, und sie hat sich zurückgehalten, weil Ihr damals ja noch nicht sterben solltet. Stellt Euch nun das Ganze jetzt zwanzigfach stärker vor, und Ihr müsstet erahnen, dass keine Armee uns standhalten kann. Wir müssen nicht einmal aus unserer Deckung herauskommen, um Gegner zu töten. Es wird daher eine sehr einseitige Schlacht werden. Will sagen, auf der einen Seite wird gezaubert, auf der anderen Seite wird gestorben. Und wenn endlich alle gestorben sind, denen ich dieses Schicksal zugedacht habe, werden wir zwei zur Quelle gehen.«
Rhonan überlief es heiß und kalt. Neben Ayala war selbst Camora nur ein armseliger Wicht gewesen.
»Was macht Euch glauben, dass ich Euch in diesem Fall noch den Weg zur Quelle öffnen würde?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Sobald das getan ist, werdet Ihr mich doch ohnehin töten.«
Ayala betrachtete ihr eingetopftes Bäumchen. »Schön, nicht wahr? Es ist eine eigene Züchtung, eine Kreuzung aus Blutbuche und Schwarzweide, und ich hoffe, dass sie nächstes Jahr um diese Zeit die ersten Blüten tragen wird. Ich muss mir noch einen Namen ausdenken. Soll ich sie Euch zu Ehren nach Euch benennen?«
Er erwiderte nichts, und sie warf ihm einen versonnenen Blick zu. »Das ist Euch gleichgültig? Ihr habt nie darüber nachgedacht, wie wunderbar es ist, der Nachwelt etwas Bleibendes zu hinterlassen und allein dadurch nie in Vergessenheit zu geraten? Schade, aber nun gut! Wovon sprachen wir gerade? Ach, von Eurem Tod, wenn ich mich richtig erinnere. Ja, ich denke, ich werde Euch töten, aber davon seid Ihr ausgegangen, als Ihr hier ankamt, oder? Wir waren beide unehrlich zueinander. Denn Ihr hattet auch nie vor, mir den Weg zur Quelle zu öffnen.«
Sie stellte die Pflanze auf einen Tisch nahe den Fenstern, rückte sie hin und her, bis sie ihrer Ansicht nach im rechten Licht stand, und kam dann mit einem kalten Lächeln auf ihn zu, bis sie dicht vor ihm stand. »Aber ich denke, diesbezüglich werdet Ihr noch anderen Sinnes. Wenn Ihr wieder in Euer Verlies geht, denkt über Folgendes nach: Eure Frau lag im Sterben, und weder der Weise noch die abtrünnige Priesterin konnte ihr helfen. Was glaubt Ihr, wen man letztlich zu ihrer Heilung holte? Ausgerechnet Juna!«
Sie lachte schallend auf. »Oh, schaut doch nicht so entsetzt. Meine Zauberin der Nacht ist auf vielen Gebieten begabt. Sie gibt sich Mühe, und Caitlin wird wieder erwachen. Dann allerdings wird sie neben ihrem Kind auch noch einen Zauber in sich tragen. Juna wird sie mit seiner Hilfe quälen, verletzen oder töten können, ohne auch nur in ihre Nähe kommen zu müssen. Solltet Ihr den Wunsch haben, Eure Frau davor zu schützen, werdet Ihr tun müssen, was immer ich Euch auch befehle.«
Erneut lachte sie auf. »Ich sehe es Euch an: Ihr überlegt, ob Ihr Kahandar rufen sollt, um mich zu töten? Es würde Euch nicht gelingen. Ich wäre nur sehr ungehalten. Liefert mir den kleinsten Grund zur Beschwerde, und Juna wird Eurer geliebten Frau einen kleinen Gruß von Euch schicken: einen Krampf vielleicht oder eine Schmerzwelle. Caitlin ist ja schwanger, da geschieht das hin und wieder. Betrüblich, aber nicht weiter verwunderlich. Euer Liebchen ist ganz in der Hand meiner Juna, und das heißt wiederum, Ihr seid in meiner Hand.«
Rhonan blickte die schöne Frau an, deren Haarfarbe und Augen ihn so sehr an Caitlin erinnerten, ballte in hilflosem Zorn die Fäuste und glaubte, kaum noch atmen zu können. »Ihr werdet doch auch Caitlin niemals am Leben lassen«, entgegnete er tonlos.
Ayala ging zu ihrer neu angepflanzten Züchtung und verschob den Topf. »Ich glaube nicht, dass zu viel Sonnenlicht gut ist. Halbschatten dürfte besser sein. Halbschatten und viel Feuchtigkeit!«
Dann wandte sie wieder den Blick. »Wir sind an einem Punkt angekommen, da wir ehrlich zueinander sein sollten«, erklärte sie freundlich lächelnd. »Ihr habt natürlich recht. Ich werde auch Caitlin töten, denn ein rächender Erbe ist tunlichst zu vermeiden, wie man allein an Euch sehen kann. Aber Euer Verhalten wird bestimmen, wie sie stirbt: schnell und schmerzlos oder langsam und qualvoll. Ihr kennt Juna gut genug, um zu wissen, wie sehr sie Grausamkeiten schätzt. Und meine Patentochter ist genauso begabt wie geduldig und lässt sich gern Zeit. Ihr könnt das allerdings verhindern. Ich leiste hier und jetzt einen Eid auf unsere Schutzgöttin, dass Caitlin, ohne es überhaupt zu bemerken, im Schlaf sterben wird, wenn Ihr bis zu Eurem Ende tut, was ich von Euch verlange.«
Unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen, starrte Rhonan sie nur an.
Sie schien ihre Macht über ihn sichtlich zu genießen und dehnte den Augenblick aus. »Caitlin bedeutet Euch sehr viel, nicht wahr? Wenn ich Euch jetzt befehlen würde, Eure linke Hand auf den Tisch zu legen, damit ich sie auch noch zertrümmern kann, dann würdet Ihr das ihr zuliebe sofort tun, oder?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
Seine Augen blitzten, sein Hals schien sich zu verengen, und unwillkürlich öffnete sich seine Hand und schloss sich wieder.
Sie sah das und lachte kehlig auf. »Keine Angst, junger König, das verlange ich gar nicht von Euch. Ihr hattet vorhin völlig recht. Ihr müsst mir noch die Dämonenwächter bezwingen, erst danach werde ich Euch töten. Ich will ehrlich sein: Vielleicht werde ich Euch zu diesem Zweck auch Juna schenken. Unsere Hexentochter hat sich für ihre Mühen eine Belohnung verdient, zumindest wenn sie sich zuvor nicht mit Eurer Gattin vergnügen durfte.« Sie strahlte ihn mit großer Genugtuung an. »Und jetzt dürft Ihr Euch wieder entfernen. Ihr seht ein bisschen mitgenommen aus. Versucht, zu schlafen! Schlaf kann sehr erholsam sein.« Fröhlich vor sich hin summend wandte sie sich schon wieder ihren Pflanzen zu.
Als Rhonan in seiner Erdhöhle kauerte, wusste er noch nicht einmal, wie er dort hineingekommen war. Selten hatte er eine Lage jemals als aussichtsloser empfunden.