10. Kapitel




Der Duft von gebratenem Speck mit Eiern weckte Derea am nächsten Morgen. Gähnend sah er sich um. Hylia half ihrer Gastgeberin bei der Zubereitung des Frühstücks. Gideon und Marga saßen am Tisch und unterhielten sich so leise, dass er gerade noch Gesprächsfetzen von Flussleuten und Verrat auffangen konnte. Rhonan und Caitlin lagen eng umschlungen vor der Pritsche, und Juna saß unweit von ihm auf dem Boden und war offensichtlich auch gerade erst erwacht.

Sie sah ihn belustigt an. »Was für eine platzsparende Art zu schlafen, nicht wahr? Für mich wäre diese Enge allerdings nichts.«

»Nur keine Angst. Es käme auch niemand auf den Gedanken, sich an Euch zu schmiegen. Ich glaube, das hat etwas mit Liebe zu tun. Wer sollte Euch die entgegenbringen? Doch wohl nicht einmal Camora, Euer zukünftiger Ehemann!«

Ihre Augen verengten sich vor Wut, und er fing ihre Hand ab, als sie ihn schlagen wollte. »Huch! Macht mir nicht schon wieder Angst«, bat er breit grinsend und erhob sich.

Gideons Magen knurrte unüberhörbar. »Caitlin, Rhonan, hört auf, zu schmusen! Wir wollen frühstücken.«

Er sah Marga mit aufgesetzt betrübter Miene an. »So geht es schon die ganze letzte Zeit. Das ist ein Kreuz mit diesen jungen Leuten. Fast waren sie mir lieber, als sie sich nur gestritten haben.«

Sie lachte auf und streichelte seine Wange. »Armer, alter Mann!«

»Nicht wahr«, erwiderte er vergnügt.

Kurze Zeit später saßen sie alle, mit Ausnahme des Generals, am Frühstückstisch. Rhonan, dem erst jetzt die große Ähnlichkeit zwischen Caitlin und Derea auffiel, machte seine Gattin darauf aufmerksam, dass der Hauptmann ihr Halbbruder war.

Die Prinzessin war entzückt und freute sich wie ein kleines Kind. »Ich mochte meine Mutter und meine Schwestern nie besonders«, eröffnete sie Derea unumwunden. »Jetzt habe ich einen Gatten und einen Bruder. Das ist viel, viel besser.« Sie sprang vom Stuhl und lief mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. »Lass dich umarmen, Bruder! Oh, wir werden eine Menge Spaß haben.«

Der erwiderte die Umarmung herzlich, sah sie allerdings ungläubig an, da er mit ihrer gemeinsamen Reise zwar eine Menge verband, aber keinen größeren Spaß.

Rhonan jedoch erklärte: »Ganz sicher!«

Im Gegensatz zum gestrigen Tag wirkten Caitlin und Gideon entspannt und vertilgten wahre Berge von gebratenem Speck mit Eiern. Der Gelehrte warf Rhonan dabei immer wieder prüfende Blicke zu.

Endlich legte der sein Messer aus der Hand, blinzelte dem Verianer zu und erklärte: »Mir geht es gut, Gideon. Die Hand fühlt sich ganz gut an, und auch sonst ist alles in Ordnung. Möchtest du sonst noch etwas wissen?«

Der errötete leicht. Hatte er doch geglaubt, sich unauffällig verhalten zu haben. »Du bist … ich meine … glaubst du, du kannst …«

Rhonan unterbrach das Gestammel. »Ja, ich kann. Ihr beide trichtert mir, seit ich euch kenne, ein, ich solle die Vergangenheit ruhen lassen und an die Zukunft denken. Ich beabsichtige, das endlich zu tun.«

Der Verianer nickte erleichtert und blickte seinen Begleiter mit einem Ausdruck an, der Derea unwillkürlich an väterlichen Stolz denken ließ.

»Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr diesen General am Leben lasst?«, fragte Juna demgegenüber. »Nach allem, was er getan hat?«

»Glaubt Ihr, ich hätte mehr Grund, ihn zu töten als Euch?«, fragte er trocken zurück. »Vielleicht solltet Ihr dankbar sein, dass mein Handeln nur selten von Rachegelüsten bestimmt wird.«

»Ihr seid in der Tat bemerkenswert friedfertig«, entgegnete sie in einem Tonfall und mit einem Blick, die ihre Verachtung deutlich machten. »Ich habe, bevor ich Euch kennenlernte, schon nicht verstehen können, aus welchen Gründen Maluch einen Mann fürchtete, der vor seinen Feinden davonlief, sich lieber in dunklen Ecken verkroch und sich in den Armen billiger Talermädchen sinnlos betrank. Jetzt weiß ich genau, dass seine Furcht unbegründet ist. Ihr seid vielleicht ein brauchbarer Schwertkämpfer, aber Ihr seid nicht Manns genug, um Camora die Stirn bieten zu können. Habt Ihr schon in Erwägung gezogen, Euch mit ihm zu treffen, um ihm zu sagen, dass Ihr es nicht weiter übelnehmt, dass er Eure Familie ausgerottet hat. Vielleicht zeigt er Erbarmen und verschont Euch.«

Der Prinz runzelte die Stirn und nickte bedächtig. »Meint Ihr, er würde das tun? Habt Dank für Euren Hinweis. Ich werde ihn überdenken.«

Derea grinste breit, als er Junas verdutztes Gesicht sah. Eins musste man dem Prinzen lassen: Leicht reizbar war er nicht.

Der flüsterte seiner Frau gerade zu: »Hör auf, mich zu kneifen. Was erwartest du von mir? Soll ich sie fordern oder niederschlagen? Im Gegensatz zu deinen Beleidigungen hat die Hexe sich doch zurückgehalten.«

Caitlin wollte gerade etwas erwidern, aber in diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und der General kam mit einem Schwall kalter Luft herein. Alle Blicke wanderten unwillkürlich von ihm zum Prinzen, aber der zeigte nicht die kleinste Gemütsregung.

Auch Raoul tat so, als wäre nichts geschehen.

Mit einem »Guten Morgen!« setzte er sich an den Tisch und erklärte: »Ich habe gerade Nachricht erhalten. In Kairan ist bereits ein erbitterter Kampf um die Nachfolge des Inquisitors ausgebrochen. Es scheint viele Männer zu geben, die nur auf den Tod des Ketzerjägers gewartet haben. Offensichtlich hat man ihm in seinen eigenen Kreisen übelgenommen, dass er mit Camora gemeinsame Sache machen wollte. Sein Ende wird von vielen als verdiente Strafe für den Verrat an der göttlichen Aufgabe angesehen. Die Spione müssen wir wohl nicht mehr fürchten, die Hordenkrieger dafür umso mehr. Die haben die Tempelstadt bereits verlassen und schwärmen aus.«

Er nahm einen kleinen Schluck und fuhr dann fort: »Es wird wieder Schnee geben. So, wie es aussieht, wird es sogar reichlich Schnee geben. Können wir heute noch weiter, bevor wir hier einschneien? Wir sollten den Norden möglichst schnell hinter uns lassen und zusehen, dass wir nach Latohor kommen.«

»Ist das nicht etwas früh?«, fragte Marga mit einem zweifelnden Blick auf Rhonan.

»Nein, das wird schon gehen«, erwiderte der. »Aber wir werden nicht nach Latohor gehen, wir gehen zum Wolkengebirge.«

»Aber der Weise …«, wollte Marga widersprechen, wurde aber vom Prinzen unterbrochen. »Gideon ist der Weise. Die Siegelgemeinschaft ist längst beisammen.«

Seine Worte riefen Erstaunen und große Freude bei den neuen Begleitern hervor. Vor allem Marga hätte am liebsten gejubelt. Hatte sie doch bis jetzt geglaubt, allein ihr Versagen hätte das Versiegeln der Quelle unmöglich gemacht.

»Die Quellenhöhle wird sicher bewacht«, dämpfte Derea die gute Laune schließlich. »Dürfte auch schwierig werden, überhaupt bis zu ihr vorzudringen, da wir die ganze Zeit durch Camoras Reich ziehen müssen!«

»Bis dahin ist noch ein weiter Weg. Uns fällt unterwegs sicher etwas ein«, erklärte sein Schwager unbekümmert, aber Caitlin seufzte mürrisch auf. »Ich hatte gehofft, wir hätten den verdammten Schnee hinter uns. Ich will endlich aus dieser Kälte raus.«

»Mir bereiten die Horden mehr Sorgen als der Schnee«, bemerkte Gideon. »Vermutlich sind sie uns längst auf den Fersen.«

»Ganz sicher sogar«, stimmte Juna mit höhnischem Lächeln zu. »Ihr müsst euch eigentlich über gar nichts mehr den Kopf zerbrechen. Weit kommt ihr nämlich nicht.«

Ausgerechnet die sonst so ausgeglichene Marga packte Maluchs Ziehtochter am Kragen und zog sie zu sich heran. »Halt endlich dein Maul, du dämliche Ziege, sonst stopf ich’s dir.«

Kurze Zeit später waren alle reisefertig.


Die alte Hella brachte Rhonan beim Abschied in arge Verlegenheit. Er entschuldigte sich bei ihr für die bereiteten Unannehmlichkeiten und bedankte sich höflich für ihre Gastfreundschaft, und sie ließ sich auf die Knie nieder und küsste seine Hand. »Mögen die Götter Euren Weg ebnen, mein König. Die Zukunft der Reiche liegt in Euren Händen, und darüber bin ich glücklich, denn Ihr besitzt Stärke, Weisheit und Güte in gleich großem Maße. Ihr seid ein wahrer König, wie ich nun weiß, und Ihr werdet die Schatten vertreiben. Unsere Gebete sind erhört worden.« Erneut küsste sie inbrünstig seine Hand.

Rhonan hatte sich noch nicht von seinem Schrecken erholt, als Marga neben der Alten auf ein Knie sank.

»Ihr seid mein König. Mein Arm und mein Schwert gehören Euch.«

Bis auf Caitlin, die ihrem Gatten zunickte, und Juna, die den geschockten Großkönig belustigt musterte, folgten alle ihrem Beispiel.

Der Prinz sah auf die gesenkten Köpfe, schluckte erst einmal kräftig und räusperte sich unbehaglich. »Ich danke euch, und ich werde versuchen, mich eures Vertrauens als würdig zu erweisen«, brachte er schließlich mühsam hervor.

Derea musste sich auf die Lippen beißen, als er wenig später Caitlins Stimme hörte. »Das hast du schon sehr schön gesagt, Liebster. Das nächste Mal musst du nur noch darauf achten, dass du nicht gerade klingst wie ein gehetztes Wild. Die Wirkung deiner Worte wird dann ungleich größer sein.«

Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
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