23. Kapitel
Rhonan wurde fast wahnsinnig und lief wie ein gefangenes Tier auf der kleinen, künstlichen Insel herum, die man ihnen zum Schlafen zugewiesen hatte. Seit Tagen waren sie nun schon in der gewaltigen Schilfkuppel der Kalla zur Untätigkeit verdammt. Der Anführer des Stammes hatte darauf bestanden, in einer so wichtigen Frage zunächst sämtliche anderen Führer zusammenzurufen. Ob die Echsen ihren Sumpf zum ersten Mal verlassen wollten und ob sie zum ersten Mal in einen Krieg ziehen wollten, das waren Entscheidungen, die nur von allen gemeinsam getroffen werden konnten. Rhonan und Gideon hatten unzählige Male versucht, sie von der Dringlichkeit und Wichtigkeit ihrer Aufgabe zu überzeugen, aber die hünenhaften Krieger hatten ihnen nur stets versichert, sie wüssten um die große Bedeutung und müssten sich gerade deshalb gut beraten.
Dem Gelehrten gelang es kaum noch, seinen Freund bei Laune zu halten. Der Prinz wurde spürbar unruhiger, schlief nur noch schlecht, aß immer weniger und behauptete ständig, es ginge Caitlin nicht gut.
»Du solltest die Zeit besser nutzen und dir Ruhe gönnen, bei dem, was noch vor dir liegt«, riet Gideon fürsorglich.
»Noch mehr Ruhe kann ich nur haben, wenn ich tot bin«, fluchte sein Begleiter und nahm seine Wanderung wieder auf. »Es war einfach ein blöder Einfall, herzukommen. Sie sind nicht nur äußerlich anders als wir, sind nicht nur stärker als wir, schneller zu Fuß als wir zu Pferde, sie denken und fühlen auch anders. Sie nehmen alles viel persönlicher, denken mehr an ihre Familien als an ihr Volk, und Begriffe wie Ehre oder Verpflichtung kennen sie offensichtlich überhaupt nicht. Ich weiß einfach nicht mehr, wodurch ich sie noch überzeugen kann? Verrat du mir doch, wie ich es schaffen soll!«
Der Gelehrte lächelte ihn väterlich an. »Du, mein Freund, denkst doch auch nicht nur an dein Volk. Du läufst ihm eher noch davon. Du willst in erster Linie doch auch Sicherheit und Frieden für Caitlin und dein Kind. So unähnlich, wie du denkst, bist du ihnen also gar nicht. Sei einfach du selbst, und überzeuge sie mit deiner Ehrlichkeit. Wenn ich etwas weiß, dann, dass die Echsenmenschen ein Gespür dafür haben, ob du ehrlich zu ihnen bist oder nicht.«
»Woher willst du das denn jetzt wissen? Hast du das vielleicht an ihren ausdruckslosen Gesichtern abgelesen, oder hast du mir nicht alles übersetzt, was sie sagten?«
»Es ist ein Gefühl, Rhonan! Sie hören immer dann genau hin, wenn du über dich sprichst. Das Schicksal der Reiche ist für sie nicht von Belang, aber dein eigenes Schicksal scheinen sie eng mit dem Schatten zu verbinden, der auch ihren Sumpf bedroht. Seit ich ihnen von der Eisklinge erzählt habe und du ihnen die blauen Blitze vorgeführt hast, halten sie dich für einen Gesandten der Götter, der die Macht des Blitzgeistes anrufen kann.«
»Oh, schön«, höhnte der Prinz und verscheuchte mit wütendem Händeklatschen kleine Kalla, die auf der Brücke standen und sie seit geraumer Zeit anstarrten. »Warum bewegen sie dann nicht endlich ihre Hintern, wenn ich so wichtig bin?«
Gideon, der im Schneidersitz vor der Schlafhütte saß, lächelte ihn an. »Gib ihnen Zeit! Es ist nun einmal eine sehr, sehr wichtige Entscheidung für sie. Denk daran: Sie haben ihren Sumpf noch nie verlassen. Bisher haben sie unsere Bitte jedoch nicht abgeschlagen.«
»Nein«, brummte sein Begleiter und stieß mit dem Fuß das Bratgestell um. »Bisher haben sie tatsächlich gar nichts getan, außer auf ihrem gepanzerten Arsch zu sitzen. Morgen mach ich mich wieder auf den Weg, um zum Göttertag auf dem Feld der Träume zu sein. Camora wird nämlich pünktlich sein und bestimmt nicht warten wollen, bis sich in diesen Eierschädeln ein Gedanke oder gar ein Entschluss festgesetzt hat. … Jetzt sieh mich bloß nicht so vorwurfsvoll an! Du hast doch gerade noch gefordert, dass ich ehrlich sein soll.«
Gideon wusste darauf nichts mehr zu sagen und ließ den Kopf mit einem tiefen Seufzen in die Hände sinken, und Rhonan wanderte weiter von links nach rechts und wieder zurück und trat wütend gegen alles, was ihm dabei in die Quere kam.
Doch noch vor dem Abend rief man sie zum Rat der Häuptlinge. Wohl an die zwanzig Riesenechsen saßen auf großen Stühlen im Kreis um den eiförmigen Stein und sahen den Menschen entgegen. Um den Stein herum waren in kleinen Vertiefungen jetzt die Schutzsteine der verschiedenen Führer angeordnet.
Rhonan sah sofort, dass endlich kein Loch mehr frei war, und atmete erleichtert durch. Zumindest schienen die Kalla vollzählig zu sein. »Frag sie schon, wie sie sich entschieden haben!«, forderte er ungeduldig.
»Sie wollen sich erst noch mit dir unterhalten.«
»Ich hab hier sowieso schon viel zu viel geredet und will mich nicht mehr unterhalten. Was wollen sie denn jetzt noch wissen? Wie ich mir die Stiefel schnüre?«
Gideon seufzte unglücklich und suchte mit den Augen unwillkürlich den Raum nach Feuerstellen und Brandeisen ab. »Sie wollen wissen, ob du zur Aufnahme in den Verbund der Stammesführer bereit wärst. Es bedürfte dazu einer Mutprobe.«
»Nein, verdammt noch mal, das bin ich nicht, das bin ich sogar überhaupt nicht«, erklärte sein Begleiter zur größten Überraschung des Gelehrten zornig. »Sag ihnen, ich hätte nicht vor, einer der ihren zu werden.«
»Aber Rhonan …«
»Nein, verflucht! Sag es ihnen!«, unterbrach der unwirsch.
»Sie wollen wissen, warum sie dich dann begleiten sollen.«
»Weil der Schatten irgendwann auch den Sumpf erreichen wird. Ihre ganzen Naturgeister sind doch schon zornig. Bei allen Göttern, das habe ich doch schon oft genug erklärt. Ich werde hier noch wahnsinnig.«
Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, atmete tief durch und fuhr etwas ruhiger fort: »Sag ihnen, dass wir nur gemeinsam das Schwarze Heer besiegen können. Sag ihnen …«
»Tritt vor, und sage es mir selbst!«
Gideon fuhr zusammen, und der Prinz sah völlig überrascht in die Runde der Echsenkrieger. »Was ist?«
Ein geflügelter Kalla winkte ihn heran. »Sprich mit mir!«
»Du sprichst unsere Sprache?«, fragte Rhonan verblüfft.
Es klang zwar kehlig, und auch die Betonung war seltsam, aber darüber hinaus war es gut zu verstehen.
»Es gab einmal eine Zeit, da glaubte ich, ihr Menschen wärt nicht unsere Feinde. Also verließ ich vor vielen, vielen Jahren die Sümpfe, um Heiler für meinen todkranken Vater zu holen. Ein Gelehrter, ein Stammesbruder deines Begleiters, hatte lange vor meiner Geburt einige Zeit bei uns gelebt und dabei auch von den Heilkräften der Priesterinnen berichtet. Mein Vater hatte mir davon erzählt, und als er im Sterben lag, erinnerte ich mich daran. Ich war noch jung, so jung, dass meine Flügel nicht mehr als kleine, knöcherne Auswüchse am Rücken waren. Ich flehte meine erwachsenen Artgenossen an, auf der Nebelinsel um Hilfe zu bitten. Alle weigerten sich. Hilfe von Menschen wollten sie nicht. Sie warnten mich vor deren Überheblichkeit und Missachtung uns gegenüber. Ich wollte ihnen nicht glauben und machte mich zu Fuß auf zu dieser Nebelinsel, kam jedoch nie an. Denn ich wurde eingefangen, in Ketten gelegt und durch die Städte geschleift, wo deinesgleichen dafür bezahlte, Steine auf mich werfen zu dürfen. Und glaube mir, viele Kromtaler wechselten den Besitzer. Ohne meine Panzerung hätte ich nicht lange überlebt.«
Er hielt seine klauenartigen Hände vor sich. »Man schnitt mir sogar die Krallen ab. Ich bekam nur Abfälle zu essen und wurde gehalten wie ein wildes Tier, obwohl sie doch erkennen mussten, dass ich noch ein Kind war. Reichte ich ihnen doch nicht einmal bis zur Schulter. Ich habe in dieser furchtbaren Zeit eure Sprache gelernt, und ich habe gelernt, dass ihr bösartig und gefühllos seid. Ich war in friedlicher Absicht gekommen, aber ihr habt mich gedemütigt und gequält. Auch du siehst uns doch nur als Tiere an und willst deshalb keiner von uns werden. Du wärst nie einer von uns geworden, und du hättest auch keine Mutprobe bestehen müssen. Es war nur eine Prüfung, um zu sehen, wie du uns siehst. Du hast versagt. Warum sollten wir dir also helfen? Auch unsere Kinder werfen gern mit Steinen auf Feinde. Warum solltest du ein besseres Schicksal haben als ich?«
Gideon war immer bleicher geworden. Diese unerwartete Wendung konnte nichts Gutes bedeuten.
Er sah beklommen zu seinem Begleiter, der ohne jede sichtbare Regung der Rede zugehört hatte, und jetzt frostig erwiderte: »Eure Kinder werfen doch nicht nur mit Steinen. Mir wurde erzählt, sie essen ausgesprochen gern Menschenfleisch. Verstehst du so etwas vielleicht unter Gastfreundschaft? Erwartest du Mitgefühl oder eine Entschuldigung von mir? Dann lass dir gesagt sein, darauf kannst du warten, bis dir deine Klauen auch noch abfaulen. Aber nun zu deiner Vermutung: Ich wäre nicht hier, wenn ich euch für Tiere hielte. Ich unterhalte mich üblicherweise nicht mit Tieren, und Verträge will ich mit denen schon gar nicht schließen. Und nun zu eurer blöden Prüfung! Ich gebe dir gern eine Begründung für meine Ablehnung, einer von euch zu werden. Ich könnte und wollte nicht in den Sümpfen leben, genauso wenig, wie ihr in unseren Städten leben wolltet. Ich will nicht euer Stammesmitglied werden, ich will nicht einmal euer Freund werden, ich will mit euch zusammen den Schatten besiegen, nicht mehr und nicht weniger. Dann geht ihr wieder in die Sümpfe und wir in unsere Städte.«
»Ist das die Art, mit der du Kampfgenossen gewinnen willst? Du gehst nicht gerade einfühlsam oder freundlich vor.«
Rhonan lachte freudlos auf. »Richtig erkannt! Ich hoffe auf eure Einsichtsfähigkeit und baue deshalb nicht auf Überredungskünste. Ich muss mich nämlich an den Zeitplan unseres Feindes halten. Ich will mit euch zusammen gegen ihn kämpfen und bin nicht auf Brautschau.«
Gideon räusperte sich immer wieder vernehmlich, versuchte dadurch aber vergeblich, die Aufmerksamkeit seines unwirschen Partners zu erhalten. Er konnte gar nicht glauben, dass den ausgerechnet in einer so lebenswichtigen Angelegenheit die Ruhe verließ. War dessen Sorge um Caitlin schon so groß, dass er alles andere darüber vergaß? Er spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. So würden sie kaum Verbündete gewinnen können. Alles, aber auch wirklich alles lief schief.
»Wir sollen mit euch kämpfen? Erwartest du ernsthaft von mir, dass ich mein Leben für Wesen einsetze, die mir so viel Leid angetan haben?«, fragte der Echsenmann auch gerade unterkühlt.
Rhonan ließ seinen Blick umherschweifen. »Ich sehe hier eine Menge Führer, aber du sprichst immer nur von dir und deinen schlechten Erfahrungen. Heißt das, wenn du uns nicht helfen willst, dann wird uns keiner helfen?«
Der nickte bedächtig. »Das heißt es. Unsere Entscheidung muss einstimmig getroffen werden. Ich spreche nicht für die anderen, aber wenn ich nicht in die Schlacht gehen will, wird keiner von uns dich begleiten. Verfügte ich nicht über meine natürliche Panzerung, wäre ich nicht mehr am Leben. Du kannst sicher verstehen, dass ich nicht geneigt bin, dir und den anderen Menschen zu helfen.«
Der Prinz schien zu überlegen, nickte schließlich entschlossen, kniff die Augen leicht zusammen und hielt ihm dann seine rechte Hand hin, mit dem verbrannten und mit Narben bedeckten Handrücken, dem steifen Ringfinger und den vernarbten Verdickungen an allen anderen Fingern.
»Dürfte selbst in deinen Augen seltsam aussehen, oder? Ich habe keine Krallen, die abgeschnitten werden mussten. Ich bin auf Waffen angewiesen. Um keine mehr tragen zu können, hat man mir die Knochen zertrümmert. Wir können auch gern einmal unsere Erfahrungen darüber austauschen, welche Abfälle noch halbwegs genießbar sind und wann man doch besser Hunger einer drohenden Vergiftung vorziehen sollte.«
Ohne jede Hast, aber auch ohne jedes Zögern zog er sein Hemd aus. »Ich habe leider keine Panzerung so wie du. Wenn du darauf bestehst, kann ich dir auch noch die Narben von Ketten an meinen Fußgelenken zeigen.«
»Warum zeigst du mir das? Willst du jetzt Mitgefühl von mir?«, wollte der Kalla wissen, und Gideon bedauerte nicht zum ersten Mal, dass auf den Gesichtern der fremden Krieger keinerlei Regung zu erkennen war.
Allerdings war es totenstill geworden. Sogar das Gemurmel der jungen Kalla, die das Ganze neugierig von den kleinen Nebeninseln beobachteten, war verstummt.
Der Prinz lachte erneut, diesmal hörbar geringschätzig, auf. »Oh, vielen Dank, aber darauf kann ich verzichten. Ich wollte dir lediglich zeigen, dass es ohne Belang ist, was irgendwer dir einmal angetan hat. Ich mag viele Menschen auch nicht, wie du jetzt vielleicht verstehen kannst, aber ich werde trotzdem mit ihnen gegen den Schatten kämpfen, weil es unverzichtbar ist, wenn wir alle eine Zukunft haben wollen. Wir, und damit meine ich jeden Einzelnen von uns und nicht nach Kalla oder Menschen getrennt, wir alle haben oft keine großen Gemeinsamkeiten, wir haben andere Vorstellungen von unserem Leben, andere Wünsche und andere Ziele, aber was wir alle gemeinsam haben: Wir haben einen gemeinsamen Feind. Weder ihr noch wir werden ihn allein besiegen können. Ich will nicht für dich kämpfen, weil ich dich kaum kenne, und du nicht für mich, weil ich dir ebenfalls nichts bedeute. Allein für uns selbst, unsere Frauen und unsere Kinder sollten wir uns zusammentun, ihn gemeinsam besiegen und dann wieder unserer Wege gehen.«
»Du willst keine Freundschaft unter uns?«
»Ich? Nein, ich ganz sicher nicht! Selbst unter den Menschen habe ich nur wenige Freunde. Ich kann sie leicht an einer Hand abzählen. Wahre Freundschaft, so wie ich sie verstehe, entsteht langsam und nur im Kleinen. Freundschaft unter so unterschiedlichen Völkern dürfte schwierig sein. Ein friedliches Nebeneinander erscheint mir viel erstrebenswerter und doch auch ausreichend. Du würdest doch ohnehin später nicht auf ein Schwätzchen in die Stadt kommen wollen, und ich finde eure Sümpfe unerträglich.«
Der Verianer konnte nur den Kopf schütteln. Genauso unergründlich wie die Mienen der Kalla war der Ausdruck seines Begleiters. Sein Hemd in der Hand, stand er reglos vor dem Echsenmann.
»Du verlangst viel, aber du machst keinerlei Versprechungen«, erklärte der gerade.
»Weil ich sie kaum halten könnte. Alles, was ich dir versprechen kann, ist, dass viele von euch nicht zurückkehren werden, wenn ihr uns begleitet.«
»Soll uns das anspornen?«
»Kann es euch abhalten? Dann verschwende ich hier wirklich meine Zeit.«
»Du bist doch der, der die Eisklinge trägt, nicht wahr?«
Rhonan nickte nur knapp.
»Dann bist du der von den Göttern auserkorene Führer der Reiche?«
»Nein, das maße ich mir nicht an. Ich bin nur nach einer Prophezeiung der Führer aller Völker, die sich dem Schatten entgegenstellen. Entscheidet selbst, ob ihr dazugehören wollt! Nur entscheidet euch schnell, denn ich zumindest werde mich morgen auf den Weg machen, um noch am Göttertag das Feld der Träume zu erreichen.«
Der Kalla nickte. »Wir werden uns beraten.«
Rhonan sah ihn eine Weile an, verzog aber auch weiterhin keine Miene. »Würdest du uns begleiten?«
»Vermutlich nicht, aber ich werde in mich gehen. Lasst uns jetzt allein!«
Bevor der Prinz ging, drehte er sich noch einmal um. »War dein Vater tot, als du wiederkamst?«
»Das war er.«
»Auf mich wartet meine schwangere Frau. Ich würde sie gern wiedersehen, und ich würde auch gern mein Kind in Frieden aufwachsen sehen, also entscheide dich schnell.«
»Bist du wach, Hylia? Wir müssen aufstehen, das Wasser steigt wieder.«
»Ich erheb mich erst, wenn es mir bis zum Hals steht. Bis diese eklige, stinkende Brühe ihren Höchststand erreicht hat, stehen wir noch lange genug. Ist doch gleichgültig, ob wir zunächst im Sitzen oder gleich im Stehen nass werden. Wo ist da der Unterschied? In den letzten Tagen habe ich mir sogar immer häufiger überlegt, ob ich nicht einfach liegen bleibe. Warum quäle ich mich eigentlich noch hoch? Muss ich denn unbedingt erst auf dem Scheiterhaufen sterben?«
»Zumindest werden unsere Kleider dort bestimmt endlich einmal trocken.«
Caitlin blinzelte sie mutlos an, und Hylia lachte heiser. »Das ist natürlich eine geradezu unwiderstehliche Verlockung. Du bist heute dran mit Erzählen.«
Während sie in einer natürlichen Felsenkammer in den Klippen der Nebelinsel aneinandergeklammert darauf warteten, dass das Wasser des Südmeeres unendlich langsam anstieg, irgendwann ihre Schultern erreichte, um dann genauso langsam wieder abzufließen, hielten sie sich regelmäßig damit wach, dass sie sich gegenseitig etwas von ihren Erlebnissen berichteten.
Sie waren erschöpft, verfroren, verdreckt und hungrig. Selbst, wenn das Wasser endlich wieder abgeflossen war, war der steinige Untergrund feucht, und da nicht ein einziger Sonnenstrahl ihr Verlies erreichte, war es bitterkalt, genau wie das Wasser, das im Fluss der Gezeiten stieg und fiel.
In unregelmäßigen Abständen, die ihnen immer länger vorkamen, wurde ihnen ein Krug Wasser und ein Kanten Brot heruntergelassen. Da Caitlin schwanger war, bekam sie immer das größere Stück, aber beiden war klar, dass sie unter diesen Bedingungen nicht lange überleben konnten. Da sie irgendwann mit dem Zählen der Gezeitenströme durcheinandergekommen waren, hatten sie nicht einmal mehr die geringste Ahnung davon, wie lange sie eigentlich schon hier waren, aber es kam ihnen vor, als wären sie schon Jahre von der Außenwelt abgeschlossen.
Immer wieder zwangen sie sich dazu, durch ihr kleines Verlies zu wandern, das einen Durchmesser von drei Pferdelängen hatte. Oder sie machten Turnübungen, wie Rhonan sie Gideon beigebracht hatte, damit ihre Körper nicht steif wurden. Aber beiden fiel es immer schwerer, sich nicht einfach in ihr Schicksal zu ergeben.
Caitlin dachte, wenn sie einmal wieder völlig verzweifelt war, nur noch an ihren Mann und ihr Kind und streckte und dehnte sich und lief auf der Stelle.
Und Hylia machte die Übungen eigentlich nur noch mit, um nicht ständig von ihrer Freundin hören zu müssen, dass Rhonan immer sagte, man dürfe nie aufgeben, und dass Rhonan immer sagte, man dürfe sich nicht gehen lassen, und dass Rhonan immer sagte, es gäbe immer einen Ausweg. Sie mochte den Prinzen eigentlich sehr gern, aber ständig daran erinnert zu werden, was der alles Schreckliches überlebt hatte, nur weil er sich offensichtlich an seine Sinnsprüche hielt, zehrte immer mehr an ihren Nerven. Nicht einmal der freundliche Hinweis darauf, dass Rhonan nun einmal ein sehr kräftiger Mann und daher vielleicht etwas widerstandsfähiger wäre als sie, hatte Caitlin von ihren mit Lobgesängen vermischten Ermahnungen abhalten können. Also machte Hylia lieber weiter Dehnübungen und wärmte sich dabei an dem Gedanken, so zumindest nicht völlig steifbeinig den Scheiterhaufen erklimmen zu müssen.
»Hast du wieder mit Canon Verbindung aufnehmen können?«, fragte Caitlin gerade, und Hylia nickte. »In vier, fünf Tagen erreichen sie das Feld der Träume. Canon sagt, so etwas hätte er noch nicht gesehen. Immer mehr schließen sich ihnen an. Sogar Bauern und fahrende Händler. Die Menschen geben den Truppen, die durch ihre Dörfer ziehen, ihr letztes Brot mit, als wenn es ohne Sieg kein morgen mehr gäbe.«
Auf einen fragenden Blick Caitlins hin schüttelte sie traurig den Kopf. »Sie haben immer noch keine Nachricht von Rhonan. In den Sümpfen scheint sich nichts zu regen. Selbst wenn er die Echsen noch zum Kämpfen bewegen könnte, kämen sie vermutlich zu spät. Oh, Kleines, nicht nur uns steht das Wasser bis zum Hals. Der Schwarze Fürst steht kurz vor seinem endgültigen Sieg.«
»Das glaube ich nie im Leben«, widersprach ihre Begleiterin mit großer Bestimmtheit. »Rhonan wird das verhindern. Er wird ihn besiegen.«
Wenn er überhaupt noch lebt, ging es Hylia durch den Kopf. Aber sie schwieg.
Das Wasser war stetig angestiegen, und ächzend zogen sie sich an der kalten, glitschigen Felswand hoch.
Hylia zog ihre bibbernde Freundin an sich. »Mir graut schon vor der nächsten Zeit. Diese Kälte und der fürchterliche Gestank machen mich wahnsinnig. Jetzt wäre es wohl wieder einmal an der Zeit, dass du uns mit einer Geschichte über den unüberbietbaren Heldenmut und die unglaubliche Ruhe deines Gatten aufrichtest. Es gab doch sicherlich noch mehr völlig ausweglose Situationen, die er kühn und unerschrocken gemeistert hat.«
»Ich hatte den Eindruck, du wolltest darüber nichts mehr hören.«
»Aber überhaupt nicht«, protestierte Hylia umgehend mit einem kleinen Lächeln. »Nichts in der Welt lässt meine eigene Lage schließlich so gemütlich erscheinen wie die Schilderung der grauenvollen Dinge, die ihm so widerfahren sind.«
»Ich wünschte so sehr, er wäre jetzt bei mir«, erwiderte Caitlin kleinlaut. »Wenn er mich nur einmal in den Arm nehmen würde und sagen würde: Wir schaffen das schon!, dann hätte ich nicht mehr halb so viel Angst. Weißt du, du bist ja auch lieb, aber deine Arme sind eben nicht stark, und ich spüre allzu deutlich dein Zittern, als dass ich wirklich beruhigt sein könnte.«
»Das ist nur die Kälte. Du glaubst gar nicht, wie kühn ich sein kann, wenn ich nur will«, gab sie zurück, und beide lachten halbherzig.
»Wirst du dich mit Canon verbinden, wenn alles vorbei ist?«
»Du meinst, wenn Camora und sein Schattenheer besiegt sind und wenn Canon die Schlacht lebend überstanden hat und wenn wir dieses Verlies überleben und auf wundersame Weise auch noch vor dem Scheiterhaufen gerettet werden, auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wer uns jemals von der Nebelinsel sollte befreien können? Wenn all das geschieht, woran ich nicht glauben kann, dann werde ich mich stehenden Fußes mit Canon verbinden … und wenn ich ihn zuvor betäuben müsste.«
»Wenn du dich vorher nicht umziehst, fällt er schon vom Gestank von alleine um. Dann hättest du leichtes Spiel.«
»Ja, da ist was dran.«
»Dann werden wir fast so etwas wie Schwestern sein. Ich freue mich schon darauf, Hylia. Ist er so wie Derea?«
Die Priesterin lachte auf. »Nein, überhaupt nicht! Er hat mehr vom General, allerdings nur äußerlich. Er ist groß, fast so groß wie dein Rhonan, blond und hat blaue Augen, aber nicht so dunkle wie Derea und du, sondern mehr so wie das klare Wasser im Sommersee. Er ist ruhig und stets besonnen. Er hat viel Humor, aber nie würde er solchen Unsinn von sich geben wie sein Bruder hin und wieder. Ich denke, er würde sehr gut zu mir passen, und wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich jetzt auch lieber ihn im Arm und nicht dich. Aber so ist das mit den Männern: Kaum braucht man sie, sind sie nicht da.«
Unwillkürlich pressten sie sich enger aneinander und schluchzten unglücklich.
Das trübe Wasser mit Seetang und bräunlichem Schaum schwappte um sie herum, und ihre Beine waren bereits nahezu taub vor Kälte.
Caitlin sagte sich zum hundertsten oder tausendsten Mal, dass Rhonan irgendeine Möglichkeit finden würde, sie zu retten, weil er immer eine Lösung fand, aber sie wusste auch, dass es zumindest noch Tage dauern würde, bis er überhaupt die Zeit dazu hätte, wenn er die Kalla überlebte … und die Schlacht … und die Schattenkrieger … und Camora. Ihr Mut sank ins Bodenlose, und sie schloss die Augen und dachte an ihn, bis sie ihn vor sich sah. Er kniff die Augen leicht zusammen, atmete tief durch und erklärte mit fester Stimme: »Hab keine Angst, Kleines! Wir schaffen das schon.«
Sie schniefte laut, putzte sich entschlossen die Nase im nassen Ärmel und fragte mit Tränen in den Augen: »Hab ich dir eigentlich schon von den Horkas erzählt?«
»Nein! Ist euch da etwas Grässliches widerfahren?«
»Etwas ganz Grässliches!«
»Wunderbar! Ich spüre schon, wie mir wieder wärmer wird. Erzähl!« Hylia zog ihre Freundin enger an sich und schluckte unwillkürlich schwer. Das Wasser war eiskalt, aber Caitlin war unnatürlich heiß.