19. Kapitel
Rhonan und Gideon waren genau wie gestern den ganzen Tag fast ohne Pause geritten und saßen jetzt am kleinen Lagerfeuer mitten im Wald. Käuzchen riefen, und irgendwo röhrte ein Hirsch. Obwohl schon die ersten Sterne strahlten, war die Luft immer noch lau.
Gideon hatte einen Eintopf aus ihren Vorräten gekocht, saß jetzt gemütlich an einen Baum gelehnt und löffelte die schmackhafte Suppe. Sein Begleiter saß ihm gegenüber und starrte seit einiger Zeit gedankenverloren in die Flammen.
»Was ist nur los mit dir? Du bist schon die ganze Zeit so schweigsam, und jetzt isst du nicht einmal mehr etwas?«, fragte der Gelehrte.
Rhonan warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Ich muss zurück. Das hätte mir gleich zu denken geben müssen. Caitlin hätte sonst nie so schnell klein beigegeben. Sie hat etwas vor.«
»Du machst dir unnötig Gedanken. Was sollte sie denn vorhaben?«
»Ich weiß es doch auch nicht.« Der Prinz wirkte jetzt immer aufgeregter und fuhr sich wild mit beiden Händen durchs Gesicht. »Ich bin einfach zu dämlich. Immer und immer wieder falle ich auf sie rein. Sie macht mit mir, was sie will, und ich merke es gar nicht, oder erst, wenn es schon zu spät ist. Sie wollte mich aus dem Weg haben. Genau das wollte sie. Gideon, ich muss zurück.«
Der Verianer stellte seine Schale ab, rutschte etwas näher, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte bedächtig: »Du kannst nicht zurück. Wir müssen zu den Echsenmenschen. Wenn sie jemand dazu bringen kann, an unserer Seite zu kämpfen, dann nur du. Du bist der, der nach der Prophezeiung die Völker einen wird, du hast eine Verantwortung den Reichen gegenüber und kannst jetzt nicht kehrtmachen.«
»Habe ich vielleicht keine Verantwortung Caitlin und unserem Kind gegenüber?«
Seine Stimme war kaum zu hören, sein Blick so voller Trauer und Verzweiflung, dass Gideons Hand die Schulter unwillkürlich fester drückte. »Doch, aber auch dieser Verantwortung wirst du nur gerecht, wenn Camora besiegt wird. Du stehst zwischen ihm und dem Thron. Nur deswegen verfolgt er dich, und deswegen wird er auch nicht aufgeben, bevor einer von euch beiden stirbt. Stell dir vor, du bist es, der stirbt, dann wird dein Kind sein nächster Gegner sein. Willst du deinem Kind ein Leben zumuten, wie du es selbst führen musstest?«
Rhonan sah ihn niedergeschlagen an, schüttelte stumm den Kopf, und Gideon nickte. »Ich weiß, dass die Verantwortung schwer auf deinen Schultern lastet. Ich würde dir gern mehr helfen, aber ich kann dir nur meinen Rat und meine Freundschaft anbieten. Ich kann mir nicht denken, was Caitlin vorhaben sollte, aber was immer es auch sein mag, sie wird es schon meistern.«
Er lächelte sein Gegenüber aufmunternd an. »Gerade du weißt doch am besten, dass unsere kleine Priesterin ihre eigenen und durchaus scharfen Waffen hat. Auf ihre Art ist sie ein genauso gefährlicher Gegner wie du. Ihre magischen Fähigkeiten sind nicht mehr zu unterschätzen, ihr Schwert führt sie recht beachtlich, aber ihre List und Tücke sind ganz sicher am meisten zu fürchten. Sie ist viel zu sehr Ayalas Tochter, um hilflos zu sein. Sie sieht dich schmachtend an und streckt dich im nächsten Augenblick mit einem Blitz nieder. Gerade weil sie schwanger ist, wird sie unberechenbarer und gefährlicher sein als je zuvor. Genau wie du wird sie um euer Glück und die Zukunft eures Kindes kämpfen, und glaub mir, eine Mutter, die um ihr Kind kämpft, ist nicht zu unterschätzen, gleichgültig, wie zierlich sie gebaut ist.«
Beide schwiegen eine Weile, bevor Rhonan leise fragte: »Was kann sie nur vorhaben?«
»Sollte ich es jemals fertigbringen, Caitlins Gedankengänge nachzuvollziehen, wirst du der Erste sein, der es erfährt.«
Gideon schlief sehr schlecht in dieser Nacht, denn immer, wenn er erwachte, sah er seinen Begleiter am Lagerfeuer sitzen und mit leerem Blick in die Glut starren.
Auch am nächsten Tag sprach der Prinz kaum ein Wort, und Gideon konnte nur hoffen, dass sie zumindest auf dem richtigen Weg blieben. Wälder, sanfte Hügel und Täler wechselten sich ab, während sie, so schnell es die Pferde zuließen, den Sümpfen entgegenritten.
Gegen Abend wurde der Himmel vor ihnen vom Schein vieler Lagerfeuer erhellt. Etwas langsamer näherten sie sich und sahen in einer Senke das Lager eines riesigen Heeres vor sich. Zwischen Zelten und Pferden und vielen großen und kleinen Lagerfeuern tummelten sich unendlich viele Krieger.
Rhonan zuckte bei dem Anblick regelrecht zusammen. Er fühlte sich nie wohl unter Menschen, und so viele auf engem Raum hatte er noch nie zuvor gesehen. Unwillkürlich ließ er sein Pferd stillstehen und zog sich die Kapuze über.
Gideon schüttelte leicht den Kopf, lächelte ihn beruhigend an und deutete mit der Hand auf die Banner.
»Siehst du das Wappen? Das ist eine Armee von Königin Morwena, die wohl auf dem Weg zur Zitadelle ist. Du kannst deine Kapuze also wieder abnehmen. Wir sollten in Erwägung ziehen, die Nacht in ihrem Lager zu verbringen.«
»Ich weiß nicht so recht. Lass sie uns lieber umgehen!«
»Rhonan, du kannst nicht ewig vor deinem eigenen Volk davonrennen. Sie warten doch alle auf dich.«
Offensichtlich war das die falsche Aufmunterung gewesen, denn der Prinz verlor alle Farbe und sah jetzt eher gehetzt drein.
Bevor er jedoch Reißaus vor seinen Untergebenen nehmen konnte, erklärte der Gelehrte schnell: »Siehst du da das große Zelt mit dem Banner? Das ist das Zelt der Königin. Ich könnte mir denken, dass auch Prinz Canon hier ist. Vielleicht weiß er ja von Hylia etwas über Caitlin.«
»Das könnte sogar sein. Wir sollten es zumindest versuchen«, erwiderte Rhonan sofort, atmete tief durch, presste die Lippen zusammen und ließ sein Pferd wieder antraben.
Gideon schüttelte erneut lächelnd den Kopf. Er war sich ziemlich sicher, dass sein Begleiter Canon lieber in einem Rudel Wölfe gesucht hätte. Wenn etwas seinem jungen Freund Angst machen konnte, dann waren es Menschenansammlungen, und hier lagerten wohl annähernd dreitausend Mann.
Es waren nur wenige Zelte aufgestellt worden, denn die meisten Krieger schliefen unter freiem Himmel. Überall brannten Feuer, und es herrschte ein lautes und munteres Treiben. Den Besuchern, die ihre Pferde jetzt am Zügel führten, wurde nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Gideon fragte sich zum Zelt des Heerführers durch.
Endlich dort angekommen, versperrten ihnen zwei Gardisten den Weg. »Kein Zutritt! Hier gibt’s nichts für euch. Wenn ihr was essen wollt, geht zum großen Lagerfeuer da hinten«, erklärte einer mit freundlichem Lächeln. »Wenn ihr euch uns anschließen wollt, geht zum Zelt mit den gekreuzten Fahnen davor.«
»Wollen wir beides nicht, wir wollen nur Canon Far’Lass sprechen«, entgegnete Rhonan. »Es ist sehr wichtig.«
»Wichtig für wen?«
»Geh und melde, dass Rhonan da’Kandar den Heerführer zu sprechen wünscht«, forderte Gideon mit strenger Miene.
Die Gardisten musterten die staubigen, schlicht gekleideten Männer, grinsten sich an, und einer von ihnen bat mit immer noch freundlicher Stimme: »Kommt, macht keinen Aufstand! Ihr müsst euch nichts ausdenken, um Essen zu bekommen. Mit der Verpflegung sieht es bei uns gut aus.«
»Hol mir sofort diesen Canon«, zischte Rhonan ungeduldig und legte die Hand auf sein Schwert.
Die Freundlichkeit der Gardisten verschwand sofort aus ihren Gesichtern. Sie waren jetzt offensichtlich bereit, die Eindringlinge zu verscheuchen, stellten sich kampfbereit auf und zückten schon ihre Waffen, als die Königin El’Marans persönlich auf das Zelt zukam. »Was ist denn hier los?«
Die Krieger nahmen sofort Haltung an, und einer erklärte: »Verzeiht, meine Königin, aber diese seltsamen Vögel hier wollen unbedingt zum Heerführer. Behaupten, er wäre ein da’Kandar.«
Dabei zeigte er grinsend auf Rhonan. »Wir haben ihnen …«
Morwena sah den jungen, blonden Mann an, blickte in die grünen, blitzenden Augen, sog überrascht und erfreut zugleich die Luft ein und sank auf ein Knie. »Mein König!«
Die Gardisten starrten noch einmal auf die heruntergekommen wirkenden Besucher und sanken dann ebenfalls auf die Knie. Dabei warfen sie sich verwirrte Blicke zu.
Der Prinz sah zunächst verschreckt auf die gesenkten Köpfe um sich herum und dann hilflos Gideon an, der ziemlich erheitert mit einer Hand nach oben winkte.
Er räusperte sich erst einmal, bevor er hervorbrachte: »Erhebt Euch schon!«
Die Königin strahlte ihn an und seufzte glücklich auf. »Den Göttern sei Dank! Unsere Gebete sind erhört worden«, erklärte sie voller Inbrunst. »Endlich seid Ihr an unserer Seite. Kommt, mein König!«
Bei diesen Worten schob sie ihn schon in Canons Zelt und stellte die Männer gegenseitig vor. Rhonan konnte den Heerführer gerade noch davon abhalten, ebenfalls auf ein Knie zu sinken, indem er ihm hastig die Hand entgegenhielt. Dereas Bruder ergriff sie herzlich, aber mit zuckenden Mundwinkeln.
Der Prinz hätte ihn gern sofort nach Caitlin gefragt, konnte aber in der nächsten Zeit keinen Satz mehr zu Ende sprechen, geschweige denn, ein eigenes Anliegen vorbringen. Ihm wurde fast schwindelig, als die Königin von der bevorstehenden Schlacht, ihren Hoffnungen und Wünschen, ihren Ängsten und schließlich sogar von ihrer familiären Bindung zum da’Kandar-Geschlecht erzählte.
Rhonan, der schlicht keine Ahnung davon hatte, was eine Schlacht nach einer Forderung von einer Schlacht ohne Forderung unterschied, der auch nicht wusste, wie groß eine Truppe, ein Verband oder ein Heer waren, dem auch die Namen der Fürsten, die ihm anscheinend sämtlich voller Leidenschaft dienten, nichts sagten und der seinen Onkel Mathew, mit dem Morwena sich fast verbunden hätte, nicht mehr kennengelernt hatte, der also die ganze Zeit nicht einmal ansatzweise wusste, wovon sie überhaupt sprach, sackte immer mehr in sich zusammen, sah ratlos vor sich hin und hörte schließlich kaum noch zu.
Canon drehte einen Becher in seiner Hand und beobachtete schweigend, aber immer belustigter seinen offenbar überforderten Großkönig, und Gideon hörte der Königin fasziniert zu.
Unvermittelt schwieg Morwena, und die einsetzende Stille wirkte schnell erdrückend.
Rhonan fühlte alle Blicke auf sich ruhen und räusperte sich unbehaglich.
Gideon stieß ihn an. »Die Königin möchte wissen, ob du sie in die große Schlacht führen wirst.«
»Wozu sollte das gut sein? Ich kann das doch gar nicht.«
Auf den fassungslosen Blick der Königin hin ergänzte er einlenkend: »Wir wollen ja schon dabei sein und waren deshalb gerade auf dem Weg in die Sümpfe, aber ich hatte gehofft, dass Prinz Canon Nachricht von Hylia hat. Ich weiß nämlich nicht, wo meine Frau gerade ist.«
Der jetzt schon mehr als vergnügte Canon nutzte Morwenas augenblickliche Sprachlosigkeit. »Ich hatte erst vor kurzem eine Verbindung. Die Frauen sind auf dem Weg nach Mar’Elch. Es geht ihnen allen gut.«
Rhonan atmete erst einmal erleichtert durch. »Seid Ihr sicher?«, fragte er dann immer noch etwas argwöhnisch.
»Sie konnten bisher völlig unbelästigt reisen. Von Mar’Elch aus werden sie mit einer Gruppe Gardisten, die Nachschub bringt, zum Feld der Träume gelangen. Ich hatte ihnen geraten, besser in der Stadt zu bleiben, aber die Frauen sind wild entschlossen, ihre Zauber, zumindest aber ihre Heilerfähigkeiten in die Schlacht mit einzubringen. Dagegen konnte und wollte ich nun wirklich nichts sagen.«
Rhonan schien endlich beruhigt und nickte. Er hatte auch nie damit gerechnet, Caitlin ganz von einem Schlachtfeld fernhalten zu können, auf dem er kämpfte. Dann fiel ihm noch etwas anderes ein. »Und Derea?«, fragte er. »Geht es ihm auch gut?«
»Ich denke mal. Er schweigt zurzeit, aber das tut er hin und wieder, wenn er für eine Verbindung einfach zu erschöpft ist. Diese Hexe setzt ihm wohl ziemlich zu, aber damit wird er ja hoffentlich zurechtkommen. Hylia und Derea haben mir von Eurem Vorhaben erzählt. Glaubt Ihr wirklich, die Kalla werden uns helfen?«
»Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es.«
Canon nickte ernst. »Mein Bruder hat wahrhaft Grauenerregendes von den Schattenkriegern berichtet. Er hält sie für nahezu unbesiegbar.«
»Damit hat er nicht übertrieben«, erwiderte Rhonan sofort. »Wenn das Heer auch nur annähernd so groß ist, wie die Hexe sagte – und davon ist nach Camoras ›Einladung‹ wohl auszugehen –, sehe ich ohne die Echsen überhaupt keine Möglichkeit für einen Sieg der Reiche.«
»Uns bleibt nach Camoras Forderung leider kaum eine Wahl. Wollen wir uns nicht ergeben, müssen wir kämpfen. Die Stimmung unter den Kriegern ist nicht die beste, da bereits wilde Gerüchte über das Schattenheer die Runde machen, aber es hat bisher tatsächlich nicht einen einzigen Versuch gegeben, Fersengeld zu geben. Allen ist klar, dass der Ausgang dieser Schlacht über die Zukunft aller entscheiden wird.«
Morwena hatte sich endlich wieder von ihrem Schrecken erholt und erklärte freudestrahlend: »Ich weiß gar nicht, warum ich erst jetzt daran denke, aber ich werde die Männer sofort antreten lassen. Allein das Wissen darum, dass ihr Großkönig bei ihnen ist, wird ihnen Mut machen. Eure Worte werden sie aufrichten.«
»Oh, bitte nicht!« Rhonan brach der Schweiß aus. »Das … das geht jetzt nicht, wir müssen nämlich weiter, weil wir es eilig haben.«
Sie blickte ihn ungläubig an. »Ihr wollt des Nachts reiten?«
Rhonan räusperte sich nur und rieb seine Oberschenkel, und Gideon kam seinem Freund sofort zu Hilfe. »Königin Morwena, wir würden sehr gern eine Nacht in Eurem Lager verbringen, aber, wenn irgend möglich, in aller Stille. Unser Großkönig war ständig auf der Flucht und ist weder mit Menschenmassen noch mit höfischen Gebräuchen vertraut. Gebt ihm Zeit, sich an diese Dinge zu gewöhnen!«
Sie sah den verschreckten jungen Mann an, und ihre mütterlichen Gefühle erwachten sofort. »Das hättest du mir doch einfach sagen können, mein lieber Junge. Mit mir kannst du immer offen reden. Wir werden dir alles beibringen, was du wissen musst. Wende dich immer vertrauensvoll an mich oder auch an Canon oder Derea. Betrachte uns als deine Familie! Schließlich wäre ich deine Tante geworden, wäre dein Onkel nicht kurz vor der Hochzeit gestorben.«
»Danke«, erwiderte er matt.
Offensichtlich von dem Gedanken beseelt, dass der junge Großkönig nichts anderes im Sinn haben könnte, als sofort in seine neue Aufgabe eingewiesen zu werden, erzählte sie von den Führern der Freien Reiche und wie er am besten mit dem jeweiligen Fürsten zurechtkommen würde.
Rhonan begriff gar nichts und brachte ab dem dritten Reichsfürsten alles durcheinander.
Sie jedoch redete und redete, bis Canon sie mit ruhiger Stimme unterbrach: »Mutter, das hat doch alles Zeit. Ich glaube, unsere Gäste sind müde. Sie haben bereits einen weiten Weg hinter sich und noch einen weiten vor sich.«
Morwena sah ihn zunächst ob der unhöflichen Unterbrechung ungehalten an, lachte dann aber hell auf. »Wenn ich dich nicht hätte. Du hast natürlich wie immer recht, mein Lieber.« Sie erhob sich und verabschiedete sich herzlich, aber umgehend.
Rhonan, der sich wie Canon und Gideon erhoben hatte, als sie aufgestanden war, stand stocksteif da, als sie ihn erst an sich drückte und dann seinen Kopf zu sich herunterzog und ihn auf beide Wangen küsste und ihm eine gute Nacht wünschte.
Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass diesmal nichts von ihm erwartet wurde.
Die Königin reichte Gideon freundlich beide Hände, küsste auch Canon auf beide Wangen und verschwand.
Der wandte sich sofort an den Prinzen. »Wenn Ihr Eure Ruhe wollt, bleibt einfach hier. Es dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben, dass Ihr im Lager seid. Die Gardisten sind verschwiegen, allerdings nur, wenn sie dazu angehalten werden. Da dies nicht geschehen ist, werden sie sich jetzt damit brüsten, den wahren Großkönig gesehen zu haben. Draußen könntet Ihr daher kaum Begeisterung und Neugier unserer Krieger entgehen, aber hier wird Euch niemand belästigen. Ich werde mir ein anderes Quartier suchen.«
»Ich will Euch nicht aus Eurem Zelt vertreiben.«
Gideon klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Hier sind zwei Lager. Bleib du mit Heerführer Far’Lass hier. Ich such mir schon eine Bleibe.«
Auf Rhonans abwehrende Geste hin fuhr er fort: »Ich würde mich wirklich gern noch etwas umsehen. Ich sammle mit großer Leidenschaft Erfahrungen, wie du weißt. Sieh mich jetzt nicht so vorwurfsvoll an! Dereas Bruder wird sich gewiss um dich kümmern.« Mit einem aufmunternden Lächeln schlüpfte er aus dem Zelt.
Rhonan sah ihm unbehaglich hinterher, und Canon klopfte ihm auf die Schulter. »Es ist zwar schon eine Weile her, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie schwer es mir zunächst fiel, die Würde eines Amtes zu verkörpern, das mir viel zu groß erschien. Dabei bin ich nur Prinz von El’Maran. Großkönig möchte ich auch nicht sein müssen. Entspannt Euch, mein König! Derea hat mir so viel von Euch berichtet, dass ich schon glaube, Euch länger zu kennen. Nur vor unserem Zelt müssen wir Führer sein, in unserem Zelt dürfen wir Menschen sein.«
Der Prinz machte einen verlegenen Eindruck und zuckte die Schultern. »Also … ja, also … es würde schon viel zu meiner Entspannung beitragen, wenn Ihr mich nicht König nennen würdet. Das ist … ich bin …« Hilflos brach er ab.
»Setz dich, Schwager«, erwiderte Canon sofort entgegenkommend. »Derea nennt dich nur noch so. Ich werde das mit deinem Einverständnis auch tun.«
Er sah den erleichterten Gesichtsausdruck seines Gastes und fuhr fort: »Ich lass uns jetzt erst einmal etwas zu essen kommen.«
In der nächsten Zeit aßen und tranken sie und unterhielten sich über die bevorstehende Schlacht. Rhonan stellte fest, dass Canon und Derea gar keine äußerlichen Ähnlichkeiten verbanden, dass aber beide die gleiche Offenheit und Ehrlichkeit auszeichnete, die es einem unmöglich machten, sie nicht zu mögen.
Morwenas Sohn vermerkte indes schnell, dass die Unsicherheit seines Gegenübers sich lediglich auf königliche Umgangsformen bezog. Überaus dankbar und erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass er im Gegensatz dazu alles andere anscheinend besonnen und wohldurchdacht in Angriff nahm. Sein kleiner Bruder hatte ihn wohl richtig beurteilt. Der Großkönig schien kühl und sicher, wenn es um die Einschätzung von Kämpfen oder Gegnern ging, und zurückhaltend und zögerlich lediglich, wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen ging.
In bestem Einvernehmen legten sie sich schließlich schlafen.
Gideon genoss unterdessen die allgemeine Aufmerksamkeit. Als Weggefährte des Großkönigs war er gesuchter Mittelpunkt sämtlicher Gesprächsrunden. Er hätte fast gelacht, als ihm erzählt wurde, wie die Gardisten, die ihnen kurz zuvor noch den Zutritt zu Canons Zelt verweigert hatten, im Nachhinein von der unübersehbaren Größe und Stärke des neuen Königs geschwärmt hatten.
Gern bestätigte er immer wieder, dass niemand Rhonan jemals würde besiegen können. Gern pries er dessen Heldentaten, und gern erzählte er von Kahandar, der einzigartigen Eisklinge. Er bedauerte ein wenig, dass die Krieger, die in ihre letzte Schlacht zogen, die unglaubliche Ruhe, die seinen jungen Freund in der Regel umgab, nicht miterleben konnten, aber er bezweifelte ernsthaft, dass Rhonan diese Ruhe auch in ihrer Mitte ausgestrahlt hätte. Er nahm eher an, dass der gehetzt um sich geschaut und verlegen gestottert hätte. Insofern war es wohl zur Stärkung der Moral unter den Kriegern besser, wenn sie nur aus seinem Munde von den kämpferischen Vorzügen ihres Großkönigs hörten. Also gab er sein Bestes, und an den leuchtenden Augen seiner Zuhörer sah er, wie allmählich das Vertrauen darauf wuchs, dass sie an der Seite des wahren Königs da’Kandars doch noch siegen konnten.
Mitternacht war schon vorbei, als der Gelehrte sich endlich erhob, um sich seiner selbst gestellten Aufgabe zu widmen. Auf dem Weg zum Schmied und zum Zeugmeister hörte er die Krieger immer noch voller Begeisterung von der Eisklinge und deren Führer reden und lächelte vor sich hin.
Er spürte eine Hand auf der Schulter, fuhr herum und sah überrascht in das Gesicht der Königin.
»Ich danke Euch, Meister Gideon. Ihr habt unseren Kriegern Hoffnung gegeben. Die allein lässt ihren Mut wachsen, stärkt ihre Muskeln und schärft ihre Waffen. Ich habe Euch eine Weile zugehört, und wenn auch nur einige Berichte über die Heldentaten des Erben wahr sind, werde auch ich mit neuer Hoffnung im Herzen in den Schlaf gehen.«
Er lächelte sie freundlich an. »Ich hatte es nicht nötig, etwas zu erfinden. Unser junger König mag in jeder Burg und vor jedem Heer denkbar verloren wirken, aber auf dem Schlachtfeld dürfte es kaum seinesgleichen geben. Vertraut auf ihn!«
Die Königin nickte verhalten. »Derea schwärmte auch von seinen Fähigkeiten, und so leicht ist mein Sohn nicht zu beeindrucken.«
Ihre Miene wurde nachdenklich. »Aber er ist noch so jung, Meister, so unerfahren. Kann er der gewaltigen Verantwortung überhaupt gerecht werden? Ich bitte Euch, sprecht mir jetzt keinen Mut zu, sondern sagt mir, was Ihr wirklich denkt.«
»Er ist jung an Jahren, aber nicht an Erfahrung«, widersprach Gideon sofort. »Mich plagten zu Beginn unserer gemeinsamen Reise dieselben Bedenken wie Euch jetzt, aber längst weiß ich es besser. Nicht Rhonans unbestreitbare Kampfkraft, sondern seine innere Stärke ist es, die mir Zuversicht gibt. Mit einem offenbar angeborenen Selbstverständnis stellt er sich jeder neuen Herausforderung und meistert sie genauso mutig wie besonnen. Bei Hofe wäre er zu einem selbstbewussteren Prinzen geworden, der jetzt gelassen und würdevoll zu seinen Kriegern sprechen könnte, aber in Minen, dunklen Gassen und Kerkern wurde er zum Erben der Kraft. Ich bin nun wirklich über das Alter hinaus, in dem ich noch leicht zu beeindrucken wäre, aber der Prinz hat sich mein tiefes Vertrauen und meine volle Bewunderung verdient.«
Er lächelte, und seine Züge wurden weich. »Rhonan war zeitlebens ein Einzelgänger und hält sich daher selbst für unfähig, Führer der Reiche zu sein. Er glaubt, er könne keine Reden halten, die begeistern oder mitreißen, dabei findet er oft die richtigen Worte. Er glaubt, er könne kein Führer sein, und bemerkt nicht einmal, wie ihm alle, die ihn kennengelernt haben, bedingungslos folgen. Er ist kein strahlender Held in blinkender Rüstung, aber in seinem Herzen ist er der Großkönig, auf den wir alle gehofft haben. Er ist stark, tapfer und selbstlos und geht immer besonnen und überlegt vor. Glaubt mir, meine Königin, in seinen noch so jungen und doch schon so vernarbten Händen ist das Schicksal der Reiche bestens aufgehoben.«
Sie ergriff zum zweiten Mal an diesem Abend seine Hände und drückte sie warm. »Meister Gideon, Eure Worte haben mir neue Zuversicht gegeben, und Eure unüberhörbare Liebe zu Eurem Begleiter macht auch mir neuen Mut. Ihr seid der Weise der Berge. Wenn unser König Euer Herz gewonnen hat, werde ich ihm auch das meine öffnen. Wenn er Euer Vertrauen hat, werde auch ich auf ihn bauen. Ich danke Euch und wünsche Euch eine gute Nacht. Mögen die Götter Euren Weg ebnen!«
Der Gelehrte verneigte sich dankend, ging zu Canons Zelt und spähte hinein. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass sein junger Freund endlich einmal wieder ruhig und tief schlief. Ob es die Nachricht gewesen war, dass sich Caitlin absprachegemäß auf dem Weg nach Mar’Elch befand, oder die erschöpfende Gegenwart der Königin, die letztlich dazu geführt hatte, dass er eingeschlafen war, war ihm dabei herzlich gleichgültig. Mit einem Lächeln verließ er das Zelt, um endlich den Schmied aufzusuchen.