5. Kapitel
Nebelkönigin Ayala saß in ihrem Frühstückszimmer. Gestickte Seidenteppiche zierten die weißen Wände, die Fenster standen offen, und der Duft von Rosen wehte hinein. Sonnenstrahlen tauchten den Raum in anheimelndes Licht und ließen den rotpolierten Tisch glänzen. Um einen Strauß bunter Blumen herum waren Wein, Wasser, ofenwarmes Brot, Fleisch, Früchte und Käse aufgetragen worden und verbreiteten appetitanregenden Duft. Doch die Herrin der Nebelinsel fand weder an der Umgebung noch an den Speisen Gefallen.
Sie hockte einem Geier gleich auf ihrem Stuhl, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum und bemerkte gerade: »Die Priesterinnen suchen jetzt seit Tagen nach diesem Prinzen. Dabei fing es so gut an. Kaum hatten sie mit ihrer Suche begonnen, da hatten sie ihn auch schon, aber die Verbindung riss sofort wieder ab. Nur Hylia ist sich sicher, dass der Prinz im Norden sein muss. Ihre Eingebung hat sich oft als richtig erwiesen. Wir sollten darauf vertrauen.« Sie schlug so zornig mit der Hand auf den Tisch, dass das Besteck klapperte und eine Feige über den Tisch rollte. »Was bleibt uns schließlich anderes übrig!«
Martha, die im Gegensatz zu ihrer Herrscherin mit Appetit aß und deren Eulenaugen unablässig über die Speisen glitten, als überlege sie pausenlos, was sie als Nächstes essen sollte, schnitt ihren Braten zurecht, spießte zusammen mit einem Stück Fleisch noch einen geschmorten Pilz auf und nickte. »Der Norden ist groß, und blonde Männer sind nicht gerade eine Seltenheit. Ich sollte vielleicht mit Ligurius sprechen. Er könnte uns bestimmt helfen, den verlorenen Sohn aufzuspüren.«
Das Braten-Pilz-Stück verschwand in ihrem Mund, und Messer und Gabel bereiteten den nächsten Happen vor, während Ayala nachdachte: Der Norden erkannte Camoras Ansprüche auf den Thron an. Der Schwarze Fürst hatte Kairan nicht einmal erobern müssen, denn Händler legten sich nicht mit Männern an, hinter denen ein Heer stand. Ob der Großkönig durch Geburt, Wahl oder Mord an die Macht gekommen war, war im Norden bedeutungslos. Dort lebte man nach eigenen Gesetzen, den Gesetzen des Überlebens. Die von der Politik stets vernachlässigten Nordmenschen dienten keinem weltlichen Herrscher, aber sie waren gottesfürchtig, denn nicht Krone oder Thron waren lebenswichtig, sondern ausreichend Zeit und Sonne für die spärliche Ernte zwischen Frost und Frost.
Der mächtige Priesterrat unter Vater Ligurius hatte daher höchstes Ansehen genossen, bis er von Camora aufgelöst worden war. Vater Ligurius war seinerzeit allerdings nur nach außen hin von seinem Amt zurückgetreten. Im Geheimen lebten sowohl der Rat als auch die Inquisition weiter. Ein Ketzerjäger gab seine göttliche Berufung nicht auf den bloßen Befehl eines weltlichen Fürsten hin auf. Der einzige Unterschied war, dass seine Opfer seit dieser Zeit nicht mehr öffentlich gebrandmarkt oder verbrannt wurden. Sie verschwanden einfach. Vater Ligurius, der es verstand, die gläubigen Nordmänner entweder zu überzeugen, notfalls auch einzuschüchtern, war nach wie vor der heimliche Fürst des Nordens, und Martha war seine beste und wohl auch einzige Freundin. Sie waren wie Geschwister aufgewachsen, trafen sich regelmäßig, und bei sehr verstockten Gefangenen holte er sie gern zur Befragung dazu. Marthas Überredungskunst konnte niemand auf Dauer widerstehen.
Die Königin nickte versonnen und stimmte deren Vorschlag zu. »Das ist ein guter Gedanke, aber Vater Ligurius soll umsichtig zu Werke gehen. Lieber verliere ich den Prinzen an Camoras Wölfe, als dass ich Gefahr laufe, das Misstrauen des Schwarzen Fürsten zu schüren. Ich habe sein widerliches Gelächter bei unserem letzten Treffen immer noch in den Ohren.«
»Wenn es uns gelingt, den Weisen zu bekommen, und der die geheimen Schriften entschlüsseln kann, wird unser Gelächter das Letzte sein, was Camora in dieser Welt hört«, nuschelte Martha kauend und ohne hochzusehen, während Messer und Gabel unermüdlich über den Teller fuhren. »Und glaube mir, er wird es lange hören, weil ich dafür sorgen werde, dass er langsam stirbt. Dabei wird er lernen, wie viele Knochen ein Mensch hat, die gebrochen werden können, und wie viele Sehnen ein Mensch hat, die durchtrennt werden können, und ihm wird klarwerden, wie unglaublich viel Haut ein großer Mann hat, die zunächst verbrannt und dann abgezogen werden kann.«
Ayala schüttelte sich kurz, aber heftig. »Manchmal bist du mir unheimlich. Ich …«
Sie brach ab, weil Hylia in diesem Augenblick die nahezu deckenhohe Tür öffnete. Ihr weißes Gewand war zerknittert, Strähnen hatten sich aus ihrem rehbraunen Haarknoten gelöst. Die junge Priesterin schleppte sich dahin, als hätte sie Schwerstarbeit verrichtet, verbeugte sich knapp und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie sah müde und abgekämpft aus und schüttelte den Kopf, als Martha den Weinkrug hob, um ihr einzuschenken. »Danke, außer schlafen will ich gar nichts mehr. Unsere Ablösung ist jetzt auf der Suche, aber ich rechne nicht damit, dass sie etwas erreicht. Ich habe in Erwägung gezogen, dass er tot ist.«
Ayalas Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Hältst du das für wahrscheinlich?«
»Ich kann es nicht sagen. Entweder das, oder er hat bemerkt, dass wir ihn suchen, und sperrt sich nun gegen uns. In diesem Fall können wir ihn nur im Schlaf überraschen.« Müde rieb sie sich die Augen.
»Warum stellt ihr dann die Suche nicht tagsüber ein und spart eure Kräfte?«, fragte Martha. Da sie genau wie Ayala Schwierigkeiten damit hatte, zu Fremden eine Verbindung aufzubauen, wusste sie nur wenig über die Anstrengung, die damit verbunden war.
»Zum Ersten, weil ich nicht weiß, wie seine Schlafgewohnheiten sind, zum Zweiten, weil die Abwehr den Prinzen genauso viel Kraft kostet wie uns die Versuche einer Verbindung«, erklärte Hylia. »Im Gegensatz zu ihm können wir uns gegenseitig ablösen. Da wir ihn einmal erreicht haben, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis er zusammenbricht und wir ihn wiederfinden. Es hat mich nur gewundert, dass er über die Fähigkeit verfügt, uns abzuwehren. Dieses Können setzt schließlich eine gewisse magische Veranlagung voraus.« Sie sah von Martha zu Ayala und zuckte die Achseln. »Immer vorausgesetzt, er lebt noch.«
»Hast du ihn während der Verbindung gesehen?«, wollte Martha wissen.
Hylia schüttelte den Kopf und verbarg ein Gähnen hinter ihrer Hand.
»Und wie kommst du auf den Norden?«
»Weil ich Kälte gespürt und einen bestimmten Geruch wahrgenommen habe: den Duft von Angus-Bäumen. Nur im hohen Norden gibt es diese Bäume.«
Ayala verzog ihr Gesicht zu einem kleinen Lächeln, beugte sich zur Seite und tätschelte Hylias Arm. »Dein Gespür ist unübertrefflich, Kind. Sag mir daher ehrlich und ganz unverbindlich: Denkst du, er lebt noch?«
Die zuckte erst die Achseln, dann nickte sie verhalten. »Mein hochgelobtes Gespür sagt mir zurzeit rein gar nichts, wie ich zugeben muss, aber es wäre schon ein verrückter Zufall, wenn er ausgerechnet kurz nach unserer ersten Verbindung gestorben wäre, oder?«
Die Königin sah kurze Zeit in die warmen, braunen Augen der jungen Priesterin, streichelte noch einmal deren Arm und lächelte erneut, diesmal allerdings verkrampft. »Das wäre es in der Tat. Geh jetzt schlafen!«
Hylia erhob sich umgehend, verneigte sich und schlurfte aus dem Zimmer.
Ihre Gebieterin wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, bevor sie sich ereiferte: »Was geht hier vor? Dieser Knabe überlebt, was er nicht überleben kann, und verfügt ansatzweise über Magie. Der wird mir langsam unheimlich. Ziehe ich noch in Betracht, dass Königin Nemedala, als er geboren wurde, längst über das Alter hinaus war, in dem man sich noch Gedanken über Nachwuchs macht, dann sträuben sich mir tatsächlich die Haare.«
»Was nicht häufig vorkommt«, bemerkte ihre Gesprächspartnerin unbeeindruckt, begutachtete eine Traubenrebe und pickte sich die dicksten Beeren heraus. »Ich werde Priesterinnen damit beauftragen, Ahnenforschung im da’Kandar-Geschlecht zu betreiben. Vielleicht war ja eine uns unbekannte Magierin darin vertreten. Aber magische Veranlagung hin oder her, Ligurius’ Spionen kann er nicht entkommen. Das ist noch keinem gelungen, nicht einmal den Ketzern, die wussten, dass sie gesucht wurden. Wenn der Junge lebt und im Norden ist, dann gehört er bald uns.«
Ayala sah ihre Tischgenossin länger an, lachte plötzlich auf und griff sich auch endlich Brot und Käse. »Da sind wir einer Meinung. Wir haben einen unschätzbaren Vorteil auf unserer Seite. Schließlich kann er nicht einmal ahnen, dass die Ketzerjäger ihm auf den Fersen sind. Der gefährlichste Feind ist immer der, den man nicht kennt. Ich fürchte, die Tage, die der da’Kandar-Erbe in Freiheit verbringen darf, sind gezählt, aber schließlich hat er dort schon fünfzehn Jahre länger verbracht als erwartet. Bei dem, was vor ihm liegt, wird er sich wohl noch häufig wünschen, er wäre seinerzeit nicht entkommen.«
Martha schluckte ihren Bissen hinunter und nickte. »Ja, die Gnade eines schnellen Todes wird allzu oft unterschätzt.« Mit einem Zwinkern schenkte sie Ayala und sich selbst jungen Wein ein.
Sie hatten die Schilfkuppel erst vor wenigen Augenblicken verlassen, doch schon tropfte der erste Schweiß. Marga kauerte auf ihrem Pferd und hoffte immer noch, nur schlecht geträumt zu haben, denn Gideon hatte sich gerade von ihr verabschiedet.
Zwei Tage hatten sie bei den Echsen verbracht, und dem verwundeten Jäger ging es deutlich besser. Aber der Dorfälteste hatte beschlossen, den jüngeren Verianer für den Fall der Fälle dazubehalten. Da die völlige Genesung durchaus länger dauern konnte, Fürst Darius die Siegelerben aber baldmöglichst erwartete, hatte Meister Cato, ohne auch nur ihre Meinung einzuholen, beschlossen, ohne seinen Schüler weiterzureisen. Diese Eigenmächtigkeit ärgerte sie, aber dagegen aufbegehren konnte sie nicht. Schließlich erwartete ihr Vater tatsächlich nur den Weisen und nicht auch noch dessen Schüler, mit dem sie sich so furchtbar gern unterhielt. Selten war ihr ein Mensch innerhalb so kurzer Zeit derart ans Herz gewachsen.
Am Abend zuvor hatte er seine Laute genommen und mit seinem Spiel und seiner Stimme sogar die Echsen verzückt. Als die sich still zu ihnen gehockt und im Takt der Melodie gewiegt hatten, hatte sie gespürt, dass die gepanzerten Wesen mit den ausdruckslosen Gesichtern den Menschen verwandter waren als Tieren.
Verzagt schüttelte sie den Kopf. »Gibt es denn wirklich keine andere Möglichkeit, Gideon? Ein, zwei Tage könnten wir noch warten.«
»Es könnte auch zehn Tage dauern, bis der Krieger wieder laufen kann. Ich kenne mich mit den Körpern der Kalla nicht aus. Aber, wenn die Götter es wollen, werden wir uns wiedersehen. Passt bitte auf meinen Meister auf, und passt auch auf Euch auf!«
Traurig nickte sie, ergriff die Zügel, folgte ihren Führern und sah sich nicht mehr um.
Gideon hingegen sah seinen ehemaligen Begleitern lange hinterher. »Mögest du mehr Freud als Leid finden auf deiner Reise und an deren Ende wohlmeinende Götter!«, murmelte er tonlos. Als die Pferde im hohen Schilf verschwanden, wusste er, dass er seinen Lehrmeister nicht mehr wiedersehen würde. Er fühlte sich wie gelähmt, und alle Gedanken verschwanden in einem Loch, bis ihn nur noch Leere umgab.
Ein Kalla-Krieger stieß ihn unsanft an und gab Laute von sich. Der Verianer schrak zusammen und schubste ihn weg. »Weißt du was, du ungebildeter, gepanzerter Muskelberg? Du kannst mich mal gernhaben! Wenn du glaubst, mir zittern die Knie, dann hast du verdammt recht, aber geistig überlegen bin ich dir trotzdem. Zumindest habe ich eine leise Ahnung davon, warum einige Lebewesen fliegen können. Du dagegen hast bestimmt nicht ein einziges Mal auch nur darüber nachgedacht, warum du Fuß vor Fuß setzen kannst und dich nicht schlängeln musst wie ein Wurm. Ich hinterfrage alles und verfüge über viele Kenntnisse und will dir daher noch etwas verraten.« Er sah in das ausdruckslose Gesicht seines Führers und vollendete: »Dieses anmaßende Geschwätz hilft mir in keiner Weise über meine Furcht hinweg! Dass ich mir blöder vorkomme, als du überhaupt sein kannst, ist das einzige Ergebnis, und das ist … jedenfalls nicht hilfreich.«
Er ließ die Arme sinken, wechselte die Sprache und erklärte seiner Begleitung nunmehr verständlich, dass es ihm nicht geheuer war, wenn er an die Art seiner nächsten Fortbewegung dachte.
Der Krieger, der ihn jetzt auf schmalen Wegen durchs Schilf von der Kuppel wegführte, hatte entgegen Gideons Annahme sofort vollstes Verständnis. Er war dem Verianer mit Sicherheit geistig unterlegen, konnte jedoch so anschaulich schildern, wie er als Kind bei einer Flugbegleitung so übel abgestürzt war, dass er sich anschließend lange Zeit nur unter größten Schmerzen und auf allen vieren hatte fortbewegen können, dass Gideon sich im nächsten Schilfbusch wirklich übergab. Dies war dem Echsenmann nun wieder unangenehm. Er versuchte, seine Ungeschicklichkeit dadurch wiedergutzumachen, dass er dem Verianer immer wieder auf Schultern und Rücken schlug und beteuerte, er kenne viele Kalla, denen gar nichts Schlimmes beim Fliegen widerfahren sei. Richtig schön hätten die es gefunden!
Gideon streckte sich, um zu testen, ob seine Schultern nach den freundschaftlichen Hieben noch in den Gelenken saßen, und kam zu dem Schluss, dass außerhalb des Turms wirklich überall Gefahren lauerten. Vorsichtshalber bewegte er sich etwas weg von seinem ungestümen Führer. Schließlich hatte er schon blaue Flecken von den Dankesbekundungen des genesenen Jägers, war aber nahe dran, sich trotz der Gefahr der Verstümmelung an den neben ihm gehenden Echsenmann zu klammern, als sie eine Lichtung betraten: das Gebiet der Flugechsen.
Die waren kleiner und schmaler als ihre erdverbundenen Artgenossen gebaut, aber im Verhältnis zu Gideon immer noch riesig.
Pthullah, den er gestern beim Dorfältesten schon kennengelernt hatte, kam sofort auf ihn zu. Erneut fiel ihm dabei auf, dass es bei den Echsen, die beim Gehen von der Hüfte an aufwärts völlig starr wirkten, immer so aussah, als bewegten sie sich nicht selbst fort, sondern als glitte der Untergrund unter ihnen hinweg. Es war wohl nicht so gemeint, aber Gideon empfand es als schwere Drohung, als der Kalla seine üblicherweise gefalteten durchscheinenden Flügel ausbreitete.
Auch Pthullah schlug ihm erst einmal aufmunternd auf die Schulter.
Dem schmalen Gelehrten gelang es nur mit Mühe, ein Aufstöhnen zu unterdrücken und verkniffen zu lächeln.
Ihm wurden noch einmal letzte Anweisungen gegeben, was er während des Fluges auf alle Fälle unterlassen sollte: heftige Bewegungen oder Gegensteuern jeder Art. Pthullahs nächste Worte trugen ebenfalls nicht zu seiner Beruhigung bei. Der erklärte nämlich gerade, dass der Verianer sich nicht wundern solle, wenn er hier und da einen Umweg fliegen oder gar absacken würde. Schließlich sei eine Flugechse eigentlich nicht für längere Flüge mit solch schweren Lasten gebaut. Er müsse daher die Luftströme genau beachten, um immer genug Auftrieb zu haben. Man wolle einen Absturz ja nach Möglichkeit vermeiden. Sollte es aber doch dazu kommen, solle Gideon bloß nicht herumzappeln. Die Wahrscheinlichkeit, einen neuen Luftstrom zu erwischen, wäre dadurch deutlich erhöht.
Gideon war einer Ohnmacht so nahe wie nie zuvor. Ein Schwindelgefühl hatte ihn erfasst, das durch den ganzen Körper strömte und seine sowieso schon schwachen Muskeln aufzuweichen drohte. Einzig die Tatsache, dass er in Dalas Auftrag reiste, ließ ihn jetzt nicht umkehren. Er hatte trotz aller Kriegswirren bisher Ruhe, Behaglichkeit und seine Studien genossen, aber nun hatte er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Und nicht angemessener Stolz war sein vorherrschendes Gefühl, sondern schnöde Angst. Vielleicht sollte er doch lieber ein Pferd zur Fortbewegung benutzen, aber ohne jede Führung würde er bald ziellos umherirren. Natürlich wusste er theoretisch, wie man sich in der Wildnis orientierte, er hatte es nur noch nie getan.
Flügel, durch die er hindurchsehen konnte, fächelten ihm unbeabsichtigt Luft zu und ließen ihn frösteln. Solche zerreißbar wirkenden Gebilde sollten ihn durch die Lüfte tragen? Er nickte entschlossen, atmete tief durch, wiederholte diesen Vorgang noch dreimal und ging dann mit butterweichen Knien und schweißnassen Händen auf Pthullah zu. Der ließ sich einen Gurt aus der Haut von Riesenschildkröten umlegen, der extra für Gideon angefertigt worden war. Zwei Kalla hoben den Gelehrten in Fußschlaufen, die an Pthullas Oberschenkeln befestigt waren. Von hier aus konnte Gideon seine Hände in Schlingen auf den Schultern des Echsenmannes stecken. Im Flug würde er so mit gleich verteiltem Gewicht zwischen Pthullas Flügeln liegen.
Ptho, ein weiterer Echsenmann, sollte sie zur Sicherheit begleiten und führte nebenher Gideons Gepäck mit sich. Die ledernen Gesichter der Echsen waren eigentlich von Natur aus völlig ausdruckslos, aber Gideon hätte schwören können, ein Grinsen auf ihren Gesichtern zu sehen.
Pthullah und Pthoh schlugen mit den Flügeln und erhoben sich schließlich aus dem Stand in die Luft.
Der Verianer klammerte sich verzweifelt fest und schloss die Augen. Sein Magen hob und senkte sich. Sein Herz pochte wild und beruhigte sich wieder. Seine Muskeln verkrampften und entspannten sich. Er hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war, bis er wagte, sich aufzusetzen und die Augen zu öffnen.
Weit unter ihnen lag das Sumpfgebiet, über ihnen türmten sich weiße Wolken und schienen zum Greifen nah. Bis auf das Geräusch des Flügelschlags war es still. Gideon glaubte, die Stille fast hören zu können. Seine Angst war von dem einen auf den anderen Augenblick wie weggeblasen und wich einem Gefühl unendlicher Freiheit und unendlichen Friedens. Die Götter, die sich den Himmel als Wohnraum erkoren hatten, hätten nicht besser wählen können. Schwerelos glitten sie durch die Lüfte. Gideon spürte weder das Gewicht seines Körpers noch die Last seiner Sorgen.
Pthullah raunte ihm etwas zu, und er antwortete wahrheitsgemäß: »Du hast recht: Ich beneide dich maßlos. Ich würde vieles dafür geben, so leben zu können wie du. Was bedeutet all das Wissen schon im Gegensatz zu dem Gefühl, eins zu sein mit der Unendlichkeit?«
Gleichzeitig im südlichen Grenzgebiet Latohors
Die Köchin, die ein mehr als großzügiges Handgeld von Hauptmann Cornelius für eine gute Bewirtung erhalten hatte, hatte es gut gemeint und geschmorte Hasenstückchen zu getrockneten Feigen und gerösteten Apfelspalten als Vorspeise serviert. Dienerin Ruth und Cornelius löffelten begeistert. Nur Caitlin ließ ihren Teller unberührt.
»So kostet doch zumindest, Prinzessin! Es schmeckt hervorragend«, bat Cornelius beschwörend, erntete aber nur ein Kopfschütteln und seufzte. »Morgen werden wir Latohor erreichen. Ich kann Euch versichern, dass es Euch dann nicht mehr an Bequemlichkeit mangeln wird. Wir sind im Grenzgebiet, hier leben nur Bauern. Euer Zimmer ist größer als die davor und angenehm kühl, und Ihr hattet Euer tägliches Bad. Da zurzeit nur wenige Kaufleute unterwegs sind, müssen wir uns die Gaststube nicht einmal mit einer anderen Reisegesellschaft teilen, und die Bewirtung ist vorzüglich. Warum müsst Ihr nur schon wieder so missgelaunt sein?«
Caitlin saß kerzengerade ganz vorn auf ihrem Stuhl, hatte ihre Hände im Schoß gefaltet und trug einen angewiderten Gesichtsausdruck zur Schau. »Ich weiß wirklich nicht, wie Ihr meinen könnt, ich könnte hier auch nur einen Bissen hinunterbringen. Reinlichkeit scheint hier nicht gefragt zu sein. Ich bin empfindlich und werde nichts essen!«
Der Hauptmann sah sich verständnislos um. Die wenigen Holztische waren weiß vom Schrubben, die Binsen frisch gestreut, sogar Wildblumen standen auf ihrem Tisch.
»Ich weiß nicht, was Ihr meint. Wie rein wollt Ihr es denn? Ich sehe weder Staub noch Dreck.«
»Ich wage es kaum zu sagen«, begann die Prinzessin und schluckte, bevor sie fortfuhr: »Mein Badewasser durfte nicht ausgekippt werden. Es sollte noch einmal benutzt werden – von irgendeinem anderen. Ich wollte es nicht glauben, aber es war ihnen tatsächlich ernst damit.« Sie sah ihn gequält an. »Das ist so … so eklig. Seid Ihr jetzt in der Lage, mich zu verstehen? Ich mag gar nicht daran denken, wie es hier in der Küche zugeht.«
Cornelius litt offensichtlich unter Unverständnis, hatte stattdessen Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. »Ich kann Euch versichern, das Wasser wurde von Euch zuerst benutzt. Hermes hat das Füllen des Zubers überwacht. Es ist nur so, dass Wasser hier außerhalb der Regenzeit knapp und daher wertvoll ist. Und wie bitte soll es in der Küche schon zugehen? Seid versichert, dass der Braten, den ich bestellt habe, noch unbenutzt ist. Ich würde jede Bissspur sofort erkennen. Das gilt auch fürs Brot. Der Wein ist aus unseren eigenen Vorräten. Er wird in der Küche unter Hermes’ Augen vom Fass in Krüge gefüllt. Ihr macht Euch völlig unnötig Sorgen.«
Er wagte einen Versuch zu scherzen: »Wenn sie uns einen Brei bringen, lasse ich ihn vorsichtshalber zurückgehen.«
Zumindest Ruth kicherte, wenn auch nur unterdrückt.
Caitlin indes riss die Augen auf und keuchte: »Das ist entsetzlich! Bei Haidar, was für eine schreckliche Welt! Warum soll ausgerechnet ich etwas retten, was so wenig rettenswert ist? Ich bin ein Schöngeist, ich liebe die Künste. Ich tauge nicht für die Wildnis.«
Sie schien mit den Tränen zu kämpfen, und ihre Dienerin mahnte sofort. »Tränen sind nicht gut für deine Haut, Herzchen! Nicht weinen! Du musst jetzt ein bisschen die Zähne zusammenbeißen, auch wenn es schwerfällt. Denk immer daran, du wirst vielleicht einmal Großkönigin sein. Dann kannst du sagen, dass du viel erlebt hast. Das wird den Hofstaat beeindrucken: Die schöne Königin kennt sogar die Wildnis!«
Caitlin legte den Kopf leicht schief und schien das zu überdenken, doch Cornelius kam nicht umhin, unwirsch zu erklären: »Ich möchte niemandem zu nahe treten, aber zukünftige Untertanen könnten es Euch durchaus übelnehmen, wenn Ihr ihre mit viel Liebe und Mühe erbauten und sorgsam gepflegten Wohnstätten als Wildnis bezeichnet.«
Ruth sah den Hauptmann ungehalten an, dann wurde ihr Blick wieder weich und wechselte zu ihrem Schützling. »Stell dir vor, Caitlin, was du später alles tun kannst, um das Leben dieser bedauernswerten Leute zu verbessern, nur weil du weißt, wo sie der Schuh drückt. Sie werden dir zu Füßen liegen.«
Während die Damen sich jetzt mal lachend, mal schaudernd über die Unzulänglichkeiten der einfachen Menschen unterhielten, machte Cornelius sich seine Gedanken. Er wusste, dass die Nebelprinzessin zusammen mit dem Weisen und dem noch unbekannten Prinzen das Quellentor verschließen sollte. Von einer Heirat war in der Prophezeiung seines Wissens nach nicht die Rede gewesen. Er wagte auch, ernsthaft zu bezweifeln, dass ein Mann bei klarem Verstand erwägen könnte, ausgerechnet Caitlin zu seiner Gattin zu machen. Allerdings war mittlerweile seine größte Sorge, wie es überhaupt jemandem gelingen sollte, mit dieser jungen Dame ein so schwieriges und gefährliches Unterfangen durchzustehen. Camora würde nichts unversucht lassen, um den Erfolg zu verhindern, und die Schwarze Quelle lag mitten im Feindesland. Noch nie hatte es wohl einen Orakelspruch gegeben, dessen Erfüllung aussichtsloser erschienen war.
In aller Frühe waren sie am nächsten Tag wieder unterwegs. Noch vor Mittag würden sie das Fürstentum Latohor erreichen, dann mussten sie nur noch eine einzige Nacht überstehen. Nach den Erfahrungen mit der Prinzessin sehnte Hauptmann Cornelius sich geradezu danach, wieder in eine Schlacht geschickt zu werden. Inmitten seiner Truppe musste er nicht dauernd überlegen, was und wie er etwas sagte, und Nörgler konnte er umgehend bestrafen lassen. Sein Leben würde wieder leicht und überschaubar werden. Guter Dinge ritt er seinem Ziel entgegen.
Es geschah in den dichtbewaldeten Hügeln des Grenzgebiets.
Hermes, der wie immer ein Stück vorausgeritten war, kam zurück und rief atemlos: »Berittene! Mindestens zwanzig!«
Es war unmöglich, auf dem engen Weg den Wagen zu wenden. Cornelius sprang vom Pferd und riss den Schlag auf. »Rasch! Steigt aus! Wir werden vielleicht angegriffen. Versteckt Euch zwischen den Bäumen!«
Caitlin und ihre Dienerin stellten tatsächlich einmal keine Fragen, sondern gaben nur entsetzte Laute von sich, hüpften aus der Kutsche, rafften ihre Röcke und stürzten, so schnell sie konnten, zwischen die Bäume.
»Manu, Loman, begleitet sie!«, befahl Cornelius.
Die setzten den Damen zu Fuß nach. Reiten kam wegen der Büsche und Farnkräuter nicht in Betracht.
»Weiter! Wir sind Kaufleute. Kein Widerstand also, wenn sie uns berauben wollen. Haltet die Augen offen und die Waffen bereit«, raunte der Hauptmann und ritt voran.
»Wir werden eingekreist«, flüsterte Hermes ihm wenig später zu. »Links und rechts zwischen den Bäumen bewegt sich was.«
Cornelius nickte und befahl mit gedämpfter Stimme: »Sollte es zum Kampf kommen, versucht, in den Wald zu gelangen. Auf dem Weg geben wir zu gute Ziele für Schützen ab.«
Nur wenig später surrte ein Pfeil heran und blieb kurz vor ihnen im Boden stecken.
»Halt, nicht weiter!«
Die Krieger Latohors zügelten ihre Pferde und sahen den Reitern entgegen, die in graue Staubmäntel gehüllt waren. Keine Hordenkrieger, aber zehn an der Zahl … die zwischen den Bäumen nicht mitgerechnet.
»Lasst Eure Waffen stecken! Wir sind Händler auf dem Weg nach Latohor. Hauptsächlich Wein, Leder und Gewürze führen wir mit uns. Wenn ihr Wegzoll wollt, werden wir ihn zahlen«, bot Hauptmann Cornelius an.
Der Anführer der Reiter ignorierte ihn völlig, gab seinen Männern ein Zeichen, und drei von ihnen stiegen ab und gingen wortlos zum Wagen. Sie öffneten den Kutschenschlag, spähten hinein und schüttelten den Kopf.
»Wo sind die Frauen?«, fragte ihr Führer, und dem Hauptmann wurde klar, dass sie es nicht mit Wegelagerern zu tun hatten. »Welche Frauen?«, fragte er und strich seinen Umhang zur Seite.
Der Söldner gab erneut ein Zeichen. Pfeile surrten aus den Bäumen, aber die Krieger sprangen bereits aus den Sätteln und warfen sich rechts und links ins Unterholz.
»Hinterher!«, hörte Cornelius den Söldnerführer brüllen. »Lasst keinen entkommen, und findet die Frauen!« Schon schlugen Schwerter aufeinander … Keuchen … ein Aufstöhnen … dann ein kehliger Schrei.
Der Hauptmann schluckte: Raina, der Jüngste, hatte geschrien, und so, wie es geklungen hatte, würde er nie wieder schreien. Er hörte Hermes brüllen und erneutes Waffenklirren. Rechts neben ihm brachen drei Söldner durch das Buschwerk. Cornelius hatte einen, der über eine Wurzel stolperte, schon erschlagen, bevor der sein Schwert auch nur erheben konnte. Schon wehrte der Hauptmann den Hieb des nächsten ab. Der dritte Angreifer schlug jetzt ebenfalls zu und schlitzte Cornelius den halben Unterarm auf. Der konzentrierte sich auf den Kampf, spürte keinen Schmerz, setzte zurück, parierte einen weiteren Schlag und griff wieder an. Der bedrängte Söldner taumelte zurück und blieb mit dem Mantel im Buschwerk hängen. Der Hauptmann setzte nach und stieß seine Waffe in den Leib des Angreifers. Rechts neben sich sah er eine Klinge aufblitzen. Er duckte sich, wirbelte herum und wandte sich gerade dem letzten Feind zu, als er hinter sich einen Ast knacken hörte. Es blieb ihm keine Zeit, sich umzudrehen. Eine Axt traf ihn mit ungeheurer Wucht in den Rücken. Er hörte mehr, als dass er spürte, wie sein Rückgrat brach, und kippte nach vorn. Die Welt um ihn herum versank in einem roten Nebel. Die Söldner kümmerten sich nicht mehr um ihn, stiegen achtlos über ihn hinweg. Cornelius fühlte noch immer keinen Schmerz, ihm war nur kalt, unendlich kalt. Er hörte Hermes’ Todesschrei und von weit her den Schrei einer Frau.
Prinzessin Caitlin hörte Ruth ebenfalls. Mit rasendem Herzen hastete sie weiter, wagte nicht, sich umzusehen. Kampfgeräusche und schmerzerfüllte Schreie folgten ihr, schienen immer näher zu kommen. Sie stolperte, fiel auf die Knie, schrie auf und rappelte sich eiligst wieder hoch. Haare und Kleid blieben wieder und wieder im Buschwerk hängen, und ihr Füße stießen gegen Wurzeln oder Steine. Deutlich hörte sie hinter sich Äste knacken. Keuchend rannte sie weiter. Ein Speer zischte an ihr vorbei und blieb in einem Baum stecken. Sie schrie vor Schreck auf und stieß kurzatmige und unzusammenhängende Gebete aus.
Erneut blieb ihr Kleid im Gestrüpp hängen, und sie strauchelte und stürzte. Ein Pfeil surrte über sie hinweg. Blind vor Tränen kämpfte sie sich hoch, riss ihr Kleid aus den Dornen und hastete weiter. Ohne auf die Richtung zu achten, hetzte sie auf eine kleine Lichtung. Statt weiter Deckung zu suchen, empfand sie es nur als Erleichterung, dass endlich keine Zweige mehr ihre Flucht behindern konnten. Dicht hinter sich hörte sie einen Mann »Ich hab sie!« brüllen, kreischte auf, spürte einen Schlag und verlor den Boden unter den Füßen.