26. Kapitel




Der nächste Tag begann mit einem ausgedehnten Frühstück, das recht schweigsam verlief. Gideon dachte darüber nach, wie seltsam hier alles war: wie warm inmitten von Eis, wie riesig inmitten eines Berges und wie üppig und nahrhaft Speisen und Getränke, weitab von jeder Stadt!

Rhonan fragte sich unterdessen, ob seine Ahnfrau ernsthaft davon ausging, er bräuchte Unterricht im Umgang mit einem Schwert, und Caitlin dachte an nichts und fragte sich nichts. Sie hatte einen schweren Kopf.

Während sie beschloss, sich wieder ins Bett zu legen, ließen sich die Männer zu ihren Ahnfrauen begleiten.


Gideon fühlte sich sofort heimisch in einem Raum, der angefüllt war mit Pergamenten und Schriftrollen. Sternkarten zierten die Wände. Ein unberührtes Frühstückstablett stand auf einem Tisch, und Dala stand mit wirrem Zopf über ein Papier gebeugt und maß irgendetwas aus.

Er hüstelte und wünschte einen guten Morgen, und sie winkte ihn heran.

Ihre Hände waren schwarz. Auch ihr Rock wies schwarze Flecken auf. Beim Näherkommen sah er, dass es eine Landkarte war, mit der sie sich beschäftigte.

»Ich korrigiere Grenzlinien«, erklärte sie. »Ich habe mir vorgenommen, die genaueste Karte der Reiche zu fertigen, die es gibt. Die meisten Kartenzeichner geben sich kaum Mühe. Man kann schon froh sein, wenn zumindest die Himmelsrichtungen halbwegs stimmen. Die Größenverhältnisse stimmen nie. Ich studiere Aufzeichnungen darüber, wie lange Reiter oder Botenvögel von einem Ort zum nächsten benötigen. Gerade die Berichte über die Vögel sind hilfreich. Die trödeln zumindest nicht wie manche Menschen. Leider fehlen immer Angaben darüber, welche Windverhältnisse geherrscht haben. Seit einer Ewigkeit sitze ich nun schon an der Karte, und trotzdem muss ich Grenzen immer wieder neu ziehen.«

Gideon beugte sich interessiert über die Karte. »Gebirge, Flüsse … das ist El’Maran, ein wahrhaft großes Reich im Vergleich zu anderen. Wie klein Latohor ist und wie gewaltig unser Kimmgebirge! Und hier, dieses leere Gebiet mit dem Punkt in der Mitte muss das Reich der Mitte mit der Zitadelle der Träume sein. Warum sind einige Flächen etwas dunkler?«

»Das sind Hügel. Du hast die Zitadelle niemals gesehen, nicht wahr? Sie liegt in einer gewaltigen Senke. Damals, als der erste König von da’Kandar sie bewohnte, durfte das Reich der Mitte nur von Pilgern betreten werden: zu Fuß und ohne Waffen! Vier Tagesmärsche dauerte es von jedem Grenzabschnitt an.«

Sie sah ihren Erben an. »Ich nehme an, dieses Gesetz wurde irgendwann geändert.«

Gideon schüttelte den Kopf. »Nein! Geändert hat sich nur die Einstellung der Menschen zu Gesetzen. Die Zitadelle ist das Heiligtum der Reiche, aber seit da’Kandar an Camora gefallen ist, gibt es im Reich der Mitte keine Wächter mehr, die für die Einhaltung des Gesetzes sorgen. Seit die Prophezeiung dort gefunden wurde, ist sie allerdings mehr Pilgerstätte als je zuvor. Zumindest jeder Seher, der auf sich hält, übernachtet einmal dort, in der Hoffnung auf wegweisende Träume.«

Dala nickte und lächelte. »Wie geschickt du mich an unsere Aufgabe erinnert hast?!«

Als er abwehrend die Hand hob, lachte sie auf. »Ich habe dich nur geneckt. Komm! Wir werden uns nun mit der Alten Schrift beschäftigen. Sie ist schwierig, weil sie sich aus Symbolen zusammensetzt, die mal für einen Laut und mal für ein ganzes Wort stehen. Ein ganzes Wort ist manchmal aber nur ein Laut in einem anderen Wort. Erschwerend kommt hinzu, dass viele der alten Wörter seit langem nicht mehr gebräuchlich sind. Obwohl es einst die Muttersprache der Verianer war, wird sie dir vorkommen wie eine Fremdsprache.«

Sie zog ein Pergament aus einem Stapel, setzte sich an den Tisch und zog einen Stuhl neben sich. »Ans Werk, Gideon! Übersetzen wir gemeinsam diesen Text, der den Anbau von Hafer beschreibt.«

»Beschreibt er den Ackerbau im Eis?«

»Natürlich nicht!« Dala sah ihn erst verdutzt an, dann lächelte sie verstehend. »Du bist Gelehrter und fragst dich natürlich, wie wir zu gebratenen Tauben und Wein kommen. Ich hatte bereits gesagt: Dies ist ein magischer Ort. Ein kühner Bergsteiger, der die Höhle des Göttergipfels betreten würde, würde nur eine dunkle Höhle vorfinden. Hier ist eine Zwischenwelt, wie ich sie gern nenne. Was Myria einst auf der Nebelinsel erschaffen hat, gelang ihr auch hier. Lass dich, wenn du Lust hast, von den Kellings in unsere ›Gärten‹ führen!«

Sie wartete Gideons Nicken ab, strich das Pergament glatt und erklärte: »Wohlan! Frisch ans Werk, mein Schüler!«


Rhonan wurde in einen Raum geführt, der eigentlich nur einem Krieger gehören konnte. Keine bestickten Kissen, sondern Wolfsfelle bedeckten Bänke und Stühle. Eine blankpolierte Rüstung, deren Brustharnisch ein geflügeltes Schwert zierte, stand in einer Ecke. Ein blauer Schild, der ebenfalls das Wappen da’Kandars zeigte, lehnte daran. Schwerter, Äxte, Lanzen und was es sonst noch an Waffen gab schmückten die Eiswände.

Er griff ein kurzes Schwert mit einer gebogenen Klinge und schwang es hin und her.

»Gewöhnungsbedürftig, nicht wahr?«, kam es von Palema, die plötzlich vor ihm stand. »Ich habe sie nach einem Muster selbst geschmiedet. Es war verschwendete Zeit. Die Krümmung eignet sich nur für kurze Klingen. Einem Langschwert sind sie nicht gewachsen.«

»Wohl kaum«, stimmte Rhonan zu. »Dieses ›Paff, da bin ich‹ … bedeutet das, dass Ihr nur auf ungewöhnliche Art eintretet, oder bedeutet das, dass ich nie sicher sein kann, wer noch im Raum ist?«

Palema lachte. »Grundsätzlich beides! Aber du musst keine Angst haben, wir sind meist diskret.«

»Aber nicht immer!?«

Erneut ließ sie ihre strahlend weißen Zähne sehen. »Wie ich sagte: meist!«

Sie schritt zur Rüstung und strich über das Metall. »Die erste Rüstung, die das Wappen da’Kandars trug. Ist sie nicht großartig? Würdest du dich gern einmal selbst darin sehen?«

»Ich halte nicht viel von Rüstungen. Sie lassen zu wenig Bewegung zu.«

»Ja«, stimmte sie zu. »Das hab ich auch oft gedacht. Sie erschöpfen einen unweigerlich irgendwann.«

Sie öffnete eine Truhe, zog ein Kettenhemd heraus und hielt es ihm hin. »Nimm es in die Hand! Der Sage nach wurde es von Feen gesponnen, um einen Prinzen zu schützen, der ihre Königin retten sollte. Der Händler hat das sicher nur erzählt, um den Preis hochzutreiben, aber ein feineres und leichteres Kettenhemd habe ich in all meinen Jahren nicht mehr gefunden.«

Rhonan wog es in der Hand und nickte beeindruckt. »Leichter als eine Lederrüstung!«

»Ja! Für dich leider zu klein. Aber genug davon. Lass uns zu wichtigeren Dingen kommen! Vor uns liegt eine Menge Arbeit. Du musst den Weg zur Quelle ebnen, damit sie wieder verschlossen werden kann, und du musst deinen rechtmäßigen Thron erobern. Ich werde dich so vorbereiten, dass dir beides gelingen kann.«

»Ihr wollt mir nicht ernsthaft Fechtunterricht geben?!«

»Nein! Obwohl ich dir sicher einiges beibringen könnte, halte ich dein Talent diesbezüglich für ausreichend. Ich werde dich lehren, deine Magie zu bündeln. Ohne sie wirst du nicht in der Lage sein, das Schwert der Alten Könige zu führen.«

Er sah unwillkürlich zu den Waffen, und sie lachte auf.

»Kahandar ist kein Schwert, das man an die Wand hängt. Es schläft. Du wirst es wecken und erobern müssen, und dazu benötigst du Magie.«

Rhonan legte das Kettenhemd zurück in die Truhe, verdrehte die Augen, sobald er ihr dabei den Rücken kehrte, und schlug vor: »Dann solltet Ihr besser Caitlin erklären, wie man ein schlafendes Schwert weckt. Ich verfüge leider nicht über Magie.«

»Ach nein? Wie gelingt es dir denn, die Nebelfrauen abzuwehren? Und wie gelingt es mir, dich hin und wieder zu erreichen?«

Sie bemerkte, wie seine Miene nachdenklich wurde, und nahm auf einer Bank Platz. »Setz dich! Ich muss dir einiges erklären.«

Sie wartete ab, bis auch er saß, und begann: »Die Schicksalsgöttin Haidar beschenkte unsere Familie einst mit Siegeln, die neben den Göttergaben Stärke, Weisheit und Magie Unsterblichkeit verliehen. Die göttliche Magie ist so stark, dass auch Dala und ich darüber verfügen. Längst nicht in dem Maße wie Myria, aber allein diese Magie ist es, die uns am Leben erhält und es uns ermöglicht, unsere ursprüngliche Gestalt beizubehalten. In unseren Nachfahren lebten zwar unsere Gaben weitgehend fort, doch die Magie ging schnell verloren, soweit sie nicht auf der Nebelinsel praktiziert wurde. Caitlin sollte daher über Magie verfügen, Gideon nicht mehr.«

Sie schwieg und sah ihn herausfordernd an.

»Und wieso sollte ich dann noch Magie beherrschen?«, fragte er und räusperte sich, da seine Stimme belegt geklungen hatte.

»Liegt die Antwort nicht auf der Hand? Hast du dich nie gefragt, warum du als einziges Familienmitglied blond bist? Hast du dich nie darüber gewundert, dass deine Augen nicht braun sind wie ihre, sondern grün … so grün wie meine?«

Er starrte sie an und schluckte. »Das ergibt keinen Sinn. Wie …?« Die Weigerung seiner Mutter, ihn auch nur zu berühren, die familiäre Missachtung und auch die verlegenen Erklärungsversuche seines Vaters schwirrten in seinem Kopf. »Das ist unmöglich. Ich war unerwünscht, aber ich war doch ein Kind meiner Eltern.«

Palema spielte mit einem kleinen Dolch, den sie im Gürtel getragen hatte. Ließ ihn zwischen den Fingern kreisen, während sie ihn beobachtete.

»Selbstverständlich! Jedes Kind ist Kind seiner Eltern. Es fragt sich nur, wer die Eltern sind. Ich muss etwas ausholen, damit du verstehst. Als die Siegel an der Quelle brüchig wurden, wussten wir, dass es an der Zeit war, unsere Erben zu uns zu rufen. Dala hatte Glück. Gideon war gelehrt und tapfer genug, die Prüfungen zu bestehen. Myria war ohne Sorge, denn Ayala ist eine große Magierin. Wie hätten wir ahnen können, dass sie mit dieser bedeutsamen Aufgabe einmal eine Tochter betraut. Doch zumindest bestand und besteht die Hoffnung, dass Myria dieses hohlköpfige Mädchen unterweisen kann. Wer uns Sorgen machte, waren ausgerechnet meine Nachfahren. Schwach waren sie geworden. Sie führten keine Kriege mehr, die den Körper stählen, sie schlossen Verträge und setzten Fett an. Dein Vater war ein lausiger Krieger und seine Nachkommen erst recht. Nichts außer Reden schwingen konnten sie, diese blutleeren Gesellen. Doch wir benötigten einen Krieger, der es mit Dämonen aufnehmen konnte. Ahnend, dass die nächste Generation noch erbärmlicher ausfallen würde, mussten wir eingreifen. Es ist uns möglich, für eine kurze Zeit Besitz vom Körper eines Menschen zu ergreifen, der willens ist, uns zuzulassen, oder zu schwach, uns abzuwehren. Königin Nemedala war schwach. Es war ein Leichtes für mich, in ihren Körper zu schlüpfen. Nach einiger Zeit musste ich feststellen, dass ich mich umsonst wieder und wieder in diesen schlaffen Körper begab. Nemedala teilte noch die Mahlzeiten mit dem König, jedoch nicht mehr das Lager. Entgegen meinem Plan musste ich sie also einweihen.« Sie lachte in Erinnerung auf. »War das ein Gezeter! Nemedala rang um Luft, und dein Vater wies den Gedanken daran, eine fremde Frau zu begatten, entrüstet so weit von sich, dass ich ihn auf seine zahlreichen Seitensprünge hinweisen musste. Das Theater, das darauf folgte, bringt mich heute noch zum Lachen.«

Sie sah ihren Sohn an, der bleich und ohne jede Heiterkeit vor sich hinstarrte, und fuhr fort: »Als ich damit drohte, dann eben einen ihrer Söhne zum Krieger auszubilden, gaben sie nach. Nemedala hat dich ausgetragen und geboren, aber es war mein Samen, der von deinem Vater befruchtet wurde. Du bist mein Sohn!«

Lange Zeit war es still.

Palema wartete geduldig darauf, dass ihr Sohn begriff, welch großes Geschenk sie ihm gemacht hatte. Welcher Krieger wäre nicht stolz auf diese Herkunft?

Endlich nickte er, ohne jedoch den Blick zu heben. »Jetzt verstehe ich zumindest, warum meine Eltern mich ablehnten. Ich war nicht nur ein unerwünschtes Kind, ich war seltsames Zauberwerk.«

Palema stieß den Dolch, den sie immer noch in Händen hielt, in das Wolfsfell auf ihrer Bank. »Seltsames Zauberwerk? Nach mir wirst du der größte König der Reiche sein.«

Ihr Sohn sah sie nun direkt an. »Ach ja? Werde ich das?« Weder Stimme noch Blick ließ auf irgendeine Gemütsregung schließen.

»Unter meiner Führung wird dir alles gelingen«, erwiderte sie schlicht. Der Anflug eines Lächelns erhellte ihr Gesicht. »Jetzt, da du weißt, wem die Stimme gehört, die dich hin und wieder auf den richtigen Weg brachte, wirst du ihr hoffentlich schneller folgen.«

»Ich fürchte, für mütterliche Führung ist es zu spät. Als Kind habe ich sie mir oft gewünscht. Jetzt bin ich erwachsen und treffe meine eigenen Entscheidungen.«

Palema umklammerte die Armlehnen. Hektische Flecken erschienen auf ihren Wangen. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen?! Nach allem, was ich deinetwegen auf mich genommen habe. Ist das dein Dank? Ist das der Lohn dafür, dass ich dich in Gestalt eines Dieners sogar vor dem Scheiterhaufen gerettet habe.« Ihre Stimme war dunkler geworden und hallte seltsam nach.

Es war Rhonan, als streife ihn eisiger Wind, und es wurde schlagartig kälter. Einschüchtern konnte ihn das nicht. Herausfordernd erwiderte er ihren Blick.

»Erwartest du tatsächlich Dank dafür, dass du mich in die Welt hast setzen lassen, nur damit ich die Dämonen töte, für die du zu schwach geworden bist? Du wolltest keinen Sohn, du brauchtest eine Waffe. Ich bin jetzt hier. Bringe mir bei, was ich können muss, um die von euch erschaffenen Dämonen zu besiegen! Ich gehe zwar davon aus, dass ich nicht einmal in ihre Nähe kommen werde, aber das ist unerheblich. Ich habe es Gideon versprochen und werde es daher zumindest versuchen. Darüber hinaus erwarte besser nichts von mir!«

Der Raum schien mittlerweile erfüllt von Raureif. Kalte Schwaden hingen in der Luft.

Rhonan rieb sich die Arme. »Kalt hast du es hier«, ergänzte er im Plauderton.

Palemas Augen funkelten, aber ihre Stimme war kühl und beherrscht, als sie erwiderte: »Diese Sätze wirst du noch bedauern. Ohne meine Führung wirst du kläglich versagen. Doch ich werde mich nicht aufdrängen. Ich werde einfach warten, bis du mich um Hilfe bittest.«

Langsam wurde es wieder wärmer im Zimmer.

Er zuckte die Achseln. »Könnte sein, dass du da sehr lange warten musst. Meine Zukunft werde ich allein meistern. Sollte sie dann nur kurz sein, ist das eben so.«

»Wie du meinst«, spottete Palema. »Du hast ja schon so viel geleistet. Wie du dich bemüht hast, deine Familie zu rächen oder dein Volk zu retten. Dein Ruf ist wahrhaft gewaltig. Branntweinschmuggler werden dich genauso vermissen wie Talermädchen. Mit deiner Einstellung wirst du kaum etwas erreichen können, aber ich fühle mich zum Wohle der Menschen verpflichtet, erneut meine Pflicht zu erfüllen.«

Sie erhielt keinerlei Reaktion, griff in die Luft und warf ihm einen Eisball zu, den sie plötzlich in der Hand hielt. »Hier!«

Er fing ihn auf und sah sie verständnislos an.

»Konzentriere dich und lass ihn brennen!«

»Ich soll was?«

»Dich konzentrieren! Deine Zukunft wird noch sehr viel kürzer sein, wenn dir nicht einmal das gelingt.«


Einige Zeit später verließ er Palema, um mit Gideon und Caitlin die Mahlzeit einzunehmen.

Der Gelehrte war begeistert von seiner Ahnfrau und erzählte, welchen Spaß sie beim gemeinsamen Übersetzen gehabt hätten. Caitlin, in einen hellgrünen Traum gewandet, hatte sich vom gestrigen Gelage erholt und aß mit großem Appetit, und Rhonan stocherte auf dem Teller herum und wusste meist nicht, worüber die beiden überhaupt sprachen.

Er hatte dem Eisball lediglich Wasser abtrotzen können und nebenher erfahren, dass es nicht seine Mutter gewesen war, die ihm beim Gemetzel an Kinian und seinen Leuten zur Seite gestanden hatte. Einiges aus seiner Vergangenheit ergab jetzt einen Sinn, anderes blieb im Dunkeln.

Nachdem sowohl die Priesterin als auch Gideon ihn mehrfach nach dem Grund für seine geistige Abwesenheit gefragt hatten, erzählte er ihnen, was er von Palema erfahren hatte, bat sie jedoch darum, dieses Wissen für sich zu behalten. Es müsste ja nicht jeder wissen, welch seltsamer Bastard er wäre.

Beide versprachen Stillschweigen, widersprachen der Begründung aber vehement. Der Verianer sprach ehrfürchtig von der Wahrhaftigkeit, Ernsthaftigkeit und Opferbereitschaft der unsterblichen Schwestern und empfahl Rhonan, seine edle Geburt als Geschenk anzusehen, das ihn mit Stolz erfüllen sollte.

Bevor der widersprechen konnte, tat Caitlin das. »Dem Königspaar einfach mal so ein Kind aufzuzwingen … also, ich weiß ja nicht so recht. Warum hat sie Rhonan nicht zumindest selbst erzogen? Von Kindern scheint diese große Palema das gleiche Verständnis zu haben wie meine Mutter. Unbrauchbare werden verschenkt, bei anderen wartet man, bis sie einem nützlich sein können. Und du sprichst von Opferbereitschaft! Die einzigen Opfer, die sie bringen, sind ihre Kinder, die sie lieblos auf den Altar der Politik werfen.«

Sie hielt inne, strahlte und ergänzte: »Hab ich das eben gesagt? Gideon sag: Das war doch ein wunderbarer Satz, oder?! Ich kann bald kämpfen wie Rhonan, und jetzt rede ich schon so gelehrt wie du. Wenn jemand schnell lernt, dann ich! Stimmt’s?«

Die Herren konnten nur zustimmen.

Als man sich trennte, um sich wieder dem Unterricht zu widmen, ergriff Caitlin den Prinzen am Arm. »Weißt du, wir können uns unsere Eltern nicht aussuchen und auch nicht die Umstände unserer Geburt. Meinen Vater durfte ich nicht kennenlernen, und meine Mutter sehe ich oft Monde lang nicht, obwohl wir im gleichen Schloss wohnen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie eine ihrer Töchter jemals in den Arm genommen hat. Wenn du deine Mutter nicht magst … tröste dich: Ich mag meine auch nicht.«

Sie strahlte ihn an, und er nickte. Tatsächlich fühlte er sich etwas leichter und hätte noch nicht einmal sagen können, warum eigentlich.


Die Priesterin betrat kurze Zeit später beschwingt und guter Dinge den Wohnraum ihrer Ahnfrau und blieb erst einmal wie angewurzelt stehen. Von den Eiswänden war kaum etwas zu sehen. Gestickte Teppiche und Blumengirlanden zierten sie. Der Boden war zur Gänze mit Fellen bedeckt, die Caitlin an Rhonans neue Stammesbrüder denken ließen. Überall brannten Kerzen, und sogar ein Kaminfeuer flackerte, umgeben von Eis, vor sich hin. Eine offene Truhe ließ den Blick auf Halsketten, Armbänder und Spangen zu. Es glitzerte und funkelte in allen Farben. Liegebänke mit dicken Polstern und gewebten Decken standen um den Kamin herum. Auf Tischen dazwischen befanden sich Krüge und Becher, Obst und Naschereien, und es duftete nach Rosen.

Auf einer der Bänke lag ihre Ahnfrau in rote Seide gewandet mit geschlossenen Augen und lauschte einer Laute, die neben ihr im Raum schwebte. Die Saiten bewegten sich, doch Finger, die sie zupften, waren nicht zu sehen.

»Schön, nicht wahr?«, kam es von der Bank. »Der Spielmann war auch nett anzusehen, aber leider sterblich.«

Die Laute verschwand, und Myria setzte sich auf. »Ich hatte dich früher erwartet.«

Caitlin lächelte verschmitzt und wippte auf den Füßen. »Ich will ganz ehrlich sein. Ich hatte gestern ein bisschen zu viel getrunken. Aber jetzt bin ich nüchtern.«

Das Lächeln wurde nicht erwidert. »Wie schön! Eigentlich hatte ich auch deine Mutter erwartet. Was hielt sie ab?«

»Sie sagte, die Gebrechen des Alters! Aber ich denke, sie hatte einfach keine Lust.« Hell lachte sie auf. »Bei der Reise, die wir hinter uns haben, hätte sie aber wohl tatsächlich ihr Alter gespürt. Ich weiß auch nicht, ob Rhonan sie so lange hätte tragen können. Sie wiegt schließlich mehr als ich.«

»Du gehst auch nicht davon aus, dass Ayala vielleicht andere Möglichkeiten offengestanden hätten, als sich tragen zu lassen?«

Caitlin schüttelte den Kopf. »Fliegen kann sie nun einmal nicht. Und allein die Vorstellung von Mutter in Schneehöhlen, im Unterzeug zwischen Gideon und …«

Erneut lachte sie auf und fand sich plötzlich auf einem Schneefeld wieder. Die Sonne schien, Wolken zogen durchs Blau des Himmels. Verstört griff Caitlin in den Schnee und spürte Kälte. »Myria?« Ihr Blick huschte durch die Einsamkeit. «Hallo!?« Es fröstelte sie, und sie bekam eine Gänsehaut. Wind pfiff und kräuselte sich. Schnee wurde verweht und baute sich zu einer großen Höhle auf. Zögernd ging sie hinein. Wärme schlug ihr entgegen. Sie sah sich um und stand plötzlich wieder in Myrias Gemach.

»Was war das eben?«, fragte sie und wischte Schneestaub von ihren Armen.

»Das, meine Liebe, war Magie!« Myria ließ das erst einmal wirken, bevor sie fortfuhr: »Bevor du fragst: Meine Fertigkeiten kann Ayala nicht erreichen, und du wirst es auch nicht können. Menschen leben nicht lang genug, um einst göttliche Magie so zu beherrschen, wie ich es vermag. Für deine Aufgabe ist das aber auch nicht nötig. Mein heutiges Können besaß ich leider auch noch nicht, als ich die Siegel an der Höhle verschmolz. Hier und jetzt könnte ich ein Siegel erschaffen, das die Ewigkeit überdauert. Dir kann ich hoffentlich beibringen, ein Siegel für die nächsten Jahrhunderte zu schmieden.«

»Das klingt schwierig genug«, gab Caitlin kleinlaut zu. »Ich bringe noch nicht viel zustande … eigentlich nur ganz wenig.«

»Das ist mir bewusst«, stimmte Myria zu. »Ich kann in dir lesen wie in einem Buch. Du hast die Laute gesehen und gehört und dir gewünscht, so gut spielen zu können. Du hast dir nicht gewünscht, sie auch erscheinen lassen zu können. Ich zeige dir, was große Magie ist, und in deinem Hirn spuken schon wieder Gedanken daran, welches Kleid du heute Abend tragen willst.«

Die Prinzessin errötete. »Es tut mir leid. Es ist nur … alles so neu, so schön und so gewaltig. Ich weiß, ich muss mich jetzt konzentrieren. Was soll ich tun? Ich bin bereit. Ganz ehrlich!« Sie lächelte Myria an. »Darf ich mich dabei setzen. Meine Beine sind nach dem anstrengenden Marsch immer noch recht schwach.«

Ihre Ahnfrau wies auf eine Bank ihr gegenüber und hielt plötzlich eine Traube mit dicken, roten Beeren in der Hand. Genussvoll aß sie eine Beere und sah dann wieder zu Caitlin, die genau wie sie selbst jetzt halb saß, halb lag.

»Du meinst, du kannst einen Dämon, der über annähernd so viel Magie verfügt wie ich, mit einer Konzentrationsübung bezwingen? Deine Einfalt hätte etwas Rührendes, wäre sie nicht so gefährlich. Muss ich dich daran erinnern, wie ungeheuer wichtig eure Mission ist?«

»Nein!«, versicherte die Prinzessin umgehend. »Gideon hat häufig davon gesprochen. Ich habe das schon begriffen. Etwas, das noch böser ist als Camora, muss gebannt bleiben.«

Myria nickte. »Dann lass uns beginnen. Um zu begreifen, was Magie ist, musst du dich ihr öffnen, und du musst dich ihr hingeben. Nichts anderes darf deine Sinne mehr beherrschen. Deine Mutter hat es dir, wie all die Nebelfrauen vor ihr, vorgelebt. Eine Magierin lebt für die Magie und nur mit ihr. Sie …«

»Heißt das, sie darf sich auch nie verlieben?«, fragte Caitlin dazwischen und setzte sich kerzengerade hin.

»Das heißt: Sie wird sich nie verlieben! Alles, was …«

»Und wenn sie es schon getan hat? Geht das dann nicht mehr mit der Magie?«

Myrias Augen saugten sich an ihr fest. Caitlin versuchte verzweifelt, nicht an Rhonan zu denken, was natürlich dazu führte, dass sie dabei an Rhonan dachte, und rang die Hände.

Ihre Ahnfrau seufzte auch hörbar auf, bevor sie feststellte: »Ich kann einem Unwissenden das Lesen beibringen, aber keinem Blinden. Werde dir darüber klar, was du sein willst, und komm morgen wieder! So kann ich nichts mit dir anfangen.«


Caitlin erzählte ihren Begleitern nichts von dem Gespräch und verabschiedete sich ziemlich früh mit dem Hinweis darauf, sich immer noch nicht ganz erholt zu haben. Schlaf fand sie allerdings wenig, denn ihre Gedanken bewegten sich im Kreis. Sie wollte unbedingt bei Rhonan bleiben. Dazu musste sie Magie beherrschen. Wollte sie die aber erlernen, durfte sie angeblich nicht an ihn denken. Warum Liebe Magie ausschließen sollte, konnte sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen. Hylia hatte sich schließlich auch verliebt und dadurch nicht ihre magischen Fähigkeiten verloren. Vielleicht war es ja auch so, dass diese uralte Unsterbliche ihr einfach keine Liebe gönnte, weil sie selbst einsam auf einem Berg festsaß. Auf alle Fälle hatte sie sich nicht durch das Wintergebirge gekämpft, um jetzt aufzugeben. Sie musste nur dafür sorgen, dass sie bei ihren Unterrichtseinheiten ganz bei der Sache war. Das sollte doch zu schaffen sein.

Unglücklich klopfte sie ihr weiches Kissen zurecht. Nie lag es so, wie es sein sollte, und kalte Füße hatte sie auch. Fast wehmütig dachte sie an die Nächte im Zelt. Darin, dass es in ihrem Zimmer nicht stürmte, fand sie nur wenig Trost.

Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
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