7. Kapitel




Am selben Tag im hohen Norden

Die Winde waren günstig, und manchmal ging es geradezu pfeilschnell durch die Lüfte. Städte, Flüsse, Wälder und Hügel wechselten sich unter ihnen ab. Schon gegen Mittag war es merklich kälter geworden, und jetzt, in der Morgendämmerung des nächsten Tages, klapperten Gideon die Zähne. Seine Hände waren derart kalt, dass er sich kaum noch festkrallen konnte, aber trotzdem war er unglücklich, als die Echsen zur Landung ansetzten, denn der Luftraum war ihm so unendlich sicher erschienen. Es war schon bedauerlich, dass die Panzer die Echsen zwar weitgehend vor Verletzungen, aber nicht vor Auskühlung schützten. Seine Begleiter waren viel weiter geflogen, als es besprochen worden war, aber nun, vor den Toren Kairans, waren sie am Ende ihrer körperlichen Möglichkeiten angelangt.

Schweren Herzens musste er sich von ihnen verabschieden. Pthullah schenkte ihm zum Abschied noch ein Säckchen Kalla-Beeren. Zwei bis drei dieser Beeren deckten den Nahrungsbedarf eines ausgewachsenen Mannes für einen ganzen Tag, und die Kalla benutzten sie auf ihren ausgedehnten Jagdausflügen.

Sein Begleiter Pthoh warf seiner ehemaligen Last einen letzten Blick zu und erklärte dem Verianer, wegen ihrer roten Haare habe er sich immer wie nah am Feuer gefühlt, jetzt sei ihm furchtbar kalt.

Gideon lachte, obwohl ihm gar nicht danach war, bedankte sich in aller Form bei den Echsen und versicherte sie seiner lebenslangen Freundschaft. Nach der darauffolgenden festen Umarmung der Kalla hatte der Verianer allerdings sehr schnell nur noch einen Gedanken: Lebenslang konnte auch sehr kurz sein! Er rang nach Luft und versuchte zu ertasten, ob seine Rippen nur gequetscht oder vielleicht doch gebrochen waren.

Die Echsen machten sich auf den Heimweg, und Gideon sah ihnen nach, bis sie nicht mehr zu erkennen waren, und kam sich plötzlich verlassen vor. Um ihn herum war nur Wald, und nicht jedes Geräusch konnte er seiner Herkunft zuordnen. Er war ein Mann der Bücher, gefragt war von jetzt an ein Mann der Tat. Das erste Mal, seit er den Turm verlassen hatte, war er auf sich allein gestellt … zumindest fast.

Er drehte sich um und wandte sich der Prinzessin zu, die nach dem Schlafkraut noch tief und fest schlief. Erneut schüttelte er sich bei dem Gedanken, wie kurz davor sie gewesen war, ihr Leben zu verlieren. Dala hatte ihn davon unterrichtet, dass die Siegelerbin der Macht am nächsten Tag das Grenzgebiet um Latohor erreichen würde, und ihn angewiesen, ein Treffen mit Darius zu verhindern, weil der die Erben kaum allein ziehenlassen würde. Dalas Meinung nach würde eine Eskorte aber unweigerlich Camoras Aufmerksamkeit auf sich lenken. Zwei Wanderer würden demgegenüber kaum Aufsehen erregen. Gideon hätte lieber den Schutz einer Eskorte genossen, aber offensichtlich traute Dala ihm mehr zu als er sich selbst. Eigentlich hatte er die Erbin auf einer Ebene vor Latohor erwarten wollen. Doch dann hatten sie Schreie aus dem Wald gehört und dort ein Gemetzel gesehen. Pthoh hatte im kühnen Sturzflug zumindest eine junge Frau kurz vor ihren Verfolgern erreicht. Gideon vermutete zunächst, lediglich das Opfer eines Raubüberfalls gerettet zu haben, da er damit gerechnet hatte, dass Königin Ayala sich der Quelle persönlich annehmen würde. Doch bei der ersten Rast hatte er das Amulett mit dem Schlangenkopf, dem Zeichen der Nebelfrauen, bemerkt, und bei näherer Betrachtung war ihm auch die große Ähnlichkeit zwischen der Geretteten und dem Bildnis der Nebelkönigin aufgefallen. Daraus hatte er geschlossen, dass es sich um eine ihrer Töchter handeln musste.

Zwar hatte er sich gewundert, dass Ayala ein so junges Mädchen mit einer derart wichtigen Aufgabe betraute, nahm aber an, dass deren Fähigkeiten von der Königin wohl als ausreichend betrachtet wurden. Pthoh hatte sich sofort bereit erklärt, die im Vergleich zu ihm winzige Frau in einer Decke zu tragen.

Um zu verhindern, dass die Priesterin während des Fluges aufwachte und herumzappelte, hatte er ihr neben Kalla-Beeren regelmäßig ziemlich viel Schlafkraut eingeflößt. Sie schlief nun schon seit Tagen, und es würde wohl noch eine Weile wirken.

Er hüllte sie in seine Decke und gähnte herzhaft. Schließlich war er viele Tage mit nur wenig Schlaf unterwegs gewesen, hatte aber auch eine Strecke zurückgelegt, für die er ohne die Kalla eine halbe Ewigkeit benötigt hätte. Heldenhaft beschloss er, nicht zu schlafen, sondern, wie es sich wohl gehörte, Wache zu halten.

Ihr Lager befand sich unter den letzten Tannen des Waldes, der an die Südebene Kairans grenzte. Er fingerte aus seinem Beutel das letzte Stück Trockenfleisch, wickelte sich bibbernd in seinen Umhang, kaute auf der zähen Masse herum und blickte auf Kairan. Im ersten Licht des Tages waren die Stadtmauer und zwei der ehemals fünf Türme der Tempelanlage zu sehen.

So viel hatte er über die Stadt gelesen und gehört, dass es ihm vorkam, als hätte er länger hier gelebt. Früher hätte er das vielleicht sogar gern getan, denn die Tempelstadt, wie Kairan auch genannt wurde, wurde lange Zeit als Stadt verherrlicht, in der selbst die Ärmsten ein gutes Leben führten. Kairan war Zuflucht für Arme, Kranke und Verfolgte gewesen, denn die Tempelwächter gewährten jedem Hilfe, der darum bat: ohne Fragen und ohne Lohn.

Ihre Lehren, dass vor den Göttern alle gleich seien und jeder die Verantwortung für seinesgleichen trug, war nie auf ungeteilte Gegenliebe gestoßen, denn welcher Fürst oder auch nur reiche Kaufmann wollte schon seinem Knecht gleich sein und für den auch noch Verantwortung übernehmen? Auch ihre Ansicht, es sei frevelhaft, zu schlemmen, wenn man auch nur einen Einzigen kannte, der gleichzeitig hungern musste, hatte bei den wohlhabenden Kairanern kaum Unterstützung gefunden. Ihre Heilerfähigkeiten allerdings waren von allen gern in Anspruch genommen worden, vor allem, weil auch sie jedermann bedingungslos und kostenlos zur Verfügung gestanden hatten. Also hatte man es ihnen gern verziehen, dass sie sich nebenher auch noch der Krüppel, Armen und Rechtlosen angenommen hatten. Armut gab es nicht mehr, und Kairan war ständig gewachsen. Die Tempelwächter selbst hatten stets bescheiden gelebt, aber sie waren unermesslich reich gewesen.

Allein dieser Umstand musste früher oder später natürlich den Vorsitzenden des Priesterrates, Vater Ligurius, auf den Plan rufen. Dessen Behauptung, Lehren und Handeln der Tempelherren widersprächen dem Willen der Götter, da deren größtes Geschenk an die Menschen die Selbstbestimmung sei und es diesem Grundsatz zuwiderlaufe, faulen Nichtsnutzen und Tagedieben zu Wohlstand zu verhelfen, wie er nur den Fleißigen zustände, hatte zu einer beispiellosen Verfolgungs- und Hinrichtungswelle geführt.

Das Gerücht, dass es Vater Ligurius gar nicht um Glaubensfragen ging, da er schließlich über Jahrzehnte das Treiben der Tempelherren geduldet hatte, sondern, dass er lediglich daran interessiert war, das Geheimnis um den Reichtum der Tempelwächter zu ergründen, hielt sich hartnäckig. Es wurde allerdings nur hinter vorgehaltener Hand weitergegeben, denn der Priesterrat forderte nicht nur die strikte Befolgung seiner Lehren, er arbeitete zu deren Überprüfung und Durchsetzung mit Spionen, Schlägern und Meuchelmördern zusammen. Die Angst, selbst auf dem Scheiterhaufen zu landen, war daher umgegangen.

Ziemlich schnell hatte dieses Gerücht den Schwarzen Fürsten erreicht, der bis dahin wenig Interesse am Norden bekundet hatte. Die Freien Reiche fanden hier keine Unterstützung, und als Herr über da’Kandar verfügte er selbst über unermesslichen Reichtum. Es war wohl die Angst gewesen, dass hier ein mächtiger Gegner heranwachsen könnte, die ihn hatte einschreiten lassen. Er war mit einer Truppe nach Kairan gezogen und hatte den Städterat einberufen, der aus angesehenen Bürgern bestand.

Kaum hatte Camora das letzte Wort gesprochen, da war ihm auch schon das Stadtrecht übertragen worden. Seine erste Tat danach war gewesen, den Priesterrat aufzulösen und die Inquisition zu verbieten. Die wenigen Tempelherren, die noch nicht verbrannt worden waren, waren nach Amansdier verfrachtet worden. Eine Hinrichtung wäre mit seinem Verbot der Inquisition nicht mehr vereinbar gewesen, gegen eine Freilassung hatte gesprochen, dass die Tempelherren nicht bereit gewesen waren, dem Schwarzen Fürsten Gehorsam zu schwören. Der hatte nicht einmal einen Statthalter eingesetzt und die Stadt wieder sich selbst überlassen. Ohne die Tempelwächter war aus einer Zuflucht ein Ort der Gier geworden, an dem nur die Stärksten oder Gewissenlosesten gut leben konnten. Von denen sollte es in Kairan nunmehr reichlich geben.

Traurig schüttelte Gideon den Kopf, lehnte sich gegen einen Baum und schlief ein.


Er erwachte von einem spitzen Schrei.

»Bei Haidar! Wo bin ich? Ich bin entführt worden! Hauptmann Cornelius, wo seid Ihr? Ruth?! Was ist nur geschehen? Hauptmann Corneeeeelius, Hauptmann Corneeeeelius!«

Der Verianer sprang auf die Füße und hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen und sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Er hatte von Marga geträumt, von ihrem krausen rotblonden Haar und ihren Sommersprossen und sah jetzt flammendes Rot vor sich, und schrilles Geschrei schmerzte in seinen Ohren. »Ruhig, Prinzessin! Ich werde Euch alles erklären. Hört bitte mit dem Geschrei auf! Ihr seid nicht in Gefahr!«

»Ach, nein?« Caitlin starrte ihn mit gehetztem Gesichtsausdruck an. Ihre blauen Augen traten fast aus den Höhlen. »Wo bin ich denn? Gehört Ihr zu diesen schrecklichen Männern? Wo sind meine Begleiter? Wer seid Ihr?«

Er räusperte sich, und letzte Bilder der besonnenen Hauptmännin entschwebten. »Ihr seid vor den Toren Kairans. Ich gehöre nicht zu irgendwelchen schrecklichen Männern, wo Eure Begleiter sind, weiß ich nicht, und ich bin Gideon Montastyre, ein Verianer und Gelehrter. Ich soll vorerst Euch und dem Prinzen zur Seite stehen.«

Sie hatte ihm offensichtlich nur mit halbem Ohr oder gar nicht zugehört, warf die Decke beiseite und sprang auf. »Oh nein!« Wild schüttelte sie ihre Kleider, fuhr sich über Gesicht und Arme, hüpfte herum und kreischte immer wieder: »Oh nein, oh nein!«

»Hört bitte auf!«, bat Gideon verblüfft. »Was tut Ihr denn da?«

Immer noch zappelte sie und schüttelte dabei ihre Haarpracht. »Ich habe im Freien geschlafen. Das ist so eklig! Überall sind Blätter und Käfer und Dreck und Würmer! Ich bin befallen davon! Es juckt und kribbelt überall! Ruuuuuth?!«

»Hört bitte endlich auf, so zu schreien! Ihr hetzt uns noch die Stadtwachen auf den Hals. Hier ist es viel zu kalt, hier gibt es keine Käfer oder Würmer, und in einem Nadelwald können keine Blätter fallen.« Gideon trat mit einer beschwichtigenden Geste auf sie zu, aber sie hielt abwehrend ihre Hände vor sich und ging so weit zurück, bis sie an eine Tanne stieß.

»Wagt es nicht, mich anzurühren! Ihr habt mich entführt! Ich werde Euch vierteilen lassen! Ich will jetzt meine Ruth! Ich will zu Hauptmann Cornelius. Ich benötige ein Bad und neue Kleider. Kommt noch einen Schritt näher, und ich schreie, so laut ich kann!«

Er blieb umgehend stehen. »Das tut Ihr doch schon die ganze Zeit. Oder wollt Ihr ernsthaft behaupten, Ihr könntet noch lauter schreien? Ich will Euch nichts tun, und wenn Ihr endlich still wärt, könnte ich Euch erklären, warum wir hier sind.«

Caitlins Augen sprühten Funken. »Ich will nicht erklärt bekommen, warum ich hier bin, ich will hier weg, und zwar sofort! Meine Füße sind eiskalt, meine Hände auch, ich habe Hunger, und ich will meine Ruth! Oooooh, ist das alles grässlich! Womit habe ich das verdient?« Sie ließ sich wieder auf den Boden plumpsen, angelte sich die Decke und hüllte sich bibbernd darin ein. »Die kratzt und stinkt«, beklagte sie sich mit versagender Stimme und begann, herzzerreißend zu schluchzen.

Gideon schluckte schwer. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass es schwierig werden würde, das Geschehene zu erklären. Aber er hatte nicht erwartet, dass jede Erklärung einfach abgelehnt werden würde. Er ging in angemessener Entfernung in die Hocke und versuchte es trotzdem. Er sprach einfach lauter, um das Schluchzen zu übertönen. »Ihr wart doch auf Bitte des Fürsten Darius hin auf dem Weg nach Latohor, nicht wahr?«

Da sie ihn keiner Antwort würdigte, also auch nicht widersprach, fasste er das als Zustimmung auf und sprach weiter: »Dann seid Ihr die auserkorene Erbin der Macht und damit Teil der Prophezeiung, genau wie der Prinz! Seht Ihr, ich bin auch jemand, der an der Erfüllung beteiligt ist. Meine Aufgabe ist es, Euch und den Prinzen so schnell wie möglich zum Göttergipfel zu bringen. Niemand außer uns darf von dieser Reise erfahren. Es blieb mir also schlicht nichts weiter übrig, als Euch zu entführen.« Er stutzte, bevor er mit leichtem Lächeln fortfuhr: »Allerdings bin ich der Meinung, man könnte es auch mit Rettung umschreiben. Schließlich wart Ihr gerade in einer äußerst misslichen Lage und wärt vermutlich erschlagen worden, hätten wir Euch nicht gesehen. In der Stadt sollten wir den Prinzen finden und uns dann gemeinsam auf den Weg ins Wintergebirge machen. Ich bin von der Vorsehung als Euer Begleiter auserkoren. Ihr braucht also wirklich keine Angst vor mir zu haben. Wir werden jetzt nach Kairan gehen, und ich bringe Euch in einem gemütlichen Gasthaus unter. Dort könnt Ihr ein warmes Bad nehmen und nach Herzenslust frühstücken. Ich besorge in der Zwischenzeit Pferde, warme Kleidung, Proviant und hoffentlich den Prinzen.«

Ihr Schluchzen verebbte zu einem Schniefen, und sie sah ihn mit tränenverhangenen Augen an. Unwillkürlich traf Gideon die Erkenntnis, dass er noch nie ein so schönes menschliches Wesen gesehen hatte. Ihre feuchten Augen riefen geradezu dazu auf, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Er hob den Fuß zum Schritt und setzte ihn umgehend wieder auf, als ihre Stimme ertönte, so schrill, dass es erneut in den Ohren schmerzte. »Ihr lügt mich an. Wie sollten wir kurz vor Kairan sein? Niemals können wir so weit gereist sein. Wir hatten ja noch nicht einmal Latohor erreicht. Ich wollte schon nicht dorthin, und nach Kairan will ich überhaupt nicht. Es ist mir hier zu kalt, viel zu kalt.«

Gideon dachte kurz nach, kam zu dem Schluss, dass die Geschichte mit den Flugechsen bei der jungen Dame wohl zu ewig langen Erörterungen führen würde, und entschloss sich zu einer Notlüge. »Ihr habt von Euren Verfolgern einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Erinnert Ihr Euch? Ihr habt danach sehr lange geschlafen, und wir waren wirklich schnell unterwegs, weil der Prinz uns vielleicht schon sehnlichst erwartet. Ich werde Euch noch ausführlich berichten, aber die Zeit drängt jetzt etwas.«

Er rechnete kaum damit, dass die Prinzessin dieser Erklärung Glauben schenken würde, denn eine Reise zu Pferde hätte nun wirklich zu lange gedauert, um während einer auch noch so lang andauernden Ohnmacht bewältigt zu werden, aber offensichtlich kannte seine neue Begleiterin sich mit Entfernungen nicht so gut aus.

Auch ihr Schniefen hatte während der kurzen Rede aufgehört. Sie wirkte nun eher nachdenklich und wischte sich entschlossen die letzten Tränen ab. »Der Prinz ist hier? Es gibt ihn also doch? Wie ist er denn so, wie alt ist er, und wie sieht er aus?«

Der Verianer wurde immer verwirrter und suchte nach Antworten. »Was? Der Prinz? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich kenne ihn doch gar nicht. Ich …«

Die Prinzessin erhob sich anmutig, sah an sich herunter und wischte seinen Erklärungsversuch mit einer Handbewegung weg. »Dann benötige ich neue Kleider! So kann ich ihm unmöglich gegenübertreten. Wird es hier wohl gute Schneiderinnen geben? Das sind nicht meine Kleider. Glaubt nur nicht, ich würde freiwillig so reisen! Hauptmann Cornelius hat mich in diese … Dinger gesteckt.«

Ihre Hände glitten fahrig über ihren Umhang, und ihr neuer Begleiter war nun restlos überfordert. Eben noch verständlicherweise fassungslos angesichts der Annahme, entführt worden zu sein, dachte sie jetzt an eine Schneiderin? Die Frauen, die er bisher kennengelernt hatte, waren gelehrte Verianerinnen oder eben die vernünftige Marga gewesen. Mit dieser schönen, jedoch offensichtlich verrückten jungen Frau konnte er nicht das Geringste anfangen, und er sah sie mit wachsendem Unbehagen an. »Prinzessin, wir haben eine Reise in die Berge vor uns. Wir werden uns daher mit warmer Kleidung versorgen. An gesellschaftlichen Ereignissen werden wir nicht teilnehmen, weil wir uns sozusagen auf der Flucht befinden.«

Sie schüttelte sich und ihre feurige Haarpracht und stampfte mit dem Fuß auf. »Oh, wie ich das hasse! Ihr seid genauso wie Hauptmann Cornelius. Gehört zu einer Flucht denn zwangsläufig, dass man schlecht gekleidet sein muss?«, fragte sie spitz.

»Das nicht unbedingt«, erwiderte er. »Man sollte zweckmäßig gekleidet sein. Glaubt mir, der Prinz wird auch nicht in einer Robe hier erscheinen. Er würde es sicher eher seltsam finden, wenn Ihr hier in einem Festgewand auftaucht.«

Caitlin nickte bedächtig. »Ihr wollt mir damit sagen, dass er im Augenblick als Krieger unterwegs ist. Das kann ich verstehen. Trotzdem benötige ich eine Schneiderin. Schließlich bin ich nicht die Tochter eines Kaufmanns, sondern eine Prinzessin der Nebelinsel. Ist sein Heer auch in Kairan?«

»Sein Heer? Äh, … nein. Wie ich schon sagte, werden wir in aller Heimlichkeit reisen. Wenn Ihr jetzt vielleicht die Güte hättet, mir zu folgen. Es wird Zeit, dass wir nach Kairan gehen. Wärt Ihr so nett und würdet mir zuvor Euren Namen verraten?«

Er wunderte sich, dass sie keinerlei Einwände erhob. »Caitlin«, sagte sie und begleitete ihn in Gedanken versunken.


Kurze Zeit später hatte er sie im kleinen Gasthof Fliegender Hirsch untergebracht. Es war die dritte Herberge gewesen, die sie aufgesucht hatten, und die erste, die Caitlins Beifall gefunden hatte. Neben einer großen Wanne gab es hier auch noch ein Dampfbad. Der Preis für die Benutzung eines fensterlosen Raums, dessen Feuer ständig mit Duftölen und Wasser befeuchtet wurde, überschritt den Preis für die Vermietung der Zimmer um einiges, aber Gideon willigte sofort ein. Er musste eine Magd überreden, der Prinzessin als Zofe zu dienen, da die sich außerstande sah, allein mit so schwierigen Dingen wie Auskleiden und Baden fertig zu werden.

Gideon sah Böses auf sich zukommen: Was sollten sie in den Bergen mit einer Begleiterin anfangen, die schon in einem Gasthaus nicht allein zurechtkam? Er konnte nur hoffen, dass sich zumindest der Prinz als tauglicher Reisegefährte erwies. Andernfalls konnten sie sich gleich Camoras Horden ergeben. In düsteren Gedanken gefangen betrat er die Straße.

Kairan war groß, neben Mar’Elch die größte Stadt überhaupt! Zwei-, sogar dreistöckige Steinhäuser säumten Straßen, die hoffnungslos überfüllt waren. Ochsenwagen zwängten sich durch eine fluchende Menge, und Kutscher brüllten laut, um den Weg frei zu machen, Handkarren rumpelten über die steinigen Wege, und Händler, Handwerker, Marktfrauen und Bettler schoben sich aneinander vorbei. Eine Herde Bergziegen wurde mittendrin von Kindern zum Markt getrieben. In seinem Turm war schon das Kratzen einer Feder als Belästigung empfunden worden, ein derartiges Getöse kannte er nicht. Selbst die Kalla waren ihm demgegenüber gesittet und ruhig erschienen. Wie sollte er hier nur einen ihm unbekannten Mann finden?

»Geh der kalten Sonne nach!«, war der einzige Anhaltspunkt, den er von Dala erhalten hatte. Guter Ratschlag! Es war klirrend kalt und wolkenverhangen. Es sah nach Schnee aus, aber eine Sonne war weit und breit nicht zu sehen.

Gideon verschränkte die Arme über seinem Brustbeutel, aus Angst vor Dieben, und fragte sich zum Markt durch, um seine Einkäufe zu erledigen. Dabei ließ er seine Blicke umherschweifen und erregte prompt die Aufmerksamkeit von Bettlern, die ihn meist humpelnd und immer stinkend bedrängten. Kleine Münzen wechselten den Besitzer, und Gideon war froh, als er den Freimarkt erreichte, den Bettler nicht betreten durften. Von Händlern entlohnte Stadtwachen sorgten dafür, dass dieses Verbot strikt eingehalten wurde. An Ständen oder in Gattern wurde hier alles feilgeboten, was es gab: Fleisch, Tuch, Garne, Nadeln, Wein, Vieh … Es war bunt, und überall wurde um den Preis gefeilscht.

Gideon schob sich durch die Menschenmenge bis hin zu einem Pferdegatter, auf dessen Pforte ein bärtiger Mann im Fellmantel saß. Die Pferde, die Gideon erstand, waren nicht groß, aber stämmig. Um den Preis ein wenig zu drücken, erzählte er dem Händler eine Spottgeschichte auf Camora, in der es darum ging, wie Camora erfolglos gegen seinen Schatten kämpfte, weil der genauso schwarz war wie er selbst. Gideon verstand sich aufs Geschichtenerzählen, und sich die Augen wischend, gewährte der Händler tatsächlich einen Nachlass auf Pferde und Sattelzeug und verwies ihn weiter an seinen Freund Bard, der ihnen wirklich gute Winterkleidung verkaufen konnte. Er solle nur sagen, er käme auf persönliche Empfehlung von Lurd, dann würde er nicht übervorteilt werden.

Der Hinweis erwies sich als Volltreffer. Bard nickte sofort mit Verschwörermiene, überließ den Stand seinem Gehilfen und zog den Verianer in ein Haus. Zwischen Fellen, die zum Trocknen auf Gerüste gespannt waren, breitete er auf einem Tisch weiße Mäntel aus dem Fell der Schneewölfe vor ihm aus, in die ein Futter aus gewebter Schafswolle genäht war: das Beste und Wärmste, das man sich vorstellen konnte! Nach einer Anprobe glaubte Gideon ihm sofort. Auch lederne Beinkleider, die ebenfalls weich gefüttert waren, führte Bard im Angebot. Eher scherzhaft fragte er, ob sich auch eine Frau in der Gruppe befände. Als Gideon bejahte, zeigte ihm der Händler mit einem anzüglichen Lächeln eine Art Hosenrock: Weit geschnitten sah er aus wie ein Rock, eignete sich durch die Hosenform jedoch gut zum Reiten. Außerdem war er unter dem Leder zweifach gefüttert, weil Frauen ja schneller froren.

Der Verianer übersah das erneute, anzügliche Grinsen, nickte begeistert und hoffte inständig, dass Prinzessin Caitlin das ungewöhnliche Ding nicht umgehend zerreißen und wieder nach ihrem Hauptmann Cornelius brüllen würde.

Bard packte gut gelaunt noch ein paar Felldecken als Zugabe auf die Mäntel. Er verkaufte schließlich nicht alle Tage drei der teuersten Winterausrüstungen auf einmal.

Lurds Sohn hatte in der Zwischenzeit die drei gesattelten Pferde und das Packpferd gebracht. Gemeinsam luden sie Zelt, Mäntel, Stiefel, Handschuhe, wollene Unterkleidung und Decken auf. Auf Gideons Frage, wo er am besten Vorräte erstehen könnte, bot der Knabe freundlich an, ihn zum allerehrlichsten Krämer Kairans zu bringen. Der Verianer nahm das Angebot gern an. Der Proviant war schnell zusammengestellt. Gideon freute sich, entgegen seiner Erwartung auch seinen Vorrat an Kräutern für verschiedene Anwendungen aufstocken zu können. Hier im Norden waren die seltenen Kräuter allerdings teurer als der gesamte übrige Proviant. Lurds Sohn konnte nur den Kopf schütteln über einen Mann, der so viele Kromtaler für welkes Unkraut zahlte.

Der Verianer drückte dem Jungen nach Beendigung seiner Einkäufe eine kleine Münze in die Hand. »Sei so nett und bring die Pferde zu meinem Gasthof, ja!«

»Gern, Meister! Wo seid Ihr abgestiegen?«

Gideon stutzte, lachte verlegen auf und kam sich unglaublich dämlich vor. Jetzt hatte er tatsächlich den Namen der Herberge vergessen. Er vergaß nie etwas, und nun das!

Der Junge schüttelte belustigt den Kopf und begann, die verschiedenen Gasthäuser aufzuzählen, die er kannte. Der Verianer unterbrach ihn plötzlich: »Sagtest du eben Zur kalten Sonne? Wo ist das?«

»Ihr wisst auch nicht mehr, wo Euer Gasthof ist?«, fragte der Knabe ungläubig und kratzte sich am Kopf. »Wollt Ihr wirklich in die Berge, Herr?«

Gideon strahlte ihn an. »Ich weiß noch, wo ich abgestiegen bin, und mir ist gerade wieder eingefallen, dass es der Fliegende Hirsch war, aber jetzt sag mir schnell noch, wo ich die Kalte Sonne finde!«

Unter Zuhilfenahme beider Hände erklärte der Junge ihm den schwierigen Weg durch die verwinkelten, engen Straßen und war erstaunt, dass Gideon auf eine Wiederholung verzichtete. »Ihr könnt ja noch mal fragen!«, rief er ihm hinterher.


Gideon ging zielstrebig der Beschreibung nach durch ein Gewirr von Gassen. Während die breiten Straßen mit Steinschutt bestreut waren, musste er hier auf seine Schritte achtgeben, denn Schneematsch verbarg gefrorene Rillen und Furchen. Menschen begegneten ihm kaum noch. Es gab auch nur noch vereinzelt kleine Handwerksstuben, aus denen Hämmern und Klopfen drangen, Stände gab es gar keine mehr. Er ging durch ein Wohngebiet der ärmeren Kairaner. Die Holzhäuser waren klein und zum größten Teil baufällig. Morsche Bretter waren oft nur durch Leder ersetzt worden, und Schimmelpilze wucherten aus Wänden und Dächern. Katzen und Hunde wühlten in halbgefrorenen Abfällen.

Erneut bog er ab und sah endlich zur Linken das Gasthaus Zur kalten Sonne vor sich. Er spürte, wie sein Herz plötzlich schneller klopfte, öffnete die niedrige Tür und betrat einen schummrigen und verräucherten Schankraum. Obwohl es noch Vormittag war, waren schon einige Tische besetzt, und es stank nach billigen Talgkerzen und Gebrautem. Gideon drehte sich der Magen um bei dem Gedanken daran, das bittere Getränk schon zum Frühstück zu sich nehmen zu sollen.

Endlich hatten sich seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt, und er ging zum Tresen und bestellte Ziegenmilch, Brot und Käse. Den Krug in der Hand drehte er sich um und betrachtete die Gäste. Drei Handwerker saßen an einem Tisch und fluchten über schon wieder gestiegene Standgebühren. Ein zerlumpter Hausierer ordnete mit trübsinniger Miene seine Kämme und Knöpfe aus Horn. In einer Ecke schliefen zwei leichtbekleidete Talermädchen zusammengerollt auf kleinen Bänken. An einem Tisch am einzigen kleinen Fenster der Gaststube saß ein Mann mit langen blonden Haaren vor den Resten eines kaum angerührten Frühstücks. Die Augen halb geschlossen schien er in seinen Umhang gehüllt vor sich hin zu dösen. Ein großer Wandersack und ein knorriger Ast lehnten am Tisch. Gideon hatte das von einem wenig begnadeten Künstler gemalte Bild der Königsfamilie im Kopf. Wenn überhaupt, konnte dies nur der jüngste Prinz sein. Völlig unbewusst war er bereits einige Schritte auf den einsamen Gast zugegangen.

Der hob träge die Augenlider und sah den Verianer fragend an. »Kann ich Euch irgendwie behilflich sein?«

Gideons Herz machte einen Sprung. Der Künstler war sicher nicht begnadet gewesen, aber die dunkelgrünen Augen des Prinzen hatte er hervorragend getroffen. Er trat an den Tisch heran. »Darf ich mich setzen? Ich glaube, wir haben ein gemeinsames Anliegen.«

Rhonan sah kurz aus dem Fenster. »Um die Mittagszeit vor dem Osttor! Wir bekommen Besuch!«

Der Gelehrte bückte sich und schaute ebenfalls aus dem Fenster. Vier Männer kamen zielstrebig auf das Gasthaus zu. Sie wirkten auf ihn wie einfache Handwerker, bis ihm dämmerte, dass die Ausbuchtungen an ihren Umhängen von Schwertgriffen herrühren konnten. Er wandte sich wieder um und sah nur einen leeren Stuhl, blickte sich weiter um, aber sein Gesprächspartner war nirgends mehr zu sehen. Verblüfft kehrte er zum Tresen zurück und aß sein Brot.

Die vier Bewaffneten betraten den Raum und sahen sich um. Einer kam und fragte den Wirt nach einem blonden Fremden. Der schüttelte nur bedauernd den Kopf. Auch die Gäste konnten sich nicht erinnern und zuckten die Achseln. Auskünfte gab man hier anscheinend nicht so ohne weiteres.


Gideon und Caitlin warteten seit geraumer Zeit auf der Ebene jenseits des Osttores. Ein weiteres Reit- und ein Packpferd führte der Verianer an Laufleinen mit sich. Ihm schmerzten noch die Ohren von Caitlins Gezeter, als er ihr den Hosenrock gezeigt hatte. Erst seine Ankündigung, dem Prinzen zu sagen, dass sie ihre Aufgabe nicht erfüllen konnten, weil seine Begleiterin eine dumme Gans sei, hatte sie zum Einlenken bewogen. Jetzt kauerte sie auf ihrem Pferd, hatte ihre Kapuze weit ins Gesicht gezogen und grummelte vor sich hin. Undeutlich hörte er etwas von männlichem Unvermögen, irgendetwas vernünftig regeln zu können. Sie musste jetzt in bitterer Kälte ausharren, nur weil zwei Männer keinen geeigneteren Treffpunkt hatten vereinbaren können.

Gideon konnte sich ihren gemurmelten Vorwürfen nicht ganz verschließen. Auch ihm setzten Nässe und Kälte immer mehr zu. Schneeregen wurde ihm immer wieder ins Gesicht getrieben, und schon jetzt dankte er Bard für die wirklich warme Kleidung. Es ärgerte ihn nur, dass er auf Handschuhe verzichtet hatte, weil er geglaubt hatte, mit ihnen die Zügel nicht halten zu können. Bald würde er sie wirklich nicht mehr halten können, denn seine Finger wurden langsam klamm und steif.

Er überlegte gerade, ob er sich die Fäustlinge aus der Satteltasche holen sollte, als eine große Gestalt, in einen schwarzen Umhang gehüllt, Bogen und Köcher über der Schulter, stark hinkend geradewegs auf sie zukam. Ohne ein Wort der Begrüßung band sie das überzählige Reitpferd los und schwang sich in den Sattel.

»Wir reden im Wald. Da ist es sicherer«, erklärte der Prinz und ritt Richtung Osten. Seinen Begleitern schenkte er keinerlei Beachtung.

»Freut mich, Euch wiederzusehen«, erwiderte Gideon und lenkte sein Pferd neben das des Prinzen. »Darf ich Euch meine Begleiterin, Prinzessin Caitlin, vorstellen? Mein Name ist Gideon Montastyre«, ergänzte er und erntete ein dunkles Gemurmel. »Ihr habt uns erwartet?«

»Euch nicht unbedingt, aber irgendwen.«

Höflich oder mitteilsam schien der Prinz nicht gerade zu sein, aber der Verianer versuchte es trotzdem. »Wisst Ihr, ich bin ohne Hoffnung aufgebrochen, tatsächlich einem da’Kandar-Prinzen zu begegnen. Wie war es Euch nur möglich, zu entkommen?«

Ihn traf ein derart eisiger Blick, dass er unwillkürlich schluckte. »Ihr kennt Euch im Wald aus?«, fragte er hastig und war nahe daran, vor sich hin zu pfeifen.

»Ja.«

Das war für die nächste Zeit der letzte menschliche Laut, den Gideon hörte, vom Räuspern Caitlins einmal abgesehen, die es unglaublich fand, einfach ignoriert zu werden. Das Klatschen der Hufe im Schneematsch war daneben lange das einzige Geräusch.

Vor ihnen lag der riesige Angus-Wald. Die hohen, dichtstehenden Nadelhölzer bedeckten ein Gebiet, das annähernd so groß war wie El’Maran. Den rötlichen Zapfen entströmte ein intensiver, herber Duft, der schon jetzt zu ihnen herüberwehte. Der Verianer konnte sich an viele Berichte über Menschen erinnern, die nie wieder aus diesem Wald zurückgekehrt waren, weil … Jäh wurden seine Gedanken unterbrochen.

»Reitet!«, brüllte Rhonan, hatte schon sein Pferd herumgerissen und legte seinen Bogen an.

Verwirrt sah Gideon sich um. Sechs Reiter stürmten im gestreckten Galopp heran.

Caitlin wollte sich auch umsehen, aber ihr Kopf drehte sich nur in der Kapuze. »Was …?« Weiter kam sie nicht, denn der Gelehrte versetzte ihrem Pferd einen Schlag, und das Tier machte einen Satz und preschte los. Die Prinzessin warf sich erschrocken auf den Pferdehals und kreischte. Gideon floh unmittelbar hinter ihr. Die ersten Bäume hatte er fast erreicht, als er einen Schrei hörte, der das Kreischen der Prinzessin übertönte. Wenn das jetzt der Prinz gewesen war? Er riss an den Zügeln und zerrte sein Pferd herum.

Rhonan spannte gerade erneut den Bogen und schien unverletzt, aber seine Pfeile hatten bereits Ziele gefunden. Reiterlos irrte ein Pferd umher, ein zweites zog seinen Reiter am Steigbügel mit sich. Ein dritter Reiter war zumindest verwundet. Ein Pfeil ragte aus seinem Arm.

Die Verfolger erreichten den Prinzen. Der warf den Bogen weg, riss sein Schwert aus der Scheide und fingerte mit der Zügelhand gleichzeitig am Gürtel. Sein Pferd tänzelte hin und her.

Gideon hörte einen Schrei, der unvermittelt abbrach, und der Verianer sah einen Dolchgriff aus dem Hals eines Kairaners ragen.

Die drei verbliebenen Verfolger versuchten erfolglos, ihr Opfer einzukreisen, da Rhonan sein Reittier mal nach links, mal nach rechts trieb und dann wieder nach vorn schießen ließ. Das überforderte Pferd machte wahre Bocksprünge und wieherte erbarmungswürdig. Aber die Taktik schien aufzugehen. Der Prinz drängte gerade einen Fremden weg von den anderen. Die beiden Pferde bewegten sich Seite an Seite im Kreis, während die Reiter mit Schwertern aufeinander einschlugen. Der Kairaner griff an, aber Rhonan wehrte die Attacke ab und warf gleichzeitig einen weiteren Dolch. Der schon durch einen Pfeil verwundete Verfolger sackte mit einem Aufschrei im Sattel zusammen. Der Prinz wurde bereits vom Nächsten bedrängt. Die Pferde warfen die Köpfe hin und her und schnaubten. Blutgeruch ließ sie immer unruhiger werden.

Gideons Hände bebten, als er sein kleines Messer aus dem Gürtel fingerte. Eigentlich hatte er es zum Gemüseputzen dabei und war dankbar, dass die Kämpfer so mit sich beschäftigt waren, dass sie ihn gar nicht wahrnahmen. Aber sein neuer Begleiter schien in arge Bedrängnis zu geraten, denn die Fremden drangen immer gleichzeitig auf ihn ein. Der Prinz wich weiter und weiter zurück, konnte nur noch abwehren, aber kaum noch eigene Attacken anbringen. Auch sein Pferd war offensichtlich kaum noch zu führen und stemmte sich gegen die Zügel.

War vorher vorwiegend das Klirren der Waffen zu hören gewesen, hörte Gideon jetzt auch das Keuchen und Ächzen der Kämpfer. Plötzlich sah er den breiten Rücken eines Angreifers vor sich. Ohne nachzudenken, warf er seinen Dolch und traf zumindest die Schulter. Der Reiter schrie, schwankte und starb, als ein Schwert ihm in die Brust fuhr.

Der Prinz schlug schon wieder auf den letzten Überlebenden ein, traf die Klinge des anderen, drehte schwungvoll seinen Arm, und das Schwert seines Feindes segelte davon. Der Kairaner zerrte sein Pferd ungestüm zurück, Rhonan setzte nach und holte erneut zum Schlag aus. In diesem Augenblick wirbelte sein Gegner im Sattel herum und schleuderte ihm eine Kette entgegen. Die wickelte sich um das Gelenk der Schwerthand, und noch bevor der Prinz reagieren konnte, wurde er mit einem Ruck aus dem Sattel gerissen, landete hart auf dem Boden und brüllte auf. Der Kairaner gab seinem Pferd die Sporen und schleifte ihn hinter sich her. Doch schnell zügelte er wieder sein Pferd, musterte zunächst Gideon, der prompt die Augen aufriss und die Luft anhielt, und stellte fest: »Keinen Bogen, keinen Schneid!«

Breit grinste er dann sein Opfer an, das sich im Schlamm krümmte. »Unser Interesse gilt ohnehin nur dir. Tut’s weh? Ich gebe zu: eine unschöne Art zu reisen. Aber ich bin meinen Kameraden etwas schuldig für deine …«

Ein Dolch des Prinzen traf ihn in die Kehle. Blut spritzte, er schwankte und kippte auf den Pferdehals. Das Tier ging durch.

Rhonan hatte es nicht geschafft, die Kette zu lösen, und wurde weiter mitgeschleift.

»Oh, Götter, nein!« Gideon, der gerade aufgeatmet hatte, gab seinem Pferd die Hacken und nahm die Verfolgung auf. Bald hatte er das Pferd des Kairaners eingeholt und versuchte, sein Reittier neben dieses zu bringen. Doch das war nicht leicht, denn der Reiter hing halb aus dem Sattel. Erst nach mehreren Versuchen konnte er die Zügel des schäumenden Pferdes ergreifen. Noch ein paar Schritte, und es blieb zitternd stehen.

Gideon glitt aus dem Sattel und sackte auf die Knie. Alles an ihm pochte oder schlotterte. Kaum wieder in der Lage, seine Beine zu bewegen, löste er die Kette vom Gürtel des Toten und stolperte zum Prinzen.

Der saß bereits und befreite sein Handgelenk.

»Seid Ihr ernsthaft verletzt?«, fragte Gideon und betrachtete voller Sorge die verdreckte Gestalt und das aufgerissene, blutige Handgelenk.

Rhonan beachtete ihn gar nicht, knüpfte seinen Lederbeutel vom Gürtel und goss reichlich Branntwein über die Wunde. Er zog dabei lediglich mit einem zischenden Geräusch die Luft zwischen den Zähnen ein, während dem Gelehrten leicht schwindelig wurde.

»Kann ich etwas für Euch tun?«

»Ja! Wenn ich das nächste Mal verlange, dass Ihr reitet, dann reitet gefälligst auch.«

Der Verianer sah ihn verständnislos an und verteidigte sich: »Haben wir doch getan. Wir hatten die Bäume fast erreicht, als ich einen Schrei hörte. Da musste ich doch …«

»Was?«, unterbrach der Prinz, während er unter dem Umhang an seinem Hemd zerrte. »Wie angewachsen stehen bleiben? Damit ich mich beim Versuch, zwischen den Bäumen bessere Deckung zu finden, auch noch um Euch hätte kümmern müssen?«

Stoff riss. Gideon schluckte unbehaglich. »Ihr meint, Ihr wolltet … und seid nur meinetwegen …«

Erneut wurde er unterbrochen. »Wir haben keine Zeit. Holt mein Pferd und meine Waffen!«

Gideon beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen, und sammelte Schwert und Bogen ein, zog, möglichst ohne die Toten dabei anzusehen, die Dolche aus den Körpern und führte schließlich auch das Pferd zu seinem zukünftigen Weggefährten zurück. Der stand mittlerweile leicht schräg, aber aufrecht und verknotete mit Hand und Zähnen ein Stück Stoff am Handgelenk, dem man deutlich ansah, dass es gerade durch den Matsch gezogen worden war.

»Ich habe sauberes Leinen in meiner Satteltasche«, brachte der Gelehrte hervor.

»Schön für Euch!« Rhonan ließ sich die Messer reichen, wischte sie an seinem Hemd ab, dem jetzt ein Fetzen fehlte, und verstaute sie zügig in Stiefeln und Gürtel.

Der Verianer betrachtete das große, breite Schwert unterdessen genauer und konnte sich kaum vorstellen, dass jemand diese schwere Waffe mit nur einer Hand schwingen konnte. »Ein Familienerbstück?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Keine Ahnung! Von meiner jedenfalls nicht!«

»Also nicht das Schwert der Alten Könige?«

Lediglich ein Laut, als presse man die Luft zur Nase heraus, war die Antwort. Er fasste das als nein auf. Die Waffe verschwand in der Scheide, und der Bogen wurde übergestreift.

Umsichtig führte Gideon das Pferd nun nahe an den Reiter heran, der zwar seine Waffen sorgfältig gesäubert hatte, sich selbst jedoch nicht einmal das verschmierte Gesicht abwischte. Matschbrühe, die ihm aus den Haaren tropfte, schien ihn nicht weiter zu stören. Er blinzelte lediglich, wenn sie ihm in die Augen lief. Jetzt holte er Luft und schwang sich in den Sattel. Die Hände krallten sich um die Zügel, Augen und Lippen wurden zusammengekniffen, und der Brustkorb hob und senkte sich sichtbar.

»Wartet!« Gideon kramte einen Beutel aus seiner Satteltasche hervor und hielt ihm auf der Handfläche ein graues, welkes Blatt hin.

Auf Rhonans verständnislosen Blick hin erklärte er: »Marsiskraut. Legt es unter die Zunge! Es lindert Schmerzen.« Er lächelte und nickte aufmunternd.

Der Prinz nahm das Blatt und schob es in den Mund. Ohne ein Wort des Dankes lenkte er sein Pferd Richtung Wald.

Gideon saß ebenfalls auf, warf aus der Entfernung einen letzten Blick auf die Toten, die sie einfach so im Dreck zurückließen, schickte ein stummes Gebet für sie zu den Göttern und ließ sein Pferd neben ihm gehen. »Es tut mir leid, dass ich Euch gerade in noch größere Schwierigkeiten gebracht habe. Es war nur …« Er lachte verlegen auf. »Ich bin sozusagen neu in der Wildnis und solche Dinge nicht gewöhnt.«

Sein Begleiter blies lediglich die Backen auf und stieß die Luft aus.

Also ergriff er erneut das Wort. »Wer war das? Wie Hordenkrieger oder Wolfsjäger sahen die gar nicht aus«, fragte Gideon und sah noch einmal zurück. Das Pferd mit dem Toten im Sattel trottete bereits Richtung Kairan.

»Ligurius’ Spione.«

»Vater Ligurius, der Ketzerjäger? Seid Ihr sicher?« Gideon konnte gar nicht glauben, was er gerade gehört hatte.

»Ja.«

»Aber was sollte der denn von uns wollen?«

»Woher soll ich das wissen? Ihr solltet zusehen, dass Ihr Eure Prinzessin einholt, bevor sie Euch im Wald verloren geht.«

»Caitlin! Die hab ich völlig vergessen. Ach du liebe Güte!«, schrie Gideon und gab seinem Pferd erneut die Hacken.

Rhonan verdrehte die Augen und folgte ihm, wenn auch gemächlicher, in den Wald.

Hätte Milla ihn nicht gefunden, hätte er sich nun keine Gedanken mehr darüber machen müssen, warum zunächst die Hexen von der Nebelinsel Kontakt zu ihm suchten und warum ihm jetzt Spione auf den Fersen waren. Immerhin war es sechs Jahre her, dass Ligurius ihn zusammen mit den anderen Tempelwächtern zum Tode verurteilt hatte, und ausgerechnet Camora persönlich dafür gesorgt hatte, dass er nicht verbrannt, sondern mit einigen anderen zusammen nach Amansdier gebracht worden war. Trübsinnig stieß er die Luft aus. Hätte Milla ihn doch liegen lassen. Dann hätte er sich keine Gedanken mehr über Nebelhexen oder Ligurius machen müssen, er hätte sich auch keine Gedanken darüber machen müssen, warum er sich unbedingt mit diesem hageren Toren unterhalten sollte. Er hätte sich auch keine Gedanken mehr darüber machen müssen, ob ihn jetzt der Schmerz im Bein mehr vom Kopfschmerz oder mehr vom Schmerz im Handgelenk ablenkte. Dieses Leben war zum Kotzen, aber offensichtlich war er verdammt dazu, es weiterführen.


Caitlin war nicht weit in den Wald hineingeritten. Eigentlich war ihr Pferd stehen geblieben, sobald ihr Zug an den Zügeln Gideons Schlag auf die Flanke endlich entgegengewirkt hatte. Jetzt hatte sie ihre Kapuze abgestreift, saß auf einem Baumstumpf und rieb sich den Knöchel. Das tat sie schon seit geraumer Zeit, aber keiner der Herren hatte es bisher für nötig gehalten, nach ihr zu sehen. Langsam wurde ihr so kalt, dass sie überlegte, ihre Kapuze doch wieder überzuziehen. Bisher hatte sie nicht viel von dem Prinzen sehen können, nur, dass er hinkte. Seinen strengen Geruch hatte sie auch als unangenehm empfunden, aber in seltener Großzügigkeit ging sie von einer frischen Verletzung und damit irgendwie zusammenhängender Unmöglichkeit des Badens aus. Solche Verkettung unglücklicher Umstände gab es ja. Schließlich war sie selbst auch unmöglich gewandet und wartete nur auf die Gelegenheit, ihm zu sagen, dass sie nie im Leben freiwillig in Hosen herumlaufen würde.

Sie horchte auf: Pferdehufe klatschten, und Gideons Stimme, die ihren Namen rief, erklang. Kurz überlegte sie, ob sie schweigen sollte, um seine Sorge zu vergrößern. Schließlich hatte er sich unmöglich benommen.

Etwas raschelte neben ihr.

Sie schrak zusammen und rief laut: »Hier! Hier bin ich!«

Genauso furchtsam wie wild sah sie sich nach allen Seiten um, dann hörte sie die nahen Pferde. Noch hingebungsvoller als zuvor beschäftigte sie sich mit ihrem Fuß. Sollten ihre Begleiter ruhig ein schlechtes Gewissen haben. Völlig unverantwortlich war es von ihnen gewesen, sie einfach so sich selbst zu überlassen.

Die Pferde kamen in Sicht, und die Prinzessin sah ihnen entgegen, wollte unbedingt die Wirkung ihrer Erscheinung auf den Prinzen sehen. Die fiel dann allerdings heftiger aus, als sie es sich vorgestellt hatte.

Rhonan erkannte in dem Geschöpf mit den roten Haaren sofort die Frau aus seinem Traum wieder und riss so wild an den Zügeln, dass sein Pferd sich aufbäumte und auf der Hinterhand tänzelte. »Himmel!«, stieß er aus.

Während Caitlin und Gideon ihn nur verblüfft anstarrten, war er versucht, umgehend das Weite zu suchen. Sterben durfte er nicht, aber von einer Katastrophe in die nächste zu schliddern, das erlaubte man ihm schon. Doch wenn er sie jetzt verließ, mussten seine neuen Begleiter wohl oder übel nach Kairan zurückkehren … Bei dem, was sich gerade auf der Ebene abgespielt hatte, ein denkbar gefährliches Unterfangen. Er musste erst einmal durchatmen, bevor er widerwillig sein Pferd auf die Lichtung lenkte. »Hier sind wir nicht sicher. Sagt Eurer Begleiterin, wir müssen weiter«, forderte er Gideon auf.

»Sie ist in Hörweite«, gab der zurück und schüttelte den Kopf.

»Sagt diesem … diesem …, ich habe einen verstauchten Fuß und kann nicht weiter«, keifte Caitlin auch schon.

Der Verianer sah entnervt vom einen zum anderen. Gerade waren Menschen gestorben, und nun stritten sich seine jungen Mitstreiter albern herum.

»Sie soll reiten, nicht gehen!« Rhonan vermied es strikt, die Prinzessin anzusehen, vermittelte ganz den Eindruck, als zählte er die Bäume.

Caitlin legte große Betonung auf ihr erstes Wort, als sie erklärte: »Sie kann auch nicht reiten mit einem verstauchten Fuß, und Ihr seid ein rücksichtsloser Grobian!«

Gideon war mittlerweile abgestiegen und ging mit seinem Medizinbeutel in der Hand auf sie zu. »Wenn Ihr mich an Euren Fuß lasst, kann ich Euch einen schmerzstillenden und stützenden Verband anlegen.«

Die Prinzessin zierte sich erst und zog einen Schmollmund, dann seufzte sie und nickte gnädig. »Aber seht ja nicht hin!«

»Niemals!«, versprach er und fragte sich gleichzeitig, wie er sie mit geschlossenen Augen behandeln sollte. Er senkte den Kopf so weit, dass sie nur noch seinen Haarschopf sehen konnte, und kniff höflich die Augen etwas zusammen.

»Können wir jetzt zurück nach Kairan in das Gasthaus gehen?«, fragte sie, während er ihr den Stiefel auszog. »Nach dieser Kälte täte mir ein Dampfbad gut.«

Er schüttelte den Kopf. »Wir müssen doch ins Wintergebirge, wie ich Euch schon erklärt habe, und der Weg dorthin führt durch diesen Wald. Mir gefällt es auch nicht, aber so ist es nun einmal.«

Er fand nicht den kleinsten Hinweis auf eine Verletzung, hörte auch keinen Protest, als er den Fuß hin und her drehte, legte trotzdem einen Verband an, zog den Stiefel wieder vorsichtig darüber und reichte ihr die Hand.

Caitlin erhob sich unter Stöhnen, humpelte und ließ sich von ihm auf das Pferd helfen. In ihren Augen schimmerten Tränen, und sie bot ein Bild des Jammers. Sie fühlte sich tatsächlich völlig elend, doch nicht wegen Schmerzen im Fuß. Die waren längst verschwunden, obwohl sie tatsächlich umgeknickt war, als sie vom Pferd gesprungen war. Aber man hatte sie schrecklich betrogen: Niemand hatte ihr gesagt, dass der Ausflug so gefährlich und ungemütlich werden würde, und dieser sogenannte Prinz war das Allerletzte! Nie würde sie ihm freiwillig auch nur die Hand geben, aber bedauern sollte er das schon.


Tiefer ging es in den Wald, und Gideon konnte bald verstehen, warum sich Menschen in ihm verirrten. So dicht standen die riesigen Tannen, dass ihre Zweige sich ineinander verwoben, kaum einen Lichtstrahl durchließen und selbst den Schnee aufhielten. Nur wenn die Schneelast zu groß wurde, bogen sich Äste oder brachen ab. Wie ein Wasserschwall ergoss sich dann der Schnee und gefror am Boden zu Eis. Unaufhörliches Knacken und Knirschen begleitete die Reiter, und ein Weg war nicht zu erkennen.

So weit sie ritten, ihre Umgebung änderte sich nicht: weit oben das Dach aus Tannenzweigen, darunter verkrüppelte, kahle Äste und darunter nur noch schlanke Stämme und Eis. Es war Gideon ein Rätsel, wie sich hier jemand zurechtfinden wollte, doch ihr Führer ritt zielstrebig voran. Der Gelehrte fragte sich, je mehr Zeit verging, allerdings, was dieses Ziel wohl sein könnte.

»Ich habe Hunger, und ich habe Durst«, beklagte sich Caitlin vor ihm gerade zum wiederholten Mal. »Außerdem tut mir alles weh. Ich bin Damensättel gewöhnt und nicht diese … diese unbequemen Dinger. Ich kann nicht mehr weiter und verlange eine Rast.« Ihre Stimme war zuvor von Mal zu Mal schriller geworden, aber jetzt klang sie nur noch jämmerlich.

Gideon unterstützte sie daher. »Verfolgt werden wir doch nicht. Könnten wir nicht zumindest eine kurze Rast einlegen? Wir haben seit dem Frühstück nichts gegessen und … ich habe zwar nicht die leiseste Ahnung, wie spät es ist, … aber lang hin bis zum Abend kann es nicht mehr sein.«

»Schon gut«, brummte Rhonan. »Wir kommen gleich an einen See.« Eigentlich war nichts gegen eine Rast einzuwenden, aber er wollte so schnell wie möglich die Sicherheit der Mine erreichen, sich Gideons Geschichte anhören und sich dann wieder verabschieden. Seit er Caitlin gesehen hatte, hatte sich dieser Wunsch um ein Vielfaches verstärkt.

Endlich hatten sie den kleinen See erreicht. Da er von einem Bach gespeist wurde, war er noch nicht ganz zugefroren. Die Tiere des Waldes kamen in den frühen Morgenstunden oder in der Abenddämmerung zur Tränke. Jetzt hatten sie den See und die kleine Lichtung für sich allein. Es hatte mittlerweile aufgehört zu schneien, und die tiefstehende Wintersonne hatte die Wolkendecke durchbrochen.

Gideon genoss nach der langen Dämmerung des Waldes den ersten freien Blick in den Himmel und die Wärme der Sonne, half Caitlin beim Absteigen und breitete fürsorglich eine Felldecke aus. Die Prinzessin sah wirklich erschöpft aus und ließ sich sofort mit einem tiefen Seufzer darauf nieder. Rhonan suchte Zweige und schichtete sie auf, während Gideon in seinen Satteltaschen nach Proviant kramte. Der Prinz hatte Umhang und Schwertgürtel abgelegt und schürte jetzt ein Feuer.

Caitlin hatte das erste Mal Gelegenheit, ihren neuen Begleiter genauer zu betrachten. Die Haare, in sämtlichen Blondschattierungen, die sie kannte, fielen ihm strähnig weit über die Schultern. Das Gesicht war schmal, scharf geschnitten und unrasiert und wirkte herb, eher noch düster. Dieser Eindruck wurde noch durch eine Narbe unterm linken Auge verstärkt. Bemerkenswert waren sicherlich die dunkelgrünen Augen, die sie unwillkürlich an Moos hatten denken lassen. Allerdings wirkten sie seltsam trüb. Der Prinz war groß und breitschultrig, aber sehr schlank, wirkte eher sehnig als kräftig. Die dunkle Kleidung war alt und schäbig. Er trug auch nicht die im Süden gebräuchlichen längeren Kittel und weiten Hosen, sondern unter einer speckigen Weste ein kurzes, vorn geschnürtes Hemd aus grobem Tuch und enganliegende Lederhosen, Kleidung, wie sie von Nordmännern bevorzugt wurde. Sie war genauso ungepflegt wie der Mann, der sie trug. Er hinkte jetzt noch stärker, und seine Bewegungen wirkten unbeholfen. Alles in allem war er tatsächlich nichts weiter als ein heruntergekommener, offensichtlich auch noch trinkender Krüppel.

Er schien zu spüren, dass sie ihn beobachtete, und ihre Blicke trafen sich kurz. Beide sahen sofort wieder weg, und er erhob sich schwerfällig mit den Worten, noch Holz holen zu wollen.

»Ich kann das doch machen«, erbot sich Gideon hilfsbereit. »Ihr seht aus, als würdet Ihr auch Ruhe benötigen. Der Sturz vom Pferd hat Eurem Bein bestimmt nicht gutgetan! Soll ich Euch nicht zumindest helfen?«

»Nicht nötig«, grummelte Rhonan unwirsch und verschwand schon zwischen den Bäumen. Er spürte die Blicke seiner Begleiter im Rücken und war sich mehr als deutlich seines linkischen Ganges bewusst. Wütend schlug er mit der Faust gegen einen Stamm und atmete ein paar Mal tief durch. Sein verfluchtes Bein brauchte dringend Ruhe, aber er brauchte sie noch viel dringender. Er konnte noch nicht einmal sagen, was ihm mehr zusetzte: der angewiderte Blick der Frau oder der mitleidige Blick des Mannes. Er kannte diese Blicke seit Jahren, aber er konnte sich einfach nicht an sie gewöhnen. Das war einer der Gründe dafür, warum er sich gern unter Bettlern, Tagedieben und Talermädchen aufhielt. Dort war er lediglich ein weiterer Krüppel. Missmutig suchte er Äste zusammen. Er hörte Caitlin angstvoll aufschreien, ließ die Äste fallen und hastete zum Rastplatz zurück.

Mit einem brennenden Ast in der Hand versuchte Gideon dort gerade, einen gewaltigen Wolf davon abzuhalten, sich auf die Prinzessin oder auf ihn zu stürzen. Der Verianer fuchtelte wild mit dem Ast vor dem Tier herum und brüllte in einem fort: »Weg du Biest! Weg!«

Die Prinzessin dagegen wirkte wie gelähmt, schaffte es offensichtlich nicht einmal, auf die Füße zu kommen. Nur ihre Stimme schien von der Lähmung verschont geblieben zu sein, denn sie schrie wie am Spieß. Rhonan hatte weder seinen Bogen noch sein Schwert dabei. Zwischen den begehrten Waffen und ihm befanden sich seine bedrohten Begleiter und ihr hungriger Angreifer. Der Wolf knurrte und bleckte die Zähne. Gideon konnte ihn kaum noch auf Abstand halten. Caitlin kreischte, schob sich jetzt aber wenigstens auf Hintern, Händen und Füßen rückwärts. Das Feuer erlosch, Gideons feuchter Ast qualmte nur noch.

Der Wolf zog den Kopf ein und setzte zum Sprung an, als der erste Dolch ihn traf. Er heulte auf, wirbelte noch im Sprung herum und brauchte nur zwei gewaltige Sätze, um den Prinzen zu erreichen und anzuspringen.

Gideon sah noch einen weiteren Dolch aufblitzen, bevor Wolf und Mann in einem einzigen Knäuel zwischen den Bäumen verschwanden. Er suchte in aller Eile einen neuen Ast und hielt ihn ins Feuer. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und das Holz war feucht und wollte nicht entflammen. Heiser bat er: »Komm schon! Brenne!«

»Ihr wollt mich hier doch nicht allein lassen?«, brachte Caitlin aufgelöst hervor.

Aus dem Wald drangen dumpfe Geräusche, wildes Knurren, lautes Keuchen, Stöhnen und ein fürchterliches Jaulen zu ihnen herüber. Winzige Flammen schlugen endlich aus dürren Zweigen.

»Ich komme hoffentlich gleich wieder«, krächzte er. »Wenn noch ein Wolf kommt, schreit einfach!«

»Ich schreie jetzt schon, wenn Ihr geht!« Sie sprang auf und klammerte sich an seinen Arm.

Er entfernte unsanft ihre Hände. »Im Namen der Götter!«

Alle Geräusche waren verstummt.

»Geht nicht! Bitte!«, flehte sie, die nackte Angst in den Augen.

Der Verianer warf ihr einen verzweifelten Blick zu, rannte, den schon wieder erlöschenden Ast schwingend, zwischen die Bäume und stolperte fast unmittelbar über den toten Wolf. »Oh, das ist schon mal gut!«, stöhnte er erleichtert und sah sich um.

Der Prinz stand an einen Baum gelehnt da und sah furchtbar aus. Das Hemd mehrfach eingerissen und dunkel von Blut, Hände und Gesicht blutverschmiert. Einen Ärmel hatte er teilweise abgerissen. Das Stück Stoff hatte er um seinen rechten Unterarm gewickelt und verknotete es gerade mit Hand und Mund.

Gideon schluckte entsetzt. »Ist das alles Euer Blut?«

Rhonan warf ihm einen kurzen Blick zu. »Dann würde ich kaum noch hier stehen.« Die Stimme klang belegt, und der Verianer sah voller Mitgefühl auf den Arm, der jetzt bereits zwei Verbände trug.

»Kann ich etwas für Euch tun?«

»Packt die Sachen! Wir müssen weiter!«

»Wollt Ihr Euch zuvor nicht erst ein wenig ausruhen?« Es war nicht zu übersehen, dass der Prinz zitterte und unter dem Blut totenbleich war.

»Hier ist nicht der geeignete Platz zum Lagern. Nicht einmal Riesenwölfe kommen üblicherweise dem Feuer zu nahe! Der Frost hat dieses Jahr viel zu früh eingesetzt, das Nahrungsangebot ist daher dürftig. Hunger ist eine nicht zu unterschätzende Antriebskraft. Wir müssen in die Mine.«

Gideons flaues Gefühl im Magen verstärkte sich. »Dann reiten wir besser weiter.« Er stand unentschlossen da und sah seinen abweisenden, aber mitgenommenen Begleiter hilflos an. »Kann ich … ich meine, benötigt Ihr vielleicht … soll ich vielleicht …?«

»Könnt Ihr mir Euren Arm leihen?«, unterbrach der Prinz das Gestammel.

Der Verianer kam der Bitte gern und umgehend nach, und Rhonan stützte sich schwer auf ihn.

»Wie weit ist es noch bis zu dieser Mine, von der Ihr spracht?«

»Nicht mehr weit.«

»Und was ist das für eine Mine?«, fragte Gideon weiter.

»Ein sicherer Ort.«


Caitlin stieß einen erschrockenen Schrei aus, als die Männer wieder auf die Lichtung kamen, und schlug die Hand vor den Mund, um ihren Brechreiz zu unterdrücken.

»Das ist Wolfsblut! Wir haben keine Zeit, Prinzessin! Wir müssen schnellstens weiter, bevor noch mehr von diesen Biestern kommen. Fangt an, zu packen!« Gideons Stimme klang immer aufgeregter, da er bereits, während er sprach, entferntes Wolfsgeheul vernahm. Er half seinem Begleiter in den Umhang und führte ihn zum Pferd.

Rhonan zog die Unterlippe ein und nagte auf ihr herum. Die Rothaarige stand jetzt hinter ihm, sah ihm zu, und er wusste nicht, wie er auf das verdammte Pferd kommen sollte. Sein linkes Bein war völlig unbelastbar und …

»Los jetzt!« Der von Furcht getriebene Verianer rammte ihm die Schultern unter den Hintern und schob kräftig. Ihm blieb gar nichts weiter übrig, als zügig die üblichen Bewegungen auszuführen. Der Schmerz raste gleichzeitig vom Knie abwärts bis in den großen Zeh und aufwärts bis in die Haarspitzen, aber immerhin saß er plötzlich im Sattel, musste sich allerdings am Knauf festkrallen, um auch oben zu bleiben. Schweiß brach ihm aus allen Poren, und er knirschte, zumindest für Gideon noch hörbar, mit den Zähnen.

Der zog erneut Marsiskraut aus seinem Säckchen und sah den Prinzen an. »Wird es gehen?«

Rhonan nickte und nahm es wortlos entgegen.

Der Gelehrte nickte ebenfalls, denn schließlich musste es ja weitergehen, und sah sich um. Erstaunt stellte er fest, dass die Prinzessin tatsächlich damit begonnen hatte, in aller Eile und völlig wahllos Nahrung und Kochgeschirr in die Satteltaschen zu stopfen. Es war das erste Mal, dass er sie etwas zumindest annähernd Sinnvolles tun sah. Ihre Schmerzen im Knöchel hatte sie offensichtlich vergessen.

»Ich will nicht in diesem Wald bleiben. Mir ist es hier unheimlich, und ich zittere noch vor Angst«, klagte sie, als sie endlich wieder Gideons Aufmerksamkeit hatte. »Ich will schnell wieder nach Kairan, und dann will ich nach Hause.«

»Das geht nicht, Caitlin«, erwiderte er sanft.

»Ich will aber!«, kreischte sie und schmetterte den Kessel auf den Boden. »Sofort! Ich hab hier nichts verloren.«

Rhonan warf ihr nur einen abschätzigen Blick zu und nahm einen Schluck aus seinem Beutel.

Gideon hob derweil beschwichtigend die Hände. »Ganz ruhig, Prinzessin! Der Rückweg dürfte länger sein als der Weg in diese Mine. Nach Kairan hinein könnten wir es gar nicht mehr schaffen. Die Stadttore werden bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen. Wir sind bald in Sicherheit.«

»Ihr lügt mich nicht an? Je weiter ich komme, desto schrecklicher wird es. Ich würde lieber umkehren.« Zumindest schien sie verunsichert, was die Wegwahl betraf.

Also wurde er noch deutlicher: »Dann müssten wir im Wald übernachten. Ihr schlaft doch nicht gern im Freien, und allein wegen der Wölfe würden auch mir dieses Mal die Knie schlottern. Die Mine, die Prinz Rhonan kennt, ist dagegen völlig sicher. Glaubt mir!«

Er hoffte inständig, dass seine kühne Behauptung sich als wahr herausstellen würde, verstaute auf ihr trostloses Nicken hin hastig die letzten Sachen, goss Wasser übers Feuer, half Caitlin aufsteigen, band die Pferde auf den genuschelten Befehl Rhonans hin aneinander und saß endlich selbst auf dem Pferd.

Weiter ging es in den Wald hinein, weiter und immer weiter. Unter den dichtstehenden Tannenriesen lastete die Dunkelheit so schwer, dass der Gelehrte bald meinte, sie auf seinen Schultern zu spüren. Er verstand auch schnell, warum der Prinz ihn angewiesen hatte, die Pferde aneinanderzubinden, denn keinen seiner Begleiter konnte er noch sehen. Caitlins anhaltendes Nörgeln und Wimmern empfand er schnell als tröstlich, sagte es ihm doch, dass er nicht so allein war, wie er sich fühlte. Ihren Führer anzurufen hatte er aufgegeben, denn der Prinz antwortete längst nicht mehr. Gideon hoffte nur, dass er noch bei Besinnung und nüchtern genug war, um sie zu führen. Selbst wenn er sich nicht im Entferntesten vorstellen konnte, wie jemand hier einen bestimmten Weg finden wollte. Immer häufiger heulte es irgendwo, und die Pferde wurden spürbar unruhig. Feuchte Kälte schlich sich unter den Mantel, jedes kleine Geräusch ließ ihn sich hektisch umsehen, und jedes schwärzere Schwarz nahm in seinen Augen die Umrisse eines Wolfs an und ließ sein Herz rasen.

Als er gerade überlegte, ob er versuchen sollte, nach vorn zu gelangen, um nach dem Prinzen zu sehen, blieb sein Pferd neben Caitlins stehen, und das Feuer einer Fackel flammte vor ihm auf. Gideon konnte wieder einen Stern sehen, die Sichel des Mondes und dann auch schemenhaft seinen Führer, der an einer Felswand etwas zu suchen schien.

»Was macht er da?«, jammerte Caitlin neben ihm. »Ich erfriere, und der kratzt am Stein rum! Ich hatte gedacht, hier wäre eine Mine. Dass er sie erst graben will, hätte er vorher sagen müssen. Aber betrunken, wie der ist, macht das für ihn wohl keinen Unterschied. Oh, ist das alles grauenhaft.« Nahes Geheul ließ sie schluchzen, schniefen, jammern und klagen … alles gleichzeitig und alles laut.

Der Verianer war schon auf dem Weg zum Prinzen, als sich vor ihm geräuschvoll eine Steinplatte zur Seite bewegte. Erschrocken stieß er einen Schrei aus, aber Rhonan hinkte schon, schwer auf sein Pferd gestützt, in den Gang, der dahinter verborgen war. Das Licht der Fackel ließ die Wände gelb schimmern.

»Jaspis-Stein!«, hauchte Gideon genauso überrascht wie verzückt. »Diese Mine ist ein Vermögen wert. Aber, das mit dem Stein, wie geht …«

»Lasst mich rein!« Caitlin schubste ihn zur Seite, stolperte hinter dem Prinzen her und kreischte: »Geht das nicht schneller? Schon vergessen? Draußen sind Wölfe.«

Rhonan musste sich darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen, beachtete sie daher gar nicht, entzündete eine Wandfackel und rief über die Schulter zurück. »Da ist rechts ein eckiger Stein. Drückt ihn in die Wand!«

Gideon musste nicht lange suchen, wartete, bis alle Pferde drinnen waren, und drückte auf den Stein. Die Platte glitt vor den Eingang und schloss die Kälte aus. Tatsächlich wurde es immer wärmer, je weiter sie kamen, und in der Höhle, die sie betraten, war es so warm, dass Gideon sofort die Handschuhe abstreifte und den Mantel öffnete. Rhonan lehnte an der Wand und hielt ihm wortlos die Fackel hin. Als der Gelehrte alle Wandfackeln entzündet hatte, hätte er am liebsten gejubelt.

Annähernd vier Pferdelängen in Länge und Breite maß die Höhle. Grauschwarzer, behauener Stein umgab sie, dessen Jaspis-Einlagerungen den Raum in ein sanftes gelbes Licht tauchten. Gestapelte Felldecken, ein Bratgestell mit Resten von Feuerholz, Töpfe, Krüge und Schürfwerkzeuge zeugten von ehemaligen Besuchern. Er zog seinen Mantel aus und strahlte übers ganze Gesicht. Hatte er doch lediglich auf Sicherheit gehofft, doch hier gab es Wärme und fast so etwas wie Behaglichkeit dazu. »Wieso ist es hier so warm?«, fragte er genauso begeistert wie verwirrt.

Der Prinz wies mit der Hand in einen Gang. »Heiße Quelle.«

Diese Worte schienen die Prinzessin zu beleben. »Hier gibt es heißes Wasser?« Nur einen Wimpernschlag später eilte sie in den Gang.

»Das ist phantastisch! Woher kennt Ihr diese Mine?«, wollte Gideon wissen.

»Von den Tempelwächtern. Da rechts ist eine Höhle, in die Ihr die Pferde bringen könnt.« Rhonan rutschte an der Wand nach unten, bis er saß, und streckte sein Bein aus, während Caitlin wieder in den Raum gefegt kam und ihren Mantel achtlos zu Boden warf. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Es sprudelt einfach aus dem Felsen, fließt durch ein Becken und verschwindet dann wieder im Felsen. Kann ich im Becken baden? Ich bin halb erfroren, und das Wasser ist herrlich. Ich würde mich gern darin aufwärmen, aber es darf mich keiner stören.«

Gideon warf einen Blick auf den Prinzen. Der zeigte keinerlei Regung, und der Verianer nickte. »Macht ruhig. Es stört Euch keiner. Versprochen!« Schon war sie wieder weg. Was wohl bedeutete, dass sie sich im Notfall allein entkleiden konnte.

Der Gelehrte brachte erst einmal die Pferde in die angrenzende Höhle. Begeistert betrachtete er hier das Räderwerk aus ineinandergreifenden Zahnrädern und Seilen, das wohl die Steinplatte bewegte. Die Tempelwächter mussten hervorragende Baumeister gewesen sein. Seine Finger strichen über die hölzernen Räder, um zu ergründen, welchen Weg die Seile nahmen, als ein Wiehern ihn an nicht so interessante, jedoch wichtigere Dinge erinnerte. Er wandte sich um, klopfte einem Hengst entschuldigend an den Hals und versorgte die Tiere. Mühsam streckte er nach Absatteln, Trockenreiben und Hafergeben seine steifen Glieder. So erschöpft wie heute war er noch nie zuvor gewesen, so hungrig und so voller Furcht auch nicht. Eine schlimme Ahnung davon, was ihnen bevorstand, ließ ihn trotz der Wärme frösteln. Er seufzte, zuckte gottergeben die Achseln und machte sich wieder auf den Weg zurück.

Der Prinz saß noch immer in derselben Haltung da, hatte die Augen geschlossen, war unter der Kruste aus Blut und Dreck kaum noch zu erkennen und wirkte nahezu leblos. Auf Gideons Frage, ob er gefahrlos ein Feuer entzünden könnte, brummte er irgendetwas von natürlichen Lüftungsschächten.

Der Verianer zog seine kleine Eisenzange mit Feuerstein aus der Satteltasche, entfachte ein Feuer, breitete die Zutaten für eine Linsensuppe, Brot und Trockenfleisch aus und machte sich an die Zubereitung der Mahlzeit. Er kannte Rezepte für feinste Gerichte, war jedoch froh, hier nur schlichte Eintöpfe zubereiten zu müssen. Das würde ihm hoffentlich auch ohne jegliche Kocherfahrung gelingen. Die Beschäftigung mit solch schlichten Dingen brachte ihm allmählich die innere Ruhe zurück.

Der Prinz bediente sich derweil mehrfach aus seinem Beutel.

»Wenn Ihr Durst habt, solltet Ihr lieber auch einmal Wasser trinken«, gab Gideon zu bedenken. »Das ist doch, dem Geruch nach zu urteilen, Branntwein. Wenn Ihr nicht über eine ausgesprochen vertrauenswürdige Bezugsquelle verfügt, könnt Ihr gar nicht wissen, was alles in dem Zeug drin ist.«

»Bisher hatte ich keine Schwierigkeiten«, erwiderte Rhonan.

»Da hattet Ihr Glück! Ich habe schon sehr üble Geschichten gehört.« Er hängte einen Kessel übers Feuer und sah seinen neuen Begleiter an. Dessen Gesichtszüge wirkten völlig verkrampft. »Ihr seht entsetzlich aus, und die Verbände sind durchgeblutet. Darf ich mich jetzt darum kümmern? Ich bin Verianer und kenne mich ein wenig aus in der Heilkunst.«

»Ihr seid ein Verianer? Wie alt seid Ihr?«, fragte Rhonan und ging damit lediglich auf eine der Bemerkungen ein.

Der grinste breit. »Dreiundsechzig! Ich könnte Euer Großvater sein. Ihr könnt mir also vertrauen und mir auch sagen, was mit Eurem Bein ist.«

Eine Antwort erhielt er – wie erwartet – nicht und unternahm einen neuen Versuch, während er im Feuer stocherte, um die Flamme zu verstärken. »Oh, bitte, nun seid doch nicht so stur! Oder habt Ihr vielleicht gern Schmerzen? Ich frage doch nicht aus Neugier, ich will Euch helfen. Aber ich kann Euch erst sagen, ob ich etwas zu tun vermag, wenn Ihr mir sagt, was die Ursache Eures Hinkens ist. Es wird doch eine Verwundung und kein Geburtsfehler sein.«

Der Prinz sah ihn müde an, bedauerte, dass er nicht in der Verfassung war, einfach aufzustehen und zu gehen, und antwortete nur, weil er davon ausging, der Gelehrte würde sonst ewig weiterfragen: »Hab eine Pfeilspitze nicht ganz herausbekommen. Hatte keinen Dolch bei mir.«

Seiner Erklärung folgte eine kurze Stille, in der Gideon, der Gelehrte, stumpfsinnig sein Gegenüber anstarrte, bevor er Rhonans Antwort wiederholte: »Ihr wolltet selbst … und hattet keinen … das ist ja … das ist … bei allen Göttern!« Der Verianer räusperte sich unbehaglich, schüttelte sich in Gedanken und fuhr dann möglichst nüchtern fort: »Kein Wunder, dass Ihr Schwierigkeiten habt! Wie lange steckt sie schon in Eurem Bein?«

»Vier Jahre, so ungefähr.«

»Vier Jahre?«, keuchte Gideon. »Welch Schindluder treibt Ihr mit Eurem Körper? Vier Tage wären schon zu viel gewesen.«

Zumindest darin stimmte Rhonan ihm zu, denn die Hoffnung, das blöde Ding könnte sich irgendwann als normaler Bestandteil in sein Bein einfügen, hatte er längst aufgegeben. Vielleicht … Er kniff die Augen zusammen. »Könntet Ihr sie rausholen?«

»Ich?« Das war die Krönung eines grauenvollen Tages! In dem Verianer drehte sich alles. Suppe und Feuer waren vergessen. Mit leerem Blick starrte er sein Gegenüber an.

»Würdet Ihr es zumindest versuchen?«

Gideon schluckte schwer, einmal, zweimal, dreimal. Ein Feuerfunke sprang ihm auf den Ärmel, aber er bemerkte es nicht. »Ihr meint doch nicht hier und jetzt?«

»Warum nicht? Ich treffe nicht oft Heilkundige … zumindest keine, denen ich trauen könnte. Mein Kopfgeld ist hoch, und allein mein Schwert dürfte mehr wert sein, als ein Heilkundiger in einem Jahr einnimmt.« Vielleicht brachte ihm das Treffen mit diesen seltsamen Leuten ja doch noch einen Vorteil. Vielleicht war das sogar der Grund, weshalb er sich mit diesem Mann treffen sollte.

Dem brach gerade der Schweiß aus. »Ich kenne mich mit Kräutern und Salben aus. Ich kann Wunden versorgen und habe auch über Eingriffe gelesen, aber ich habe selbstverständlich noch nie welche durchgeführt! Wie denn auch … wo denn auch? Dafür bin ich nicht einmal ausgerüstet!«

Der Prinz griff in einen Stiefel und warf ihm einen Dolch hin. »Jetzt schon!« So unbeteiligt sah er drein, als hätte er Gideon ein Messer zum Zwiebelschälen hingeworfen.

»Das kann nicht Euer Ernst sein«, widersprach der und starrte erst die blitzende Klinge zu seinen Füßen und dann sein Gegenüber an. Ein dümmliches Kichern entschlüpfte seinen Lippen. »Ich kann doch nicht … Ihr könnt nicht wirklich wollen … Das ist … Das ist Irrsinn!«

»Schon gut! Vergesst es!« Rhonan schloss wieder die Augen und sackte in sich zusammen.

Der Verianer starrte ihn unablässig an und dachte an die unwegsame Strecke, die vor ihnen lag, an die Aufgabe, die es zu bewältigen galt. Er dachte daran, dass sie auch weiterhin auf die Kampfkunst ihres Gefährten angewiesen sein würden. Er dachte auch daran, dass Wissen ziemlich unnütz war, wenn man es nicht einmal im Notfall anwenden wollte. Trotzdem musste er sich zu seinen nächsten Worten durchringen. »Seid Ihr sicher? Ich müsste doch … und ich habe nichts Stärkeres zur Betäubung dabei«, sagte er und spürte einen Kloß im Hals.

»Sieht nach schlechtem Wetter aus, und wir haben im Augenblick doch sonst nichts zu tun.« Rhonans grüne Augen strahlten annähernd Belustigung aus.

»Euch wird das Lachen noch gründlich vergehen«, orakelte Gideon düster.

Rhonan nickte und senkte wieder die Wimpern. »Vermutlich.«

Gideon öffnete den Mund und schloss ihn wieder, denn Caitlin schwebte in die Höhle.

»Oh, das war himmlisch«, schwärmte sie. »Es sprudelte und prickelte. Ich fühle mich wie neugeboren!« Sie schüttelte ihre Haare, so dass Wasser nach allen Seiten wegspritzte, lachte auf, sah auf das Lagerfeuer und fügte ernüchtert hinzu: »Das Essen ist nicht fertig. Dabei habe ich mir so viel Zeit gelassen. Ich gebe mir die größte Mühe, meine schreckliche Lage zu meistern, und ich finde, ich mache das sehr, sehr gut, aber ein klein wenig Unterstützung kann ich wohl erwarten! Ihr wusstet doch, dass ich hungrig bin.« Ihr Ärger wuchs, als keiner der Männer sie auch nur beachtete.

Gideon starrte auf den Dolch zu seinen Füßen und schüttelte immer wieder den Kopf. »Oh Götter, sagt mir doch, was ich tun soll?«, flehte er.

»Holz nachlegen«, erklärte Rhonan anstelle der Götter. »In irgendeinem Gang dürfte noch welches liegen. Ich hab nur vergessen, in welchem. Lasst die Frau das Holz holen, und helft mir zur Quelle.«

Jetzt reichte es! Caitlin stampfte mit dem Fuß auf und schnaubte: »Das ist unglaublich! Ich soll schuften, und der feine Prinz gibt nur Befehle und benötigt auch noch einen Diener?«

Der feine Prinz beachtete sie auch weiterhin nicht, was ihre Wut noch weiter anheizte. »Wärt Ihr ein wahrer Prinz, wüsstet Ihr Euch besser zu benehmen!«

»Bestimmt«, gab Rhonan ungerührt zu und sah an sich herunter. »Aber meint die wahre Prinzessin nicht auch, ich sollte mich vor dem gemeinsamen Mahl säubern?«

Sie trug eine nicht besonders kleidsame Fellhose und ein unförmiges Oberteil aus mehreren Lagen Wolle, trotzdem hätte niemand sie für etwas anderes als eine Adlige halten können. Sie stand kerzengerade, während sie ihn langsam von oben nach unten und wieder zurück musterte, stemmte die Hände auf die Hüften und erweckte nicht den Eindruck, als wolle sie ihm zustimmen.

Also erhob Gideon sich und ging Holz holen, bevor die Glut erlosch.

»Ihr wollt Euch säubern?«, fragte sie derweil. »Woher dieser Sinneswandel? Das bisschen Dreck konnte Eurer Erscheinung nun wirklich nichts mehr anhaben. Glaubt Ihr ernsthaft, lediglich ein Bad würde aus Euch einen annehmbaren Tischnachbarn für mich machen?«

Rhonan zählte stumm bis zehn, bevor er erwiderte: »Vermutlich nicht.«

»Sogar ganz sicher nicht! Ich habe schon Ziegen gesehen, die ein gepflegteres Äußeres hatten als Ihr.«

»Und mit denen habt Ihr dann zusammen gegessen?«

Caitlin schrie empört auf. »Das ist ungeheuerlich! Warum unterhalte ich mich eigentlich mit Euch? Ihr seid doch nichts weiter als ein betrunkener, völlig heruntergekommener, ungehobelter …« Sie hielt inne und atmete schwer.

»Krüppel?«, half er aus und musterte sie.

Gideon kam zurück, verdrehte die Augen und schichtete das Holz auf. Seine Begleiter nahmen ihn gar nicht wahr.

»Oh danke!«, zischte die Prinzessin gerade. »Krüppel war das Wort, das ich suchte. So etwas wie Ihr würde nicht einmal auf die Nebelinsel gelassen werden, geschweige denn in unser Schloss!«

»Ihr seid eine Nebelhexe?«, entfuhr es ihm. Jetzt war ihm auch nach Schreien zumute. Tagelang hatte er sich dagegen gewehrt, von ihnen aufgespürt zu werden, hatte ihretwegen nächtelang kaum geschlafen, und jetzt reiste er mit einer von ihnen durchs Land. Aber zumindest ahnte er nun, warum der Ketzerjäger ihm auf den Fersen war. Der machte wohl einmal mehr gemeinsame Sache mit den undurchsichtigen Nebelhexen. Entweder nahm er die durch die Prinzessin größer gewordene Gefahr, erneut in Ligurius’ Folterkammern zu landen, auf sich, oder er räumte sie aus dem Weg. Wie von selbst hatte sich seine Hand um einen Dolch im Gürtel gelegt: Ein Wurf, und die Gefahr wäre gebannt! Sein Griff lockerte sich wieder. Er war zwar tief gesunken, aber so tief, ein wehrloses Mädchen zu töten, dann doch nicht.

»Hexe?«, kreischte Caitlin, die keine Ahnung hatte, wie nah sie eben dem Tod gewesen war, gerade zum dritten oder vierten Mal. »Wie könnt Ihr es wagen? Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Eure Worte noch bitter bereut!«

Rhonan bereute jetzt schon, allerdings nicht seine Worte, sondern dass er diese Reise überhaupt angetreten hatte.

»Hat es Euch die Sprache verschlagen?«, fragte sie und rümpfte triumphierend die Nase.

Er schwieg tatsächlich, und Gideon sah vom Kessel hoch. »Die Suppe ist fertig.« Mit diesen Worten hielt er Caitlin schon eine Schale hin.

»Oh danke«, säuselte sie, während sie sich auf eine Decke setzte und sich Brot reichen ließ. »Ihr seid sehr freundlich. Es ist gut zu wissen, dass es noch Menschen gibt, die nicht nur an sich selbst denken.« Sie war sofort mit dem Essen beschäftigt, so dass ihr die ungläubigen Blicke ihrer Begleiter entgingen.

Der Prinz aß nur wenig, und auch Gideon hatte seinen großen Hunger verloren. Vor wenigen Tagen noch hatte er gedacht, dass es viel Langeweile mit sich brachte, sein Leben ganz den Schriften zu widmen. Je mehr er gelesen hatte, desto mehr hatte er befürchtet, das wahre Leben zu versäumen. Wenn das jetzt das wahre Leben war, zog er doch die Bücher vor. Aber gerade weil er so viel gelesen hatte, wusste er, was er bei der anstehenden Arbeit alles falsch machen konnte. Ein falscher Schnitt konnte dazu führen, dass das Bein für immer steif blieb. Eine Entzündung, gegen die er hier nur wenig ausrichten konnte, konnte zum Tod führen. Was hatte er sich nur dabei gedacht, so vorschnell seine Dienste anzubieten? Aber konnte er jetzt noch einen Rückzieher machen? Vor ihm saß der einzige überlebende Nachkomme des da’Kandar-Geschlechts. Ein Fehler von ihm, und es würde gar keinen mehr geben. Das wäre das Ende der Prophezeiung. Er seufzte aus tiefster Brust. Die Begründung für sein Angebot war trotz aller Überlegungen leider auch noch vorhanden: Der vor ihnen liegende Weg war nicht dank göttlicher Fügung plötzlich kürzer, unbeschwerlicher oder ungefährlicher geworden.

Rhonan bemerkte die steigende Unruhe des Verianers. Noch mehr Zeit zum Überlegen, und der Gelehrte würde seine Heilkunst für sich selbst benötigen. »Seid Ihr bereit?«, fragte er deshalb.

Gideon schrak zusammen, stieß die Luft aus und nickte. Jetzt oder nie! Er half seinem Begleiter hoch und stützte ihn beim Gehen.

Caitlin sah den beiden hinterher, griff sich noch ein Brot und hoffte, dass durch ein Bad zumindest der bestialische Gestank verschwinden würde. Während sie aß, überlegte sie, ob sie Verbindung zu ihrer Mutter aufnehmen sollte, um die Erlaubnis zu erbitten, die Reise abbrechen zu dürfen. Zwar hatte sie Gideon versprechen müssen, es nicht zu tun, weil sie »ganz geheim« reisen mussten. Aber wenn sie sie ohnehin nicht weiter begleiten würde, war das schließlich belanglos. Sie war fast erschlagen und heute fast gefressen worden. Niemand konnte von ihr erwarten, dass sie noch mehr ertrug. Wütend schmiss sie ihr letztes Stückchen Brot gegen die Wand, denn ihre Mutter würde nie ein Einsehen mit ihr haben. Eher würden auf der Nebelinsel Witze über die arme Caitlin gemacht werden, die jetzt sicher bedauerte, die magischen Lehren vernachlässigt zu haben. Sasha und selbst Java, ihre jüngste Schwester, hätten die Banditen und den Wolf vermutlich eingeäschert. Nein, Verständnis durfte sie nicht erwarten, und für Belustigung wollte sie nicht sorgen. Wahrscheinlich waren schon Wetten im Umlauf, wann sie kleinmütig um Hilfe bitten würde. Da sie ohnehin keine erwarten durfte, würde sie auch nicht darum bitten. Oder vielleicht doch? Schließlich hatte ihre Mutter von Latohor gesprochen, und jetzt saß sie in Begleitung eines klapprigen Gelehrten und eines humpelnden Säufers in einem kalten und unheimlichen Wald fest. Gute Erfahrungen sorgen lediglich für unser Wohlbefinden, aber schlechte Erfahrungen lassen uns reifen! Einer von Ayalas Lieblingssprüchen fiel ihr ein. Nun gut! Ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als zu reifen und zu hoffen, dass die Reife nicht in Fäulnis endete.

Eine Weile starrte sie mit leerem Blick vor sich hin, dann erhob sie sich gähnend, stellte ihre Schale ans Feuer und bereitete sich ganz allein aus Felldecken ihr Lager. Dabei stellte sie fest, dass ein Fingernagel abgerissen war und nun richtig hässlich aussah, so wie abgeknabbert. Sie hasste diese gefährliche und ungemütliche Welt außerhalb der Nebelinsel und brach in Tränen aus.

Etliche Zeit später, nachdem die letzten Tränen längst versiegt waren, kam Gideon zurück, kramte seinen Medizinbeutel aus dem Wandersack und steckte einen Dolch ins Feuer.

Caitlin, die sich in Felle gekuschelt hatte, sah ihm verwirrt zu.

Bevor sie aber etwas fragen konnte, kam der Verianer ihr zuvor. »Gut, dass Ihr noch nicht schlaft. Ihr seid doch eine Magierin und versteht Euch sicher auf die Heilkunst. Der Prinz hat eine Pfeilspitze im Bein. Könntet Ihr mir beim Entfernen zur Hand gehen?«

»Ich?« Schrill lachte sie auf. »Niemals!«

Er hatte mit nichts anderem gerechnet, sogar den Tonfall hatte er vorhergesehen. »Bitte, Prinzessin! Ich kann die Spitze nicht ertasten und kann doch nicht das halbe Bein aufschneiden, um sie zu suchen. Ihr könntet sie gewiss spüren. Versucht es zumindest! Es ist wichtig für uns alle. Bitte, gebt Euch einen Ruck!«

Die Prinzessin senkte den Blick und erklärte: »Selbst wenn ich wollte, könnte ich Euch nicht helfen, ich kann nämlich kein Blut sehen. Mir wird dann immer schlecht.«

»Es ist ja gar kein Blut da«, gab Gideon zurück. »Ihr braucht also gar keine Angst zu haben. Ich weiß, Ihr mögt ihn nicht, aber Ihr wollt doch sicher auch nicht, dass er Euretwegen unnötige Schmerzen hat.«

»Warum sollte mich das kümmern? Mein verstauchter Knöchel war ihm doch auch gleichgültig«, gab sie zurück.

Der Verianer betrachtete ihr trotziges und unglaublich junges Gesicht und verzichtete auf jede vernünftige Argumentation. »Ja, er ist wirklich unfreundlich und ungehobelt, aber er verfügt auch nicht über Eure königliche Erziehung. Die hörte bei ihm ja schon im achten Lebensjahr auf. Seitdem lebte er … irgendwo. Sein Gossengebaren werden wir ihm schon abgewöhnen. Ihr könntet damit den Anfang machen und ihm jetzt zum Beispiel zeigen, wie überlegen Eure vornehme Denkweise ist. Gerade weil er mir bereits versichert hat, dass Ihr nie zur Hilfe bereit wärt, würde er wohl ins Grübeln kommen.« Er kam sich selbst ein wenig schäbig vor, weil er gelogen hatte, aber es wirkte.

Caitlin dachte nach, erfreute sich an dem Gedanken, dass dieser unverschämte Kerl sich gleich bei ihr bedanken musste, nickte und erhob sich ausgesprochen würdevoll. »Ist das Bein bedeckt?«

»Was? Nein, natürlich nicht!«

»Dann müsst Ihr mich führen: Ich bin Priesterin und werde in diesem Fall selbstverständlich die Augen schließen. Ich benötige schließlich nur meine Hände.«

»Wunderbar!«, jubelte Gideon und rollte mit den Augen.

Rhonan hatte zwar kein Wort darüber verloren, hätte aber tatsächlich nie geglaubt, dass der Verianer die Hexe zur Mithilfe würde überreden können, und fragte sich, wie der Gelehrte das wohl angestellt hatte. Dann blinzelte er ungläubig. Hatte sie wirklich die Augen geschlossen? Dieses seltsame Mädchen war in der Tat kaum zu überbieten.

Gideon warf ihm nur einen beredten Blick zu, zuckte die Achseln und half Caitlin, sich hinzuknien.

Rhonan schob sich wieder seinen Gürtel zwischen die Zähne, denn es hatte höllisch weh getan, als Gideon das ohnehin schmerzende Bein abgetastet hatte.

Caitlin hielt ihre Hände mit gespreizten Fingern vor sich, verharrte und hoffte, keinem würde auffallen, dass einer ihrer Nägel kürzer war.

»Das Bein liegt auf dem Boden direkt vor Euch.« Gideon wartete, nahm schließlich die Hände und legte sie entschlossen oberhalb des Knies auf eine gezackte Narbe. »Hier irgendwo muss der Übeltäter sein. Gebt Euer Bestes! Ich bin sofort zurück.« Bei diesen Worten erhob er sich wieder, um das Messer zu holen.

Federleicht glitten ihre Hände über Knie und Oberschenkel. Der Prinz entspannte sich ein wenig und nahm den Gürtel aus dem Mund. Sie dagegen stöhnte plötzlich auf. »Oh, wie furchtbar! Ich spüre Hitze und Schmerzen.«

»Welch umwerfende Erkenntnis«, murmelte Rhonan.

»Seid einfach still!«, forderte Gideon, der schon wieder hinter ihr stand, den glühenden Dolch in der Hand. »Weiter, Prinzessin! Oh, bitte nicht aufhören! Beachtet sein dummes Geschwätz einfach nicht!« Er starrte auf das Bein, das zwar unnatürlich rot und geschwollen, aber ansonsten völlig unversehrt aussah. Es erschien ihm plötzlich unmöglich, einfach hineinzuschneiden. Immer wieder musste er seine feuchten Hände an seinem Hemd abwischen. Der Dolch wanderte von der einen zur anderen Hand und wieder zurück.

»Könnt Ihr sonst noch etwas spüren?«, fragte er.

Sie schien ihn nicht zu hören, sondern in eine Art Trance verfallen zu sein, verkrampfte sich aber plötzlich sichtbar und keuchte laut auf. »Es sticht, es … Ich will das nicht. Genau hier ist der Ursprung!«

»Sicher?«

Sie nickte nur wild.

»Danke, Caitlin! Haltet jetzt das Bein unten«, befahl der Verianer. »Es muss ganz ruhig liegen. Bereit?«

Rhonan nickte und griff wieder zum Gürtel.

»Nein! Was soll das? Ich …«, keuchte die Prinzessin.

»Festhalten!«, brüllte Gideon. »Sonst sind wir beide bald schutz- und führerlos in diesem Wald gefangen.«

»Oh nein, oh nein«, jammerte die Prinzessin. »Ich will das nicht.«

»Ihr müsst!«

»Göttin, steh mir bei!« Ihre Stimme klang atemlos.

Der Verianer dagegen hielt den Atem an, setzte den Dolch an und stach zu. Der erste Schnitt war getan. Warm lief Blut über seine Finger. Er biss sich auf die Lippe, konnte gar nicht glauben, was er da gerade tat, und musste sich dazu zwingen, tiefer zu schneiden.

Caitlin drückte, so fest sie konnte, die Augen weiterhin geschlossen. Sie sah nichts, spürte jedoch, wie die Klinge ins Fleisch schnitt, und hielt ebenfalls die Luft an. Sie hörte Stöhnen, und Übelkeit stieg in ihr hoch. Entweder wurden ihre Hände feucht oder das Bein oder beides. Ihre Hände rutschten ab. »Oh heilige Myria!«

»Haltet das Bein ruhig! Ich muss dicht am Knochen sein. Nicht zucken jetzt, Rhonan! Ich glaub, ich hab’s gleich!« Gideons Stimme war nur noch ein Krächzen.

Caitlin nahm die zunehmende Verspannung der Muskeln wahr, versuchte, die Schmerzen, die sie spürte, zu verdrängen, und atmete so schnell und heftig, als läge sie in den Wehen.

Der Verianer tastete sich verbissen weiter und meinte endlich, einen Fremdkörper zu fühlen. Das Messer rutschte ab. Ein Beben ging durch das Bein und den ganzen Körper. Caitlin schrie, und der Prinz keuchte laut auf. Dessen Gesicht war völlig verzerrt, und er hatte die Augen jetzt ebenfalls zusammengekniffen. Schweißtropfen oder Tränen liefen ihm übers Gesicht, der Gürtel in seinem Mund wippte.

Der Gelehrte schluckte und blinzelte sich Schweiß aus den Augen. Seine Hände zitterten leicht. Fast gegen seinen Willen führte er das Messer erneut in die Wunde, tastete mit dem Finger an der Klinge entlang. Sehen konnte er nur noch Blut. Der Körper des Prinzen bog sich durch, das Bein blieb jedoch ruhig. Er hörte Caitlin schniefen, und das gepresste Stöhnen des Prinzen hallte wie Donner in seinen Ohren.

Da war es wieder, das harte Etwas! Behutsam schob er das Messer darunter, legte den Finger darauf und zog vorsichtig. Er starrte auf das Blut, das aus der Wunde floss, und dann auf die Klinge. »Bei allen Göttern! Hier ist sie! Ich glaub es nicht! Sie ist draußen. Rhonan, lebt Ihr noch?« Der Verianer ließ sich nach hinten fallen, spürte ein Zittern überall und seufzte erleichtert.

Caitlin sackte zusammen, öffnete zaghaft die Augen und fragte: »Ist es überstanden?«

Der Gelehrte raffte sich wieder auf. »Ja, Prinzessin! Jetzt muss nur noch genäht werden. Das kann ich aber allein.«

Sie nickte erleichtert und drehte sich zu Rhonan um, um sich dessen Dank abzuholen. Der hatte immer noch die Augen geschlossen, war in Schweiß gebadet und nahm gerade mit unsicheren Händen den Gürtel aus dem Mund. Die Prinzessin floh, so schnell sie konnte, aus dem Raum.

Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
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