20. Kapitel
Derea erwachte und sah über sich das schrumplige Gesicht einer sehr alten Frau.
Die Alte lächelte und entblößte dabei kleine braune Zahnstumpen. »Na! Wieder bei uns, Hauptmann?«
»Wo bin ich?« Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen, und sie hielt ihm unverzüglich einen Becher an die Lippen. Er hatte wahnsinnigen Durst, aber es schmeckte grässlich. Er drehte das Gesicht weg und verzog es angewidert.
Was sie dazu veranlasste, meckernd aufzulachen. »Nicht unbedingt lecker, aber gut für dich: Ziegenblut mit Honig! Ochsenblut wäre besser gewesen, aber einen Ochsen hatten wir leider nicht. Du hast viel Blut verloren, Jungchen.«
Derea konnte mit Müh und Not seinen Brechreiz unterdrücken, bemerkte erst jetzt, dass er mit Seilen ans Bett gefesselt war, und fragte erneut, diesmal ziemlich unbehaglich: »Wo bin ich? Wer seid Ihr?«
»Du bist im Grenzland nach El’Maran, und ich bin Marlena, Junas Großmutter.«
Sein trüber Blick glitt durch die Lehmhütte, die kaum etwas anderes beherbergte als das Bett, auf dem er lag, einen Tisch mit vier Stühlen, eine Feuerstelle und Unmengen von getrockneten Kräutern und Tontöpfen. Ein kleines Fenster war halb mit Leder verschlossen, und nur wenig Tageslicht drang durch den offenen Spalt und die Ritzen in der Tür.
Sein Gehirn arbeitete nur schwerfällig und wollte kaum mehrere Gedanken aneinanderreihen. »Junas Großmutter? Wo ist sie?«, wollte er schließlich wissen.
»Jagen. Wie fühlst du dich, Junge?«
Er musste erst einmal darüber nachdenken. »Schwer und heiß.«
Die Antwort entlockte ihr wieder ein Lachen. »Deine Armwunde war böse entzündet. Hattest hohes Fieber. Jetzt bist du aber übern Berg und kannst dich dafür bei Juna bedanken. Das Mädel hat dich hergebracht, was ihr bedeutend leichter gefallen wäre, wenn du ihr die verfluchte Kette abgenommen hättest. Zwei Tage und Nächte hast du mit dem Tod gerungen, und glaub mir, das ist nicht übertrieben. Stand ein paar Mal auf der Kippe. Dein Starrsinn hätte dich leicht das Leben kosten können.«
Derea konnte keine Dankbarkeit empfinden, da er seiner jetzigen Lage nichts Tröstliches abgewinnen konnte, und schwieg.
»Deine Rippen und die ganzen Prellungen konnten wir in der Zwischenzeit heilen. Beim Arm wird es noch etwas dauern. Wir mussten die Wunde lange offen halten, damit die Schädlinge hinausfließen konnten. Wir haben sie gelockt, konnten aber nicht sehen, ob dich alle verließen. Schmerzt er noch arg?«
Er schüttelte nur müde den Kopf.
»Das ist gut. Dann wird er heilen. Sei froh, dass du ihn noch hast! Die Axt lag schon bereit, und wäre es nach mir gegangen, hätte ich sie auch benutzt.«
Die klapprige Holztür wurde geöffnet und quietschte laut.
Juna kam mit einem Hasen und einem Korb voller Kräuter herein. »Nachtblüte hab ich nur zwei finden können, Großmutter. Reichen die?«
»Müssen sie ja wohl. Wir haben noch Ziegenblut, und das Jungelchen ist schon wieder ganz gut beisammen.«
Juna legte ihre Errungenschaften auf dem Tisch ab und sah zum Bett. »Oh, Ihr seid wach?«
Mit einem Lächeln trat sie ans Lager, und er sah ihr mit gemischten Gefühlen, von denen Argwohn allerdings das stärkste war, entgegen.
Offensichtlich spiegelten sich seine Gefühle in seinem Gesicht wider, denn sie lachte laut auf. »Ihr fragt Euch jetzt, was zwei Hexen wie wir mit Euch anstellen werden, stimmt’s, Hauptmann? Durch Fieber geschwächt, gefesselt, wehrlos – völlig hilflos seid Ihr uns ausgeliefert. Ein wirklich erschreckender Gedanke, nicht wahr? Hylia hat auch bestimmt nicht übertrieben, als sie Euch von meiner Vorliebe dafür, andere Menschen zu quälen, erzählte. Sie ist sehr gewissenhaft. Der gute Prinz hätte Euch auch davon berichten können, sein einstiges Liebchen nicht mehr, denn das ist tot – starb mir unter der Folter weg, obwohl ich noch nicht einmal meine wahren Künste angewendet hatte. Euch, mein edler Prinz, habe ich gleich am ersten Tag ins Herz geschlossen, und ich habe mir seitdem unzählige Todesarten für Euch überlegt, eine langsamer und schmerzvoller als die andere. Ein Gemisch aus Zaubern und einfachen Foltermethoden dürfte nach meinen Erfahrungen am wirkungsvollsten sein.«
»Und dafür habt Ihr mich hierhergeschleppt?« Angst nistete sich neben Schwäche ein und verzehrte Schmerz und alle anderen Gefühle.
»Ich konnte doch nicht zusehen, wie Ihr einfach in den Tod hineinschlaft. Das hatte ich nach all Euren Beleidigungen nicht verdient, und das habt Ihr nicht verdient. Etwas Besonderes muss es für den von allen geliebten Prinzen von El’Maran, für den großen Heerführer der Flammenreiter, doch sein, oder?« Sie wandte sich von ihm ab und ging ihrer Großmutter beim Zubereiten des Hasen zur Hand.
Es wurde gehackt und geschnitten, geredet und gelacht.
Derea bewegte sich, um die Fesseln zu überprüfen. Doch er kam nicht einmal an sie heran. Er war so geschwächt, dass es ihm noch nicht einmal gelang, seine Muskeln anzuspannen. Es kostete ihn schon eine Menge Anstrengung, den Kopf von links nach rechts zu drehen. Außerdem wurde ihm dabei regelmäßig schwindelig. Was auch immer Juna geplant hatte, er würde nichts dagegen unternehmen können.
Es war daher kein Wunder, dass seine Laune merklich gedrückt war, während er den fröhlich schwatzenden Frauen zusah. So hilflos und ausgeliefert war er sich seit seiner frühesten Kindheit nicht mehr vorgekommen.
Junas Frage, ob er lieber gelbe oder rote Rüben zum Hasen wollte, ließ er unbeantwortet, schloss die Augen und glitt umgehend wieder in einen Dämmerzustand.
Irgendwann klopfte ihm jemand leicht ins Gesicht. »Aufwachen! Ihr müsst essen, um wieder zu Kräften zu kommen.«
Träge öffnete er die Augen. »Ach, wirklich?«
Juna lachte dunkel und schob ihm schon einen Löffel in den Mund. »Aber ja doch! Ich hoffe, Ihr mögt den Geschmack von Minze. Großmutter nimmt immer reichlich davon zum Würzen. Für mich ist das jetzt wie in Erinnerungen schwelgen. Meine ersten Lebensjahre habe ich weitgehend bei ihr verbracht, bis Mutter mich mitnahm und ihre Kräfte in die Dienste Maluchs stellte. Wenn mir in der Zwischenzeit etwas gefehlt hat, dann war es dieser wunderbare Geschmack nach frischem Minzkraut und Großmutters hervorragende Haferplätzchen. Davon bekommt Ihr auch eins, wenn Ihr zunächst den Eintopf brav aufesst.«
Der Hauptmann kaute und schluckte, weil ihm gar nichts anderes übrig blieb, nahm den Geschmack gar nicht wahr, hörte ihrem Gerede kaum zu und hing seinen eigenen durchweg düsteren Gedanken nach.
»Ihr habt alles aufgegessen. Möchtet Ihr jetzt ein Plätzchen zur Belohnung?« Ihre Stimme klang ausgesprochen munter.
»Nein!«
»Nicht? Ihr wisst gar nicht, was Euch entgeht. Sie sind ganz frisch und knusprig. Diesen Genuss werdet Ihr vielleicht nie wieder erleben können.«
Sie sah seine versteinerte Miene, lachte fröhlich auf und drehte sich zu Ihrer Großmutter um. »Was meinst du? Ist er schon wieder so weit hergestellt, dass ich mich ans Werk machen kann?«
»Ich denke doch, mein Kind. Er ist zäher, als er aussieht.«
Juna brachte die Schale zum Tisch und kam mit seinem Dolch zurück. »Ja, das ist er.«
Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und ließ den Dolch geschickt zwischen ihren Fingern hin und her wandern. »Man unterschätzt Euch schnell, Hauptmann. Nun, ich weiß es jetzt ja besser. Seid Ihr aber auch so widerstandsfähig, wie ich denke?«
»Ich habe keine Ahnung, was Ihr so denkt«, entgegnete er matt.
Sie fuhr spielerisch mit der Klinge über seine Wangen. »Habt Ihr etwa Angst, mein Prinz? Sehe ich da Schweiß auf Eurer Stirn?«
Da er keine Antwort gab, seufzte sie auf, zuckte die Achseln und fuhr fort: »Irgendwelche Wünsche, wo ich anfangen soll?«
Derea starrte sie weiterhin nur schweigend an, woraufhin sie ein dunkles Lachen hören ließ. »Dann beginne ich zunächst bei den Beinen und arbeite mich nach oben durch.«
Er schloss die Augen und biss die Zähne in Erwartung des Kommenden zusammen.
Eine Zeitlang hörte er nur ihr leises Lachen, dann spürte er, wie sie die Fesseln durchtrennte. Verwirrt öffnete er die Augen wieder und sah sie fragend an.
»Oh, Hauptmann, wofür haltet Ihr mich eigentlich? Ich bin eine Hexe, ich benötige weder Fesseln noch Messer. Ich könnte Euch die größten Schmerzen zufügen, ohne auch nur in Eure Nähe zu kommen, und Ihr könntet nicht das Geringste dagegen tun.«
»Wozu denn dann die Fesseln?«, fragte er mit belegter Stimme.
»Ja, wozu wohl? … Ihr habt Euch im Fieber hin und her geworfen. Das hätte der offenen Wunde geschadet, und wir konnten Euch schließlich nicht die ganze Zeit über festhalten. Die Fesseln waren zu Eurem Schutz, nicht zu unserem.«
Er wurde immer verwirrter. Irgendwie ergab nichts von dem, was sie sagte oder tat, einen Sinn. »Was treibt Ihr für ein seltsames Spiel, Juna? Erst bringt Ihr mich hierher, kümmert Euch um meine Wunden und dann … Warum?«
»Sagt mal, Hauptmann, habt Ihr ernsthaft angenommen, ich hätte Euch fast einen Tag lang und mehr als die Hälfte der Nacht durch den Wald geschleppt, nur, um Euch hinterher zu Tode foltern zu können? Dafür seid Ihr mir nun doch zu schwer. Ich konnte danach kaum noch einen Becher anheben. Und in den letzten zwei Tagen und Nächten habe ich Euretwegen kaum ein Auge zugetan.«
»Ihr habt gar nicht die Absicht, mich zu töten?«
Sie schüttelte lachend über seinen ungläubigen Tonfall den Kopf. »Im Augenblick jedenfalls nicht, aber Ihr solltet mich in Zukunft besser nicht mehr sosehr reizen.«
Erleichtert atmete er erst einmal tief durch und entspannte sich ein wenig. »Ihr habt mich doch ganz bewusst die ganze Zeit in dem Glauben gelassen, dass Ihr genau das wolltet. Hattet Ihr viel Spaß, Hexentochter?«
»Ja, sehr viel sogar!« Sie kicherte fröhlich und blinzelte ihn vergnügt an.
»Außerdem hattet Ihr das verdient, nachdem Ihr Euch so hartnäckig geweigert habt, mir die Kette abzunehmen. Wie Ihr sehen könnt, trage ich sie nicht mehr, und Ihr seid trotzdem, eher gerade deshalb noch am Leben. Wollt Ihr jetzt nicht vielleicht doch ein Plätzchen? Sie sind frisch so ganz besonders lecker.«
Fast gegen seinen Willen lachte er auf. »Ja, gebt schon her!«
Er war dann doch ziemlich erschüttert, dass er es einfach nicht schaffte, die Hand anzuheben.
»Was glaubt Ihr eigentlich, warum ich Euch vorhin schon gefüttert habe?«, bemerkte sie kopfschüttelnd und schob ihm das Gebäck in den Mund. »Ihr musstet ja unbedingt die ganze Zeit so heldenhaft tun, als wenn nichts wäre, und wart dadurch so gut wie tot, als wir endlich hier ankamen. Großmutter fragte mich sogar, warum ich ihr eine Leiche anschleppe.«
»Schmeckt wirklich sehr gut.« Er sah sie plötzlich ernst an. »Es war sicher nicht leicht für Euch. Warum habt Ihr das getan? Warum habt Ihr mir das Leben gerettet, Juna?«
Sie zog gelangweilt die Schultern hoch. »Weil Ihr im Fluss meins gerettet habt. Ich bin nicht gern etwas schuldig. Gebt Euch jetzt nur nicht der Hoffnung hin, aus mir wäre ein guter Mensch geworden. Der Tag, an dem das geschieht, wird mein letzter Tag auf Erden sein. Ich kann Euch nach wie vor nicht leiden, aber unsere Kräfte werden wir unter gerechten Bedingungen messen.«
Bei ihren Worten legte sie ihm bereits die Hand auf die Stirn. »Nur noch leichtes Fieber. Wenn Ihr macht, was wir Euch sagen, und trinkt, was wir Euch geben, werdet Ihr schnell wieder auf die Füße kommen.«
»Und dann?«
»Werden wir sehen, Hauptmann.« Fast brüsk wandte sie sich ab, und er sah ihr gedankenverloren hinterher. Doch es dauerte nicht lange, bis er erneut einschlief.
Er erwachte von lautem Klappern.
Juna trug gerade eine Waschschüssel zum Bett und legte Tücher bereit. »Ihr habt immer noch leichtes Fieber und wieder ziemlich geschwitzt. Zeit für eine Wäsche«, erklärte sie munter.
Er hob versuchsweise die Arme an und brachte sie schon etwas hoch. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sie wieder fallen. »Es tut mir leid, aber ich fürchte, das schaff ich noch nicht.«
»Das hatte ich auch nicht angenommen.« Sie grinste ihn sichtlich erheitert an, und ihre Augen funkelten. »Aber Ihr habt ja uns.«
Helles Lachen perlte in ihr hoch, als sie seinen entgeisterten Gesichtsausdruck sah. »Ihr seid doch wirklich zu niedlich. Als Ihr glaubtet, ich würde Euch zu Tode foltern, habt Ihr keine Miene verzogen, aber jetzt seht Ihr aus, als würdet Ihr am liebsten aus dem Haus flüchten, wenn nötig auf allen vieren. Keine Sorge, Großmutter wird es machen. Ich gehe derweil auf die Jagd.«
Die Aussicht erschien ihm auch nicht gerade verlockend, aber auch kleine Geschenke nahm er mittlerweile dankbar an.
Die Alte kam in diesem Augenblick in die Hütte geschlurft und legte Kleidungsstücke auf den Tisch. »Ich konnte Fischer Merte Hemd und Hose seines ertrunkenen Sohnes abschwatzen. Nicht gerade das, was du wohl gewöhnt bist, Jungchen, aber immer noch besser als nichts. Juna, Kind, besorge uns jetzt einen saftigen Braten und sieh, ob du vielleicht doch noch Nachtblüte finden kannst!«
»Mach ich, Großmutter. Unser tapferer Hauptmann möchte im Übrigen lieber von dir gewaschen werden, er ist nämlich ausgesprochen empfindlich in Bezug auf die Einhaltung der guten Sitten.«
Sie warf ihm einen kurzen, aber sehr mutwilligen Blick zu, bevor sie fortfuhr: »Er weiß ja nicht, wer ihn ausgezogen hat und wie oft ich ihn in den letzten Tagen schon gewaschen habe. Besser, wir behalten das für uns.«
Sie wandte sich zur Tür und lachte erneut, als sie sein entnervtes Stöhnen hörte.
Marlena kam zum Bett und schüttelte lächelnd den Kopf. »Sie war schon immer schalkhaft.«
»Schalkhaft?«, brummte er ungehalten. »Eure Enkelin ist ein gemeingefährliches Biest.«
Diese Einschätzung wurde im Laufe des Tages immer wieder bestätigt.
Juna ließ nicht die kleinste Gelegenheit aus, ihn zu ärgern oder zu reizen. Rock und Bluse, in verwaschenem Grau und aus den Beständen ihrer Großmutter, waren zwar alt und schlicht, aber die Hexentochter brachte sie mit ihren üppigen Rundungen und ihrem einzigartigen Hüftschwung wunderbar zur Geltung. Während sie ihn fütterte, musste er sich schon sehr anstrengen, um nicht dauernd in ihren tiefen Ausschnitt zu sehen, ebenso, als sie voller Hingabe und mit blitzenden Augen den Verband wechselte und eine Kräutersalbe in seinen Arm knetete. Ihm fiel schnell auf, dass sie ihre Hingabe nicht etwa darauf verwandte, möglichst gefühlvoll zu sein, sondern vielmehr darauf, ihm endlich einen Schmerzenslaut zu entlocken. Doch den Gefallen tat er ihr nicht, und nach ihrer liebevollen Behandlung hatte er Schwierigkeiten, seine verkrampfte Kiefermuskulatur wieder zu entspannen. Sie tröstete sich dann offensichtlich zumindest damit, dass er sich bei ihren eigenartigen Getränken regelmäßig fast übergab.
Ihr eigenes Bad am Abend brachte ihn dann nahezu um den Verstand. Zwar hatte sie als Sichtschutz eine fadenscheinige Decke durch den Raum gespannt, während sie sich ausgiebig im kleinen Zuber wusch, aber durch den Feuerschein war ihr Schattenriss sehr deutlich zu sehen. Er ging davon aus, dass sie allein aus diesem Grund diese Ecke des Zimmers gewählt hatte, um sich mit ausgesprochen langsamen und sinnlichen Bewegungen der mehr als gründlichen Reinigung ihres Körpers zu widmen.
Sooft er auch die Augen schloss, so oft öffneten sie sich von ganz allein wieder. Irgendwann hätte er am liebsten wie ein kleines Kind losgeheult, denn im Gegensatz zu seinen Armen versagten andere Körperteile durchaus nicht ihren Dienst. Sein Fieber schien ebenfalls wieder heftig anzusteigen, zumindest brach ihm der Schweiß aus allen Poren.
Das wiederum veranlasste sie kurze Zeit später dazu, trotz seines heftigen Widerspruchs sein Gesicht, seine Arme und seinen Oberkörper abzuwaschen.
Mit düsterer Miene ließ er es über sich ergehen, da er sich zurzeit ohnehin nicht gegen sie wehren konnte und ihr nicht auch noch die Genugtuung verschaffen wollte, ihn wegen seiner Unterlegenheit zu verspotten.
Ihr rabenschwarzes Haar war noch feucht, ihr Duft nach frischen Blüten unwiderstehlich und ihre Berührungen diesmal ausgesprochen sanft und zärtlich.
»Fühlt Ihr Euch wieder wohler?«, fragte sie mit dunkler Stimme, ließ ihre Hände auf seiner Brust ruhen und fuhr sich mit der Zunge über die leicht geöffneten Lippen. »Oder soll ich Eure Beine auch rasch noch abreiben?«
Ihm brach fast erneut der Schweiß aus. »Wagt es ja nicht!«
Sein heiseres Krächzen ließ sie unwillkürlich kichern. »Wirklich nicht?«
»Bei allen Göttern, nein!«
»Warum stellt Ihr Euch eigentlich so an? Sie sind doch wie der Rest von Euch auch ausgesprochen ansehnlich. Nicht einmal die Narbe am rechten Oberschenkel stört das Bild.« Sie warf ihm einen belustigten Blick zu. »Ihr müsst Euch auch gar keine Sorgen machen: Schüchtern, wie ich nun einmal bin, würde ich Eure Körpermitte natürlich auslassen.«
»Schüchtern, wie Ihr seid … oh, Mann! Sobald ich wieder in der Lage dazu bin, erwürge ich Euch, Hexentochter«, gab er grimmig und immer noch ziemlich heiser zurück.
Sie lachte fröhlich auf und wiederholte dann Worte, die er vor nicht allzu langer Zeit auch benutzt hatte: »Eure Dankbarkeit hält sich in engen Grenzen, Eure Furcht aber ganz offensichtlich auch.«
Fest rechnete sie mit einer lustigen oder empörten Erwiderung und strahlte ihn erwartungsvoll an, aber sein Gesicht blieb ernst, als er erklärte: »Ich verstell mich nur. Ich bin Euch unendlich dankbar und ich fürchte mich zu Tode.«
Ihre Stimme wurde noch dunkler. »Nur, weil ich eine Hexe bin?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein! Vor Hexen habe ich keine Angst. Ich habe nur Angst vor Euch, Juna.«
Sie riss ihre Hände so schnell von seinem Körper, als hätte sie sich verbrannt, ihr plötzlich feuchter Blick hielt den seinen gefangen, und mit seltenem Ernst und kaum hörbar erwiderte sie: »Das solltet Ihr auch. Vergesst es nur nie, Hauptmann! Wenn ich jemals etwas für Euch sein könnte, dann nur Euer Untergang.«
Sie erhob sich so schnell, dass sie die Waschschüssel umstieß, und verließ eilends die Hütte.
Derea starrte ihr hinterher und verfluchte seine augenblickliche Unfähigkeit, ihr folgen zu können.
Caitlin und Hylia huschten tief in ihre Umhänge gehüllt durch die Straßen Kambalas. Es war ihnen ein Leichtes gewesen, sich zu Pferde von Borka davonzustehlen. Marga hatten sie die Nachricht hinterlassen, sie in Mar’Elch zu erwarten, und nur kurz hatte sie ein schlechtes Gewissen bezüglich ihrer Freundin geplagt. Zu wichtig war schließlich in ihren Augen ihre Aufgabe.
Obwohl es helllichter Tag war, begegneten ihnen kaum Menschen. Sämtliche Fenster waren dicht mit Leder verschlossen, einige sogar mit Brettern vernagelt. Stände von Händlern waren verlassen. Kein einziges Kind spielte in den Straßen. Noch nicht einmal streunende Hunde oder Katzen waren zu sehen. Die Stadt hätte wie ausgestorben gewirkt, wären nicht die Hordenkrieger gewesen, die von Zeit zu Zeit laut grölend in kleineren Gruppen durch die Straßen streiften.
Auch auf dem Marktplatz zeugten zum Teil eingeknickte Zeltstangen und zerbrochene Auslagentische davon, dass schon lange keine Händler mehr herkamen, um ihren Geschäften nachzugehen. Die kleinen Gatter, in denen üblicherweise Vieh zum Verkauf angeboten wurde, waren verwaist, und Tore klapperten im Wind. Auf einer hölzernen Empore, von der aus sonst die Versteigerungen der Tiere durchgeführt wurden, stand jetzt ein Richtblock und vielleicht zwanzig halb verweste Köpfe steckten auf Spießen gleich daneben. An einem Galgenbaum baumelten sechs ebenfalls schon übel zugerichtete Körper, deren Beine entweder bis auf die Knochen abgenagt waren oder ganz abgerissen unter dem Baum verfaulten. Krähen schwirrten krächzend in großer Zahl um die Hinrichtungsstätte herum.
Die Frauen unterdrückten bei diesem Anblick nur mühsam ihren Brechreiz, versuchten, dem ekligen Gestank der Verwesung dadurch zu entgehen, dass sie den Atem immer möglichst lange anhielten, und schritten noch schneller aus.
»So lebt es sich also unter Camora«, raunte Hylia heiser, kaum dass sie den Markt hinter sich gelassen hatten. »Bis heute habe ich die Berichte aus dem Osten immer für übertrieben gehalten. Jetzt weiß ich es besser. Der Schwarze Fürst bringt tatsächlich nur die Dunkelheit. Mögen die Götter geben, dass wir den Sieg davontragen.«
»Ja, ich …« Ihre Begleiterin blieb plötzlich stehen und schlug die Hand vor den Mund. Nicht weit von ihnen entfernt, in einer Seitengasse hatten mehrere Wölfe einen alten Mann – seiner ausgezehrten und zerlumpten Erscheinung nach zu schließen wohl ein Bettler – auf einen Baum getrieben.
Einige Hordenkrieger standen etwas abseits und hielten sich die Bäuche vor Lachen, weil das bedauernswerte Opfer sehr unglücklich an einem immer lauter knackenden Ast hing und es kaum noch schaffte, die Beine so weit hochzuziehen, dass die Wölfe nicht nach seinen bloßen Füßen schnappen konnten. Der arme Kerl jammerte und flehte in den höchsten Tönen, was die Krieger offenbar immer mehr zum Lachen reizte.
Caitlin machte einen Schritt in die Gasse, wurde aber von Hylia eilends weggezogen. »Bist du verrückt? Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist Aufmerksamkeit. Du weißt doch gar nicht, wie viele von diesen Ungeheuern sich noch hier herumtreiben.«
»Aber man muss ihm doch helfen«, widersprach die Prinzessin entsetzt und wollte sich losreißen. Doch dann erstarrte sie, denn ein grauenhafter Schrei drang aus der Gasse, Jaulen, ein Knacken und laute Wetten darüber, welcher Wolf wohl das größte Stück ergattern würde.
»Zu spät!« Hylia packte mit bebenden Händen ihre totenbleiche Freundin fester und zog sie fast im Laufschritt hinter sich her.
Die trotz der lauten Anfeuerungsrufe der Krieger noch zu hörenden schrillen Schreie hinter ihnen rissen abrupt ab, und Caitlin schluchzte auf und schlug die Hand vor den Mund. Doch schon unmittelbar danach zuckte sie vor Schreck zusammen, denn Hornstöße hallten durch die Straße und die Einwohner Kambalas stürzten aus ihren Häusern. Türen flogen auf, Männer zwängten sich dabei in ihre Jacken oder schlüpften noch auf einem Bein hüpfend in ihre Stiefel, Frauen hatten oft noch Mehl an den Händen und ihre Schürzen um. Caitlin und Hylia fanden sich unversehens in einem stetig anschwellenden Menschenstrom wieder, der jetzt von Hordenreitern gnadenlos angepeitscht durch die Gassen wogte.
Die Frauen klammerten sich aneinander und eilten in der Masse mit, da ihnen gar nichts anderes übrigblieb. Jede Flucht aus der Menge wäre sofort entdeckt worden. Innerhalb kürzester Zeit versammelten sich alle auf der breiten Straße, die vom Stadttor zum Fürstenhaus führte.
»Was geschieht hier?«, raunte Caitlin unbehaglich ihrer Freundin zu.
Die zuckte nur die Achseln und knetete ihre kalten Hände. Keine von beiden wagte es, einen Nachbarn zu fragen. Um sie herum war es totenstill. In den Mienen der Männer und Frauen spiegelten sich gleichermaßen Angst und Trostlosigkeit. Notgedrungen ergaben sie sich offenbar in ihr Schicksal, wie immer es auch sein sollte.
Etwas wurde gebrüllt, was die Priesterinnen nicht verstanden, aber die Menschen setzten sich erneut in Bewegung, drängten sich jetzt links und rechts an die Häuser und bildeten so eine Gasse in ihrer Mitte. Die Frauen standen in der zweiten Reihe und lugten genauso neugierig wie verängstigt unter ihren großen Kapuzen hervor. Hordenreiter bauten sich vor den Menschen auf.
Die ersten Rufe »Es lebe Camora!«, hallten vom Fürstenhof herüber. Sie waren laut, aber ihnen fehlte jede hörbare Begeisterung.
Caitlin spürte, wie ein unwillkürliches Zittern ihren Körper durchlief. Sie stand hier in der Menge und sollte offensichtlich gleich ihrem Erzfeind zujubeln. In Kürze würde sie den Mann sehen, der ihren eigenen Mann jagte und der aller Voraussicht nach schon sehr bald auf dem Feld der Träume im Kampf auf ihn treffen würde. Sie schlang die Arme fest um ihren Körper, um ihr Beben zu unterdrücken, und versuchte, ihr immer heftiger klopfendes Herz zu beruhigen, indem sie langsam und tief atmete.
Hylia legte ihr schützend den Arm um die Schulter und flüsterte ihr zu: »Ganz ruhig, Kleines! Sieh ihn besser nicht einmal an, und errege auf keinen Fall Aufmerksamkeit.«
Doch genau wie Caitlin, die sich einfach nicht an den Rat der Freundin halten konnte, erlitt auch sie dann einen kleinen Schock, denn der Mann, der jetzt langsam und begleitet von seiner Garde hoch zu Ross durch die Gasse kam und seinen Blick aus kalten schwarzen Augen über die nur sehr mäßig jubelnde Menge gleiten ließ, war in der Tat ein Hüne. Seine mächtigen Schultern und Oberarme schienen fast sein Hemd zu sprengen, und alles an ihm war nahezu gewaltig.
Fast unmittelbar vor den Frauen zügelte er sein Pferd, und Caitlin musterte ihn genauer. Sie konnte einfach nicht wegsehen, denn zum ersten Mal sah sie ihren größten Feind vor sich. Seine buschigen Augenbrauen waren über der großen, schmalen Hakennase zusammengewachsen, und die Augen strahlten eine solche Kälte aus, dass es sie unwillkürlich fröstelte. Die schmalen Lippen waren jetzt zornig zusammengepresst. Obwohl er um die fünfzig Jahre zählen musste, war sein Bart noch genauso schwarz wie sein Haar und bedeckte fast die gesamte untere Hälfte des wettergegerbten Gesichts. Nicht ein einziges graues Haar war zu sehen. Er war mindestens so groß wie Rhonan, aber sehr viel breiter und kräftiger gebaut. Doch nichts an ihm wirkte weich oder dick, er strahlte tatsächlich nur geballte Kraft und Kälte aus.
Jetzt erhob er seine Stimme. »Ich werde heute diese Stadt verlassen. Wenn ich wiederkehre, dann trage ich neben dem Zepter da’Kandars den Schlüssel zur Zitadelle der Träume bei mir. Die letzten Könige und Fürsten, die sich mir in den Weg gestellt haben, werden tot sein oder sich mir unterworfen haben. Ihr Führer …«
Erneut glitt sein dunkler Blick über die Menschen. Caitlin und Hylia senkten wie alle anderen auch unwillkürlich ihre Blicke, und der Fürst fuhr mit herablassender Stimme fort: »Ja, es gibt ihn wirklich, diesen Prinzen, der einen anderen an seiner Stelle sterben ließ, der sich feige versteckte, nur um selbst zu überleben.«
Seine Augen wurden jetzt ganz schmal, und er wandte sich an einen seiner Begleiter. »Hamil, was hast du über ihn in Erfahrung bringen können? Sag uns, was du über den großen Führer der Freien Reiche weißt!«
Der Heerführer nickte und grinste höhnisch. »Er soll ein ganz guter Kämpfer gewesen sein, als er noch nicht hinkte. Doch leider tut er das jetzt sehr stark. Jeder kleine Hosenscheißer könnte ihn umstoßen, daher würde unser geliebter Großkönig ihn umpusten, wenn er den feigen Drückeberger nur endlich erwischen könnte.«
Er machte eine Pause, wartete wohl auf Gelächter, aber es blieb still. Also fuhr er fort: »Er soll auch recht verständig sein, wenn er nüchtern ist. Nur leider ist er das nie. Jeder Tag beginnt bei ihm mit Branntwein und endet in der Gosse. Nachts kuschelt er sich volltrunken an Talermädchen, und tagsüber kriecht er durch dunkle Gassen. Er soll schon Angst vor seinem eigenen Schatten haben. Hört er nur den Namen Camora, scheißt er sich voll.«
Es blieb weiter totenstill, also forderte er jetzt die Stimme des Volkes direkter. »Soll diese verkrüppelte, versoffene, von Feigheit zerfressene Gestalt Großkönig werden?«
Ein vielfaches, lautes »Nein!« erscholl.
»Wer ist unser Großkönig?«
»Camora!«
»Wem wollen wir dienen?«
»Camora!« Auch jetzt waren die Rufe wieder laut, aber ohne jeden Jubel.
Irgendwo aus der Menge kam ein: »Alles Lüge! Es lebe unser wahrer Großkönig, der Thronerbe von da’Kandar! Er wird siegen, wir werden siegen.«
Es war, als wäre plötzlich ein Damm gebrochen. »Sieg! Sieg! Sieg!«
Die begeisterten Jubelschreie gingen durch die Menge, und Caitlin verspürte eine Gänsehaut am ganzen Körper. Camora konnte den Menschen offensichtlich alles nehmen, aber nicht ihren Glauben und nicht ihre Hoffnung. Bisher hatte sie immer nur von der Rettung der Freien Reiche gehört und gesprochen, doch plötzlich hatten die Reiche auch ein Gesicht – viele Gesichter. Der Mann neben ihr, der so erbärmlich nach Fisch stank, gehörte dazu, die kleine Frau in Lumpen, die ihren Säugling im Arm hielt, der gepflegte Händler im edlen Tuch, das kleine Mädchen, das seine Puppe ängstlich an sich drückte, und der hagere Junge, der gerade im Stimmbruch war.
Caitlin war es, als ob sie mit einem Mal die ganze Bedeutung ihrer Aufgabe begriff. Es ging gar nicht um die Quelle, es ging nicht um den Thron, es ging nicht einmal um Camora oder Rhonan, es ging um Menschen, um viele Menschen, um geplagte, geschundene und verratene Menschen, Menschen, denen man alles genommen hatte, nur eben ihre Hoffnung nicht.
Zu Beginn ihrer Reise hätte sie all die Leute um sich herum lediglich als unwichtig, als dreckig, ungebildet und arm abgetan, doch jetzt fühlte sie plötzlich eine geradezu schmerzvolle Verbundenheit mit ihnen. Sie waren vielleicht ungebildet und arm, aber sie waren auch tapfer, stolz und ehrenvoll, und sie waren wichtig. Sie beugten unter Zwang ihr Haupt, aber nicht ihren Glauben. Sie ließen Camora der Not gehorchend in ihr Haus, aber sie ließen ihn nicht in ihr Herz.
Immer noch gingen die Hochrufe auf den Prinzen durch die Reihen, und Caitlin erschauerte unwillkürlich, als sie daran dachte, dass all diese Menschen hier ihre Hoffnung und ihre Zukunft allein auf Rhonan bauten. Plötzlich verstand sie dessen sorgenvolle Blicke, wann immer er sich unbeobachtet fühlte. Im Gegensatz zu ihr hatte er natürlich längst begriffen, wie wichtig ihre Aufgabe war und um wen es eigentlich ging. Er würde nie um Macht oder die Krone, nie um da’Kandar oder Latohor oder El’Maran kämpfen, aber er würde immer für diese Menschen kämpfen, weil er unter ihnen gelebt hatte und sie kannte. Ihr Blick schweifte wieder zum Schwarzen Fürsten.
Der war vor Wut fast erstarrt. »Das ist also die Achtung, die ihr eurem Großkönig entgegenbringt. Ich habe euch unter meinen Schutz genommen, und wo war euer Prinz die ganze Zeit? Hat er sich um euch gekümmert, hat er für euch gekämpft? Nein, er hat sich verkrochen, hat euch im Stich gelassen. Und wo ist er jetzt? Ich hätte ihm eine Herausforderung geschickt, aber ich weiß nicht, unter welchem Stein er sich zurzeit versteckt hält? Er läuft mir ja ewig davon. Euer armseliger Prinz wird euch vor gar nichts retten. Er denkt doch nicht einmal an euch. Er will nur um jeden Preis seine eigene, erbärmliche Haut retten. Doch das werdet ihr erst begreifen, wenn es längst zu spät ist. Was Hamil gesagt hat, ist wahr. Er ist ein verkrüppelter, vor Angst schlotternder Säufer. Sollte er irgendwann seine Furcht überwinden und sich mir tatsächlich in den Weg stellen, werde ich mich seiner nicht einmal annehmen. Ich messe mich nicht mit seinesgleichen. Meine Männer werden ihn für mich einfangen, und dann wird er brennen zusammen mit eurer Prophezeiung. Soll ich euch jetzt noch sagen, was euer blindes Vertrauen in diesen jämmerlichen Knaben euch einbringt? Ich werde diese Stadt genauso wie Latohor und Mar’Elch dem Erdboden gleichmachen. Schon kurz nach meinem endgültigen Sieg wird es kein Kambala mehr geben.«
Er wandte sich ohne jede sichtbare Gemütsregung an die Gardisten. »Zählt durch! Jeder Zwanzigste wird gehängt, gleichgültig, ob Mann, Frau oder Kind.« Wild riss er an den Zügeln und galoppierte davon.
Es entstand sofort eine wahnsinnige Unruhe. Hordenkrieger stürzten sich schon mit gezückten Äxten in die Menge. Überall wurde gezählt, geschrien, gezetert, geschubst und gedrängelt. Menschen wurden grob und rücksichtslos aus der Masse gezerrt.
Der stinkende Fischhändler drängte sich zwischen Hylia und Caitlin, erklärte kurz »Ich bin schon alt«, und wurde nur einen Augenblick später schon von einem Hordenkrieger mitgerissen.
Eingefangene Männer, Frauen und Kinder wurden erbarmungslos mitgeschleift und zum Marktplatz getrieben.
Die Nebelfrauen waren vor Schreck wie erstarrt und folgten wie im Traum der wimmernden und schluchzenden Menge. Caitlin ertappte sich dabei, wie sie sich plötzlich sehnlichst wünschte, dass Rhonan jetzt hier wäre, denn niemals würde der die kommende Schandtat zulassen. Fassungslos vor Entsetzen stolperte sie immer weiter. Doch endlich schüttelte sie sich, um sich wieder aus ihrer dumpfen Befangenheit zu befreien. Sie war schließlich Rhonans Frau, und auch sie konnte daher nicht tatenlos zusehen, wie Menschen allein wegen ihrer Treue zum Haus da’Kandar abgeschlachtet wurden. Ihr Schritt wurde wieder fester, ihr Atem allmählich ruhiger. Ein kleines Lächeln glitt über ihr Gesicht. Rhonan hatte keine Angst vor seinem Schatten, aber sein Schatten war lang … wo immer er selbst auch gerade war, er reichte bis hierher. Sie schickte ein stummes »Ich liebe dich« in die Weiten und ein »Haidar, steh mir bei!« in den Himmel und straffte die Schultern.
»Was ist mit dir?«, fragte Hylia, der die Veränderung in Caitlins Körperhaltung nicht verborgen geblieben war.
»Ich bin die Großkönigin, und ich habe endlich begriffen, was meine Aufgabe ist«, gab sie leise, aber mit funkelnden Augen zurück. »Hier wird heute niemand gehängt.«
»Du wirst das verhindern?«
»Nein, wir!«
»Oh!«
Fünfzig Hordenreiter hatten wohl um die hundertfünfzig Einwohner im Viehgatter des Markplatzes zusammengetrieben. Verängstigt klammerten die sich jetzt aneinander. Kinder weinten laut und schrien voller Furcht nach ihren Eltern. Männer und Frauen flehten inbrünstig um Gnade. Jenseits des Gatters kreischten und jammerten Mütter und Ehefrauen. Väter und Ehemänner versuchten lautstark zu verhandeln, boten Taler, Vieh, hier und da sogar ihr eigenes Leben.
Doch nichts von alledem beeindruckte die Hordenreiter auch nur im Geringsten, es schien sie eher noch zu erheitern. Äxte wurden drohend geschwungen und hielten die verzweifelten Bürger davon ab, sich dem Gatter zu nähern.
»Beeilung jetzt! Wir müssen das Heer schließlich noch einholen«, brüllte der Anführer der Horde. »Es wird gehängt und enthauptet. Wir …«
Er stutzte. Zwei junge Frauen hatten sich durch die Menge und die Absperrung gedrängt und standen jetzt vor ihm. Eine von ihnen schob ihre Kapuze zurück, und was er sah, raubte ihm fast den Atem. Riesengroße, veilchenblaue Augen blickten flehend zu ihm hoch. »Verzeiht Herr, aber heute ist der Namenstag des Gottes Jamasar, Gott des Wassers und Schutzheiliger der Fischer. Ihr setzt Euch und Eure Männer der ewigen Verdammnis aus, wenn Ihr heute einen Fischer tötet.«
Der Hordenhauptmann leckte sich begehrlich die Lippen, und seine Augen saugten sich fast an Caitlins Gesicht und den flammenden Haaren fest. »Deine Sorge um unsere Zukunft entzückt mich, meine Schöne, sie entzückt mich wirklich, aber ich habe nicht die Zeit und nicht die Lust, die Fischer auszutauschen. Wir werden Jamasar später ein Opfer darbringen, um ihn wieder zu versöhnen.«
Er stieg vom Pferd, leckte sich erneut die Lippen und ging mit anzüglichem Lächeln auf sie zu. »Doch dich, meine Schöne, schickt der Himmel. Während meine Männer ihre Arbeit tun, wirst du mir jetzt etwas Gesellschaft leisten. Komm zu mir, Liebchen!«
Caitlins Augen wurden etwas dunkler. »Gottloser, kniet nieder und bittet um Vergebung für Eure unbedachten Worte!«
Der Hordenführer lachte kehlig auf. »Das wüsste ich aber. Komm, Schätzchen, ich …«
Er griff sich plötzlich an die Kehle, schnappte wild nach Luft, taumelte noch zwei unsichere Schritte, bevor er auf die Knie sank.
Sein verstörter Blick ruhte auf Caitlin, die dem völlig ungerührt standhielt und erklärte: »Götter lassen nicht mit sich handeln, du Wicht. Deine Entscheidung war falsch.«
Während ihr Führer röchelnd zusammenbrach, zuckten schon Blitze, von Hylia geschleudert, zwischen seine völlig verwirrten Krieger. Ihre Schmerzensschreie waren offensichtlich das Signal für die Bevölkerung Kambalas. Wild schreiend stürzten sich Männer und Frauen, die endlich die Verwundbarkeit der Peiniger und ihre eigene Überzahl begriffen, auf ihre Unterdrücker.
Die Hordenreiter waren innerhalb kürzester Zeit in der Menschenmasse nicht mehr zu sehen. Ihre Waffen nutzten ihnen nichts gegen die angestaute Wut ihrer ehemaligen Opfer. Einige wurden erschlagen oder zu Tode getreten, andere zum Richtblock geschleift und enthauptet. Auch der Galgenbaum bog sich bald unter der Last der Erhängten.
Während Caitlin schreckensbleich und mit weit aufgerissenen Augen der unerwarteten Wendung des Geschehens zusah, packte Hylia sie am Arm. »Komm, lass uns gehen! Wir werden hier nicht mehr benötigt.«
Unbemerkt von der aufgebrachten und immer lauter johlenden Menge huschten sie durch die Gassen.
Hylia öffnete endlich die Tür eines kleinen Gebetshauses und zerrte ihre Begleiterin hinein. Sie schloss die Tür, lehnte sich dagegen und atmete erleichtert durch. »Welch grauenhaftes Schauspiel! Caitlin, komm wieder zu dir!«
Die schluckte krampfhaft gegen ihre Übelkeit an.
»Sie haben es nicht besser verdient«, versuchte Hylia, sie zu beruhigen. »Sie hätten sogar Kinder aufgehängt oder enthauptet.«
Ihre Freundin rieb sich heftig ihre kalten Arme, nickte aber. »Ich empfinde ja auch gar kein Mitleid mit ihnen. Sollen sie der ewigen Verdammnis anheimfallen. Ihr Schicksal kümmert mich nicht. Mir ist nur heute klargeworden, dass ich gar nichts gewusst habe. Ich habe so gern und friedlich auf der Nebelinsel gelebt, wollte weder vom Krieg noch von anderen Dingen außerhalb etwas wissen. Immer habe ich Augen und Ohren verschlossen. Selbst auf unserer Reise ging es mir nur um mich und Rhonan. An das Leid, das in all der Zeit um mich herum geschah, habe ich nie gedacht, nur weil ich es gar nicht kannte oder auch nur nicht kennen wollte. Wenn Gideon von unserer Verantwortung sprach, habe ich das stets auf die Quelle bezogen. Ich war so dumm und so eigennützig, Hylia, und ich schäme mich entsetzlich deswegen. Ich hätte Rhonan helfen müssen, stattdessen wollte ich ihn ganz für mich allein.«
Tränen liefen ihr übers Gesicht, und ihre Freundin zog sie in die Arme. »Caitlin, du bist gerade siebzehn. Du hättest bisher kaum etwas am Schicksal der Menschen ändern können und musst dich daher nicht schämen. Jetzt kannst du es und willst es ja auch tun. Und Rhonan hilfst du schon die ganze Zeit. Ich habe damals doch auch gehört, was das Talermädchen über ihn gesagt hat, und es war ihm wirklich sehr zugetan. Aber nach seinen Worten war er so gut wie nie nüchtern, rastlos, verschlossen, in Alpträumen gefangen und unglücklich. Wenn er jetzt anders ist, dann ist das doch auch dein Verdienst. Du musst dir also nichts vorwerfen!«
»Doch!« Caitlin wischte sich mit zitternder Hand über den Mund. »Ich habe ihn mit seiner Verantwortung alleingelassen. Ich wollte nicht, dass er sich Camora stellt, und habe ihm von unserem Kind erzählt, damit er nur noch an seine Familie denkt, aber das kann er doch nicht, das darf er nicht. … Oh, Hylia, ich muss sofort zu ihm, muss ihm sagen, wie töricht ich war. Ich muss ihm sagen, dass er sich nicht um uns sorgen muss, weil es wichtigere Dinge gibt. Ich muss …«
»Ruhig!«, unterbrach ihre Freundin. »Ganz ruhig, meine Liebe. Wir sollten jetzt nicht kehrtmachen. Rhonan weiß, was er zu tun hat, und bereitet sich und die Reiche bestmöglich auf die große Schlacht vor. Er wird Camora vernichten, nicht nur deinetwegen, sondern auch wegen all dieser Menschen hier. Er wird seine Schlachten schlagen, und wir werden dafür sorgen, dass er auch hinterher den richtigen Weg wählen kann. Je länger ich darüber nachgedacht habe, was du mir erzählst hast, desto mehr glaube auch ich, dass es ein Geheimnis um die Quelle gibt, das wir lüften müssen. Ich würde wirklich nichts lieber tun, als auf der Stelle umzukehren, aber das dürfte nicht das Richtige sein, wenn wir alle eine gute Zukunft haben wollen.«
Caitlin nickte unglücklich, und dicke Tränen rannen über ihr Gesicht. »Das mag alles richtig sein, aber ich bereite ihm immer mehr Kummer.«
»Nein, Kleines, du gibst ihm immer mehr Gründe zu siegen. Den Thron wollte er doch nie. Er wird auch für diese Menschen kämpfen, aber vor allem deinetwegen und zum Schutz eures noch ungeborenen Kindes wird er den Schwarzen Fürsten vernichten.«
Schluchzend warf die Prinzessin sich in den Arm der Priesterin.