25. Kapitel




Rhonan hörte Stimmen, öffnete die Augen und sah noch leicht verschwommen Gideon, Derea, Canon, Morwena, Marga und Darius um sich herumstehen.

»Oh, mein Junge, du bist endlich wach? Es ist alles halb so schlimm«, erklärte der Gelehrte mit feuchten Augen. »Nur zwei Wunden mussten genäht werden. Wie fühlst du dich? Erschöpft, nicht wahr? Bei allen Göttern, war das ein Kampf. Ich glaubte schon nicht mehr an unseren Sieg. Was war nur mit dir los? Derea sagt, es müsse ein Zauber im Spiel gewesen sein. War es das? Aber das ist jetzt ja auch gleichgültig, denn es ist doch noch geschehen, worum wir alle gebetet hatten. Rhonan, der Krieg ist beendet. Die Schreckensherrschaft ist vorüber, nach fünfundzwanzig langen Jahren ist sie endlich vorbei. Hörst du die Menschen draußen? Sie feiern ihre Freiheit, sie feiern ihre Zukunft, und sie feiern vor allem ihren König, der ihnen den Sieg gebracht hat, und unglaublich viele Hordenkrieger feiern mit.«

Tränen der Freude liefen ihm übers Gesicht. »Du hast ihre Hoffnungen erfüllt, du hast ihren Schmerz beendet und ihnen neues Leben geschenkt. Ihre Dankbarkeit kennt keine Grenzen. Du kannst dir ihren Jubel nicht vorstellen. Oh, hör doch nur! So geht es schon die ganze Zeit. Es gibt bereits Lieder über dich. Ehemalige Feinde liegen sich in den Armen. Überall brennen Freudenfeuer. Es ist so … so … ich finde gar keine Worte. Oh, mein Freund, mein König, was sagst du?«

»Du tust mir weh!«

Gideon nahm sofort die Hände von Rhonans Schultern und sah ihn verwirrt an.

Doch dessen Augen suchten bereits Canon. »Jetzt sag mir endlich, was du über Caitlin weißt!«

»Das kann doch wohl bis morgen warten, mein König«, erklärte Darius sofort voller Inbrunst. »Ich denke …«

»Götterhimmel!« Rhonan fuhr ungestüm hoch, verzog schmerzlich das Gesicht, fiel wieder in die Kissen, atmete kurz durch und presste seine Hand in die Seite. Mit vor Zorn bebender Stimme stieß er aus: »Jetzt reicht’s mir! Ich habe getan, was von mir erwartet wurde. Camora ist tot und die Schlacht vorbei. Feiert, was immer ihr glaubt, feiern zu müssen, aber ich will jetzt endlich wissen, was mit Caitlin und mit unserem Kind ist. Ich will keine Lieder über mich, ich will keinen Dank, ich will den verdammten Thron nicht, ich will nur meine Familie zurück.«

Gideon nickte voller Verständnis, Derea und Marga fanden die Aussage ihres Freundes nicht weiter überraschend, aber Darius widersprach sichtlich verstört, eher noch entsetzt: »Ihr wollt den Thron nicht? Ihr könnt nicht meinen, was Ihr sagt. Wir haben unendlich lange für Euch gekämpft. Ihr seid unser Großkönig, Ihr seid …«

»Ich meine ganz genau, was ich sage!«, brüllte der aufgebracht dazwischen. »Ihr habt für mich gekämpft? Das wüsste ich aber. Meine Kämpfe habe ich stets allein ausgetragen. Eure Ziele waren nie die meinen. Ihr habt diesen Krieg geführt, nicht ich. Euch ging es die ganze Zeit um die Krone des Großkönigs, mir nicht. Dieser Krieg hat begonnen, da war ich noch nicht einmal geboren. Es reicht doch, dass mir dauernd alle sagen, welche großen Verpflichtungen ich allein wegen meines Namens habe und was ich deshalb alles zu tun habe. Ich tue ja, was ich tun muss, aber was ich denke, bestimme immer noch ich. Ich …«

Er atmete immer schneller und gepresster, und Canon legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Es ist gut, Rhonan. Beruhige dich! Ich verstehe dich ja und erzähle dir alles, was ich von Hylia weiß.«

Er wartete dessen Nicken ab und berichtete alles, was er erfahren hatte, über die Schwestern, die Siegel und die Quelle und über Ayala und das Wasserverlies. Schließlich erklärte er: »Es geht ihnen nicht gut, es geht ihnen sogar sehr schlecht. Sie sind zu Tode erschöpft, durchgefroren und halb verhungert. Aber sie geben nicht auf, halten sich mit Geschichten und Liedern aufrecht und kämpfen sich von einem Tag zum nächsten. Irgendjemand lässt ihnen jetzt heimlich Obst und Fleisch hinunter. Deine Frau trägt immer noch euer Kind und ist in ständiger Sorge um dich.«

Rhonan war ohnehin bleich wie die Wand, aber seine Miene war während des Berichts immer gequälter geworden. Die Erzählung, wie es zur Versiegelung der Quelle gekommen war, war dabei ganz offensichtlich ohne jeden Belang für ihn. »Wie komme ich zur Nebelinsel?«, fragte er lediglich, sobald Canon schwieg.

»Durch den Nebel? Gar nicht ohne Ayalas Billigung! Sie will die Siegel, sie will die Quelle und – das wird dich nicht mehr weiter wundern –, wenn sie alles andere hat, will sie nur noch deinen Kopf.«

Erneut legte Canon ihm die Hand auf den Arm. »Seit Jahren ist Hylia in meinem Herzen. Ich würde alles dafür geben, sie endlich auch einmal in meinen Armen halten zu können, aber mit Schwertern, selbst mit Kahandar, können wir die Priesterinnen nicht besiegen. Wenn wir den Frauen helfen wollen, müssen wir überlegt vorgehen. Handeln wir überstürzt, bringen wir ihnen nur den schnelleren Tod. Caitlin und Hylia sind stark. Wenn sie erst wissen, dass wir gesiegt haben, werden sie durchhalten, bis wir sie befreien.« Er lächelte dünn. »Du wirst dich im Übrigen wohl mit einem Sohn abfinden müssen. Hylia ist davon überzeugt, dass nur ein Knabe mit deiner Zähigkeit diese Zeit überstehen könnte.«

Rhonan nickte matt. Ein Lächeln brachte er nicht mehr zustande. »Danke, Canon! Tu mir den Gefallen und teile Hylia mit, dass wir sie beide so schnell wie möglich holen werden. Sie soll Caitlin sagen, dass es mir gutgeht und dass sie wirklich stärker ist als Kahandar.« Auf Canons verständnislosen Blick hin, fügte er an: »Sie wird wissen, was ich meine. Lass sie auch wissen, dass ich nichts ohne Gideons Zustimmung tun werde. Das wird sie beruhigen, weil sie mich für leichtsinnig hält. Sag ihr … nein, das musst du nicht sagen, das weiß sie auch so.«

Canon nickte verstehend. »Das denke ich auch, aber sie wird es trotzdem gern hören. Ich werde die Nachrichten sofort überbringen, und du solltest versuchen, ein wenig zu schlafen. Du siehst aus, als könntest du Ruhe vertragen.«

Die letzten Worte hatte er eigentlich mehr an die immer noch versammelten Besucher gerichtet, und umgehend verabschiedeten sich auch alle, bis auf Gideon.

Der wartete, bis alle gegangen waren. »Hast du große Schmerzen? Soll ich dir etwas dagegen mischen? Ich habe meinen Vorrat an Kräutern gut aufstocken können.«

Rhonan erwiderte nichts, legte nur den Arm über die Augen und atmete tief und schwer.

»Ich versteh schon. Dann misch ich dir jetzt nach eigenem Gutdünken einen Schlaftrunk.« Nur wenig später trat er wieder an das Lager. »Wir haben doch immer für alles eine Lösung gefunden. Du wirst Caitlin aber ganz sicher nicht helfen können, wenn du vor Erschöpfung zusammenbrichst. Komm, mein Junge, trink jetzt und schlaf! Du könntest heute Nacht nun wirklich nichts Sinnvolleres mehr tun. Morgen werden wir uns etwas überlegen.«

Widerstandslos und mit leerem Blick trank sein Begleiter die Brühe, die er ihm einflößte, und schloss die feuchten Augen.

Der Gelehrte blieb neben ihm sitzen, bis Rhonan endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

Immer noch drangen fröhliche und laute Gesänge in das Zelt, und die um Freudenfeuer tanzenden Männer warfen muntere Schattenspiele an seine Wände. Ausgelassen, glücklich und dankbar feierten die Menschen ihren Großkönig, und der König selbst zeigte noch im Schlaf ein von tiefem Kummer gezeichnetes Gesicht.

Gideon starrte mit Tränen in den Augen nach oben. »Wie weit wollt Ihr es noch gehen lassen? Bei allem, was mir heilig ist, Dala, Schwesternmörderin und Schutzheilige der Verianer, wenn du jetzt tatenlos zusiehst, wie auch noch Rhonan und Caitlin zugrunde gehen, werde ich den Turm der Winde und jedes Schriftstück, das ich in die Finger bekomme, verbrennen. Nichts wird von dir bleiben. Selbst deinen Namen werde ich auslöschen. Ich kann nicht kämpfen, aber du wirst erleben dürfen, dass ich gut zerstören kann.«

Rhonan warf sich unruhig hin und her und stöhnte tief, und der Gelehrte strich ihm sanft über die Stirn und begann mit leiser Stimme, eine Geschichte zu erzählen. Er erzählte immer weiter, auch als sein junger Freund endlich entspannt schien.

Die Zeltplane teilte sich, und Marga schlüpfte herein. »Ich hörte deine Stimme. Darf ich mich ein wenig zu dir setzen? Das erste Mal in meinem Leben kann ich den Anblick der feiernden Menschen nicht ertragen. Oh, Gideon, es ist alles so … so ungerecht.«

Er lächelte sie milde an und winkte sie heran. »Sie haben doch jedes Recht zu feiern, Marga. Wenn sie jetzt an ihr morgen denken, müssen sie endlich nicht mehr mit Tod, Angst und Schrecken rechnen, sondern können wieder von Familie, Heim und friedlicher Arbeit träumen. Dort draußen tanzen auch junge Männer, die heute zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Gedanken an Frieden und Freiheit in den Schlaf sinken. Gönn ihnen ihre berechtigte Freude!«

Er sah, dass seine Worte sie kaum erreicht hatten, und fuhr fort: »Komm, setz dich zu mir! Ich hätte gern Gesellschaft, möchte nur nicht fortgehen, weil Rhonan schon die letzten Nächte nur schlecht geschlafen hat. Er hat schon die ganze Zeit befürchtet, dass Caitlin in Gefahr sein könnte.«

»Was wird jetzt geschehen, Gideon?«

»Ich weiß es nicht.« Er seufzte tief. »Ich weiß es einfach nicht.«

Sie setzte sich neben ihn, schluchzte unglücklich und nickte. »Erzähl bitte eine Geschichte, Gideon! Ich kann mich nicht an unserem Sieg freuen, ich will aber auch nicht mehr an Caitlin und Hylia denken. Ich möchte jetzt auch an etwas ganz anderes denken. Lass mich einfach nur eine Weile bei dir sitzen und zuhören.«

Bei diesen Worten lehnte sie sich an ihn, und er legte den Arm um sie, spürte ihr Zittern und begann zu erzählen. Er hätte selbst nicht sagen können, warum, aber er wählte eine recht lustige Geschichte von einem einfältigen älteren Mann, der sich in eine junge, schöne Frau verliebt hatte, und er freute sich ein wenig darüber, dass Margas Tränen langsam versiegten und sie sich immer enger an ihn schmiegte.

Draußen saßen Canon und Derea auf einem Baumstamm und sahen ebenfalls mit ernsten Mienen dem nicht enden wollenden Glückstaumel zu. Um große Lagerfeuer herum sangen und tanzten Krieger beider Lager und Kalla in laut grölender, aber friedlicher Eintracht. Gebrautes, Wein und Branntwein flossen in Strömen. Doch selbst der Duft von gebratenem Fleisch ließ die Brüder, die seit dem Sonnenaufgang nichts gegessen hatten, kalt.

Immer wieder wanderten ihre Blicke zu den gewaltigen Schattenkriegern, die mit leeren Gesichtern etwas abseits saßen und offensichtlich überhaupt nicht begriffen, was um sie herum geschah. Sie aßen und tranken, was man ihnen vorsetzte und verharrten im Übrigen völlig regungslos. Kurz zuvor noch schreckliche und erbarmungslose Feinde, gab es jetzt wohl kaum einen Menschen, in dem sich nicht das Mitleid regte. Der Hexenmeister schien ihnen tatsächlich alles genommen zu haben, was sie einmal von Tieren unterschieden hatte.

»Bei allen Göttern! Sieh sie dir nur an! Das waren einmal kleine Jungen wie wir. Wir hatten Glück und sind zu Morwena, unserer Mutter, gekommen, und sie … Er hätte einen viel schlimmeren Tod verdient gehabt«, erklärte Derea unvermittelt. »Diese Bestie ist viel zu gut davongekommen.«

Sein Bruder nickte nur, schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein.

»Denkst du an Hylia?«, fragte der Hauptmann.

»Ich habe gerade mit ihr gesprochen. Caitlin geht es sehr schlecht, sie hat Krämpfe, und ihr Fieber steigt. Hylia befürchtet, dass sie ihr Kind verlieren wird.«

Er sah seinen Bruder verzweifelt an. »Oder dass sie sogar stirbt, wenn sie nicht sehr bald Hilfe bekommen. Glaubst du, dass die Götter so ungerecht sein können? Warum strafen sie die am meisten, die versuchen, Gutes zu tun?«

»Das tun sie doch gar nicht, nur bei guten Menschen fällt es uns immer auf. Schlechte Menschen erhalten unserer Meinung nach ihre verdiente Strafe, und wir denken einfach nicht weiter drüber nach.«

»Du bist wieder einmal sehr geistreich, aber jetzt mal im Ernst: Du kennst Rhonan besser als ich. Glaubst du, ich muss es ihm sagen? Ich meine, es würde doch keinem weiterhelfen. Nur, weil es ihr immer schlechter geht, kommen wir trotzdem nicht schneller auf die Insel.«

Derea überlegte eine ganze Zeit. »Nein, ich denke, das solltest du nicht. Ruhm, Ehre, der Thron, die Reiche – nichts scheint ihm auch nur das Geringste zu bedeuten. Mit da’Kandar kann er eigentlich nur Schmerz verbinden, aber Caitlin bedeutet ihm alles. Hast du seinen Blick vorhin gesehen? So hat er nur einmal geguckt, nämlich als er darüber nachgedacht hat, ob er unseren feinen Vater, den General, am Leben lassen kann. Er dreht glatt durch, wenn du ihm das jetzt auch noch erzählst. Sag ihm besser nichts!«

Eine Weile schwiegen beide wieder. Ein betrunkener Flammenreiter bot ihnen Branntwein an, aber beide lehnten ab.

»Geht es Hylia denn wenigstens halbwegs gut?«, fragte Derea irgendwann.

Canon seufzte tief und rieb sich mit fahrigen Händen die Oberschenkel. »Ich weiß es nicht. Sie spricht nur von Caitlin und behauptet immer, ihr ginge es gut. Ich glaube ihr aber längst nicht mehr, denn ihre Gespräche werden immer kürzer. Ihr fehlt sogar dafür schon die Kraft, und das zerreißt mich fast.«

Derea legte seinem Bruder den Arm um die Schultern. »Frauen sind viel stärker, als wir denken, nicht unbedingt in Bezug auf ihre Körperkraft, aber in Bezug auf ihren Willen und ihre Zähigkeit. Hylia ist eine mutige und starke Frau, die nie aufgeben würde. Sie wird es schaffen.«

Canon wollte gerade etwas erwidern, als ein Tumult ihn stutzen ließ. »Was ist denn da los? Etwas zu viel Gebrautes?«

Beide sprangen auf und rannten auf eine Gruppe Gardisten zu, die sich gerade mit Hordenkriegern prügelte.

»Sofort aufhören!«, brüllte Canon schon von weitem. »Oder ich lass euch alle in Ketten legen. Die Kampfhandlungen sind eingestellt.«

Die Männer ließen umgehend voneinander ab.

»Was ist hier los?«, wollte er wissen und baute sich vor einem Gardisten auf.

»Ehemalige Truppenführer Camoras!«, erklärte der und wischte sich Blut von der Lippe. »Wollten eine Hinrichtung vornehmen.«

Derea sah verständnislos zu den Hordenkriegern. »Eine Hinrichtung?«

»So verfahren wir mit Kriegsverbrechern und Mördern«, erklärte einer von ihnen. »Das dürfte doch wohl auch bei Euch üblich sein.«

»Nur nicht ohne Verfahren«, entgegnete Canon streng. »Liefert uns den Schuldigen aus, und wir werden die Angelegenheit morgen prüfen. Ich werdet eure Anschuldigungen vorbringen können und der Beschuldigte seine Verteidigung. Dann werden wir ein Urteil fällen.«

»Wer wird es fällen?« Das Misstrauen der Hordenführer war mehr als deutlich zu erkennen.

»Ein Richterrat aus unseren und euren Führern, vermutlich! Ihr wisst selbst, dass diesbezüglich noch keine Regelung getroffen wurde. Jedenfalls sollte unser Frieden nicht mit einem Akt der Willkür beginnen.«

Die ehemaligen Gefolgsleute Camoras sahen sich an und nickten schließlich. Dann drehte sich einer um und befahl: »Bringt sie her!«

Im Griff zweier Krieger wurde eine Gestalt im schwarzen Umhang herangeführt. Der Hordenführer nahm ihr die Kapuze ab. »Sie hat während des Zweikampfs die Waffenruhe gebrochen und den Hexenmeister, ihren eigenen Ziehvater, erstochen. Sie versuchte zu fliehen, konnte aber aufgehalten werden. Wir verlangen ihren Tod.«

»Juna?« Derea glaubte, seinen Augen nicht zu trauen.

Unverwandt starrte er sie an, während sie ihn mit ihrem üblichen spöttischen Blick bedachte.

Canon sah kurz verwirrt zu seinem Bruder, dann nickte er. »Die Anschuldigungen wiegen schwer. Sie wird in Gewahrsam genommen, und morgen wird darüber entschieden, was mit ihr zu geschehen hat.«

Er nickte den Gardisten zu. »Bringt sie in ein Zelt und stellt Wachen auf!«

»Wir werden sie bewachen«, forderte ein Hordenkrieger.

Canon nickte erneut. »Meinetwegen! Ich erwarte aber, dass sie morgen noch lebt. Sonst wird der Richterrat sich mit den Wachen beschäftigen müssen.«

Mit dieser Lösung schienen alle einverstanden zu sein. Innerhalb kürzester Zeit löste sich die kleine Versammlung auf.

Canon packte seinen offensichtlich zur Bewegungslosigkeit erstarrten Bruder an der Schulter. »Was ist mit dir?«

»Sie … wir … ich …, also sie, oder besser gesagt, wir … Juna …«

»Ja, wer denn nun? Derea, hol tief Luft, sammle dich und rede keinen Unsinn.«

Sein Bruder atmete befehlsgemäß durch und begann erneut: »Ich habe dir doch erzählt, dass sie mir das Leben gerettet hat.«

»Ja, und weiter?«

»Eine Hinrichtung kann ich daher nicht zulassen.«

Canon seufzte auf. »Wenn sie tatsächlich die Waffenruhe gebrochen hat, wirst du sie kaum verhindern können.«

»Sie hat Maluch getötet. Dafür hätte sie eher eine Belobigung verdient. Er ist es doch gewesen, der Rhonan geschwächt hat«, empörte sich sein Bruder aufgebracht.

»Hast du dafür Beweise? … Siehst du! Verdrehe also nicht die Augen, vergiss deine höchstwahrscheinlich richtigen Vermutungen und hör mir zu. Tatsache ist: Wenn dich jemand während des Zweikampfes getötet hätte, könnte die Beurteilung dieser Tat auf unserer Seite durchaus eine andere sein als die aufseiten der Horden. Ein Mord bleibt ein Mord, auch wenn uns das Opfer nicht sehr liebenswert erscheint, und ein Kriegsverbrechen bleibt ein Kriegsverbrechen, gleichgültig, auf welcher Seite es verübt wurde. Wir können gerade jetzt nicht mit zweierlei Maß messen.«

Derea wühlte wild in seinen Haaren und lief im Kreis herum. »Gleichgültig, ob wir seine Einmischung beim Zweikampf beweisen können oder nicht, er wäre doch ohnehin hingerichtet worden.«

»Nach einer Verhandlung! Dann wäre es eine gerechte Hinrichtung gewesen und eben kein Mord.«

»Canon, das geht nicht. Ich bin … ich habe … das ist … du musst …«

»Geht das schon wieder los?«, stöhnte Canon ungehalten. »Kannst du nicht einmal vernünftig reden? Und hör endlich auf, dir die Haare zu raufen! Wenn du dir mit deinen langen Fingern die Locken zerwühlst, siehst du regelmäßig aus wie ein hoffnungslos verwirrtes Mädchen. Wir wissen doch auch noch gar nicht, ob die Anschuldigungen überhaupt stimmen.«

Sein Bruder blieb stehen, schien zu überlegen und nickte endlich. »Die stimmen bestimmt. Das würde genau zu ihr passen.«

»Ja, dann …«

Derea beachtete ihn gar nicht und redete schon weiter. »Ich weiß es, und sie hat es auch selbst gesagt. Sie lügt, betrügt, bricht Ehen, quält gern und bringt Leute um …«

Canon sah jetzt schon mehr als erheitert seinen Bruder an. »Also, in diesem Fall …«, setzte er erneut an, wurde aber wieder unterbrochen.

»Sie ist durch und durch eine Hexe, ein Biest und richtig gefährlich. Du glaubst gar nicht, wie gemein sie sein kann. Ich rette sie, und sie verspottet mich zum Dank dafür. Überall macht sie nur Ärger, und ich liebe sie.« Selig strahlte er seinen Bruder an.

Canons Erheiterung war augenblicklich wie weggeblasen. »Was? Sag das doch noch einmal!«

»Ich liebe sie.«

Jetzt raufte sein Bruder sich zur Abwechslung einmal die Haare. »Ich hab das jetzt richtig verstanden, ja? Du liebst eine Hexe, die bekanntermaßen lügt, betrügt, Leute umbringt und so weiter. Sag mal, bist du von Sinnen?«

»Ich hab es mir doch nicht ausgesucht«, erwiderte Derea und senkte den Kopf. »Ich hätte mich auch lieber in eine Frau wie Mutter oder Hylia verliebt. Meine Traumfrau war Juna nicht. Es ist einfach geschehen, und ich weiß noch nicht einmal wie und warum. Ich mochte sie anfangs überhaupt nicht, aber sie ist ganz anders, als sie ist. Canon, du musst mir helfen. Ich kann nicht …«

»Hör bloß auf mit diesem Mist! Sie ist ganz anders, als sie ist! Weißt du eigentlich, was du da sagst? Diese Frau wäre dein Untergang.«

»Das hat sie mir auch gesagt«, gab er kleinlaut zu, und Canon glaubte immer mehr zu träumen.

»Jetzt hör mir mal gut zu, kleiner Bruder …«

»Bitte, Canon, ich liebe sie wirklich. Du wolltest Hylia doch auch nicht lieben, weil du schon dachtest, Milena zu lieben, aber es ist trotzdem geschehen. Du weißt, dass man das nicht beeinflussen kann, und hast mir doch immer geholfen.«

»Ja, aber das hätte ich schön bleiben lassen sollen. Denn was ist dabei herausgekommen? Es ist doch zum Auswachsen mit dir. Gibt es eigentlich auch eine Klemme, in die du nicht unweigerlich gerätst?« Verzweifelt stieß er die Luft aus. »Mann, Derea, die halbe Damenwelt liegt dir zu Füßen, und du suchst dir eine Hexe.«

»Ich hab sie nicht gesucht, ich hab sie doch nur gefunden. Hilfst du mir? Wenn ich mir jetzt etwas ausdenke, kommt eh nichts anderes dabei heraus, als dass wir alle am Galgen landen. Du hast dir doch immer etwas Schlaues einfallen lassen. Bitte, Canon, es ist mir wirklich wichtig. Ich möchte sie zu meiner Frau machen. Hilf mir!«

Die Brüder sahen sich längere Zeit schweigend an, dann nickte der ältere. »Ja, natürlich! Ich denk mir was aus. Als wenn wir nicht schon genug Sorgen hätten. Wehe, du sagst Mutter auch nur ein Wort davon.«

Derea lächelte ihn warmherzig an. »Hatte ich nicht vor.«

»Oh, Verstandesreste scheinen ja noch vorhanden zu sein. Ich bin zutiefst beruhigt.«

»Danke, Canon!«

»Dank mir besser erst, wenn ich etwas erreichen konnte. Das ist eine ganz schön verzwickte Lage.«

»Dir fällt doch immer etwas ein.«

Derea strahlte seinen Bruder mit großem Vertrauen an, und der knurrte ungehalten zurück: »Was blieb mir bei dir auch anderes übrig? Geschichtenerzähler hätte ich werden sollen, so oft, wie ich für dich etwas erfinden musste. Oh, fast hätte ich es vergessen: Wenn du dich dieser Hexentochter auch nur näherst, bevor alles geregelt ist, erwürge ich dich eigenhändig. Nichts darf irgendwie mit uns in Verbindung gebracht werden. Noch gibt es zwei feindliche Lager, und wir bewegen uns auf dünnem Eis. Ist das klar?«

Er nickte eifrig. »Aber ja doch, ich bin doch nicht verrückt. Aber in ihrem Zelt heute Nacht, da könnte ich sie doch kurz …«

»Derea!«, brüllte Canon mit den Nerven jetzt völlig am Ende, packte dessen Arm und zerrte ihn mit sich. »Ich glaube es einfach nicht. Was hab ich nur verbrochen, um mit dir gestraft zu sein? Du schläfst vorsichtshalber bei mir.«

»Aber Canon, du schnarchst so.«

Der versetzte ihm einen Schlag gegen den Hinterkopf. »Treib es nicht zu weit, kleiner Bruder!« Trübsinnig murmelte er vor sich hin: »Ich fass es nicht. Sucht der sich eine Hexe aus.«


Canon betrat schon in aller Frühe, während die Krieger noch ihren Rausch ausschliefen, wieder das Zelt des Großkönigs und blieb verdutzt stehen. Rhonan hatte sich offensichtlich gerade gewaschen und zog sich ein Hemd über, und Gideon und Marga schliefen tief und fest auf einer Decke vor dem Lager.

»Waren das deine Wachen?«, fragte er, während er auf den neuen Großkönig zuging und dessen Hände festhielt. »Lass mich erst die Verbände wechseln, bevor du dich weiter anziehst.«

»Gideon hat die ganze Nacht gewacht. Er ist erst vor kurzem eingeschlafen. Hast du neue Nachricht von Caitlin und Hylia?« Rhonan zog das Hemd wieder aus, setzte sich steif aufs Bett und begann, die blutigen Binden zu lösen.

»Nichts Wesentliches! Sagst du mir vielleicht, was du jetzt so Eiliges vorhast? Du hast doch etwas vor, nicht wahr?«

»Ich lass mich von einer Flugechse auf die Nebelinsel bringen. Wenn Ayala die Siegel haben will, dann soll sie sie bekommen, aber erst, nachdem die Frauen in Sicherheit sind. Gideon wird sie so lange verwahren.«

Canon nickte nachdenklich, tränkte ein Stück Stoff in Gideons Kräutermischung, presste es auf die frisch genähte Wunde kurz über der rechten Hüfte und sah ihn schließlich durchdringend an, während Rhonan die Augen zusammenkniff und die Luft anhielt.

»Der Weise sagte, es brennt heftig, aber nur für kurze Zeit. Halt es fest, während ich Leinen drumwickle! Und du bietest dich in der Zwischenzeit als Pfand an, richtig?«

»Richtig! Ohne jede Sicherheit wird sie kaum darauf eingehen.« Die Stimme klang deutlich gepresst.

»Der Gedanke mit den Flugechsen ist mir auch schon gekommen, und ich habe mich bereits erkundigt. Selbst ohne jede Rast wärst du bis tief in die Nacht unterwegs, und, weißt du, du bist zurzeit kaum in der körperlichen Verfassung, um überhaupt irgendwohin zu reisen. Das wäre Wahnsinn, das kannst du nicht tun.«

»Doch, ich kann.«

»Das kann ich auf keinen Fall zulassen.«

»Doch, du kannst und du wirst. Außerdem könntest du mich ohnehin nicht abhalten.«

Canon hielt mit seiner Arbeit inne und sah Rhonan an. »Und wenn sie dich tötet, sobald sie die Siegel hat?«, fragte er leise. »Was wird dann aus der Quelle?«

Rhonan schüttelte ungeduldig den Kopf. »Das wird sie nicht. Ich muss ihr ja noch den Weg zur Quelle ebnen, damit sie das vierte Siegel bekommt.« Er sah sein Gegenüber beschwörend an. »Versteh doch! Caitlin ist in ihren Augen wertlos, ich nicht. Daher ist Caitlin in Gefahr, ich aber nicht. Hör zu, Canon! Ich hab mir alles genau überlegt. Sobald Ayala die Siegel hat, wird sie sich bestimmt zum Wolkenberg aufmachen. Ihr macht euch ebenfalls schnellstmöglich auf den Weg und denkt daran, dass die Quelle vielleicht bewacht … Himmel!«

Er gab ein atemloses Geräusch von sich, als Canon einen verklebten Verband vom Oberarm löste, umklammerte die Bettkante und fuhr dann fort: »Nehmt euch besser ein paar Echsenkrieger mit. Ich vertrau auf euch. Ihr macht das schon. Da Ayala höchstwahrscheinlich mittels der Portalsteine reist, lasst euch mit den Siegeln so viel Zeit wie nötig, denn ihr müsst unbedingt vor den Nebelhexen am Wolkenberg sein, und auf gar keinen Fall werdet ihr Gideon oder Caitlin mitbringen. Ayala darf niemals in diese Quelle. Wir müssen sie aufhalten, koste es, was es wolle. Es ist mir gleichgültig, ob du mit den Echsen oder den Flammenreitern oder wem auch immer kommst, aber die Priesterinnen müssen um jeden Preis besiegt werden. Ich bin kein Heerführer und vertraue bezüglich der Planung auf euch.«

Canon legte auch auf diese ziemlich lange Wunde einen Kräuterwickel, wartete, bis Rhonan sich wieder gefangen hatte, und erklärte dann nachdenklich: »Priesterinnen sind ziemlich schwer aufzuhalten.«

»Ich weiß, aber wir haben keine Wahl. Ayala wird nie aufgeben, bevor sie hat, was sie will. Irgendwann müssten wir uns ihr ohnehin stellen, aber wer weiß, was dann noch von den Frauen übrig ist? Wir müssen jetzt handeln. Siehst du es nicht genauso?«

Canon überlegte eine Weile und nickte dann langsam. »Es gefällt mir überhaupt nicht, aber so könnte es vielleicht gehen.«

»Mir gefällt es tatsächlich auch nicht besonders, aber anders geht es ganz sicher nicht.« Mit zittriger Hand wischte er sich den Schweiß aus den Augen, und Canon schüttelte verzagt den Kopf.

»So, wie du aussiehst, sollte ich dich festbinden, damit du zumindest noch einen Tag wartest, aber dann könnte es für deine Frau vielleicht zu spät sein. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, aber sie hat Fieber bekommen.«

Er brachte es nicht fertig, mehr zu sagen, denn Rhonan schloss jetzt schon gequält die Augen.

»Beeil dich!«, forderte der schließlich mit heiserer Stimme.

»Ich würde anbieten, dich zu begleiten, aber das dürfte kaum etwas bringen, oder?«

»Dich in Gefahr! Mehr sicher nicht, oder baust du auf mütterliche Gefühle bei Ayala?«

Canon lachte rauh auf. »Ob du’s glaubst oder nicht, ich habe sie höchstens zwei-, dreimal zu Gesicht bekommen. Derea und ich waren für sie so etwas wie persönliche Niederlagen, an die sie sich wohl nicht durch unseren Anblick erinnern lassen wollte. Und so, wie sie sich jetzt Caitlin gegenüber verhält, würde es mich schon wundern, überhaupt irgendein mütterliches Gefühl bei der Nebelhexe zu entdecken. … Schluss mit der Schinderei. Ich bin fertig.«

Er griff hinter sich und reichte seinem Schwager das Hemd. »Sollen Derea oder ich dich nicht zumindest bis zum Argonsee begleiten? Du siehst verdammt schlecht aus.«

»Ihr werdet mir mehr helfen, wenn ihr am Wolkenberg auf mich wartet. Die Kalla werden sich schon um mich kümmern, wenn es nötig sein sollte.«

Rhonan ergriff Canons Schultern, drückte sie fest und sah ihn beschwörend an. »Lasst euch bloß etwas Gutes einfallen. Das wird eine verdammt harte Nuss, aber wir müssen sie knacken, wenn letztlich nicht doch alles vergebens gewesen sein soll.«

Morwenas Sohn legte jetzt auch seine Hände auf die Schultern seines Gegenübers und bat mit ernster Stimme: »Verlass dich auf uns, Schwager! Wir haben nicht so lange gegen Camora gekämpft, um jetzt Ayala das Feld zu überlassen. Wir werden es irgendwie schaffen.«

Beide sahen sich längere Zeit in die Augen, sahen jeweils Entschlossenheit und nickten schließlich.

Rhonan ging zu Gideon und rüttelte sanft an dessen Schulter.

Der Gelehrte rappelte sich verschlafen hoch, rieb sich die Augen, reckte und streckte sich und sah den Prinzen verblüfft an. »Du meine Güte! Du bist schon wieder auf den Beinen? Wie geht es dir?«

»Gut genug! Gideon komm, ich benötige dringend deine Hilfe als Übersetzer. Wir müssen zu den Flugechsen.«

Während der Verianer sich vollends erhob, seine Kleider ordnete und sich etwas Wasser ins Gesicht spritzte, erklärte Rhonan erneut sein Vorhaben. Gideon wurde immer bleicher, nickte aber im Anschluss an den Bericht. »Ich fürchte fast, das ist die einzige Lösung, auch wenn sie mir überhaupt nicht gefallen will. Aber willst du nicht zumindest noch einen oder zwei Tage warten? Deine Wunden …«

»Sind bestens versorgt und werden hier oder dort heilen. Du hast doch gehört, dass es Caitlin sehr schlechtgeht. Wir können nicht warten. Und Gideon, gleichgültig, was auch immer geschieht, du gibst die Siegel in keinem Fall heraus, bevor die Frauen hier lebend eingetroffen sind. Sollte es nicht anders gehen, vernichte sie! Und jetzt komm, bevor Darius oder Morwena hier auftauchen.«

Er wandte sich noch einmal Canon zu. »Ich verlass mich auf dich, dass Caitlin und Gideon in Sicherheit gebracht werden. Steckt Caitlin meinetwegen mit einer Dienerin zusammen in einen sehr bequemen Kerker, aber lasst sie auf keinen Fall zum Wolkenberg kommen, hörst du. Lasst euch nicht von ihr überrumpeln. Sie ist sehr findig.«

Canon ergriff die hingestreckte Hand und drückte sie fest. »Ich verspreche es dir. Meine Mutter wird sich gut um sie kümmern. Viel Glück!«


Nur wenige Krieger waren schon auf den Beinen, als Rhonan und Gideon durch das Lager eilten. Doch die wenigen sanken umgehend auf ein Knie und baten: »Lang lebe unser Großkönig!«

Das beschleunigte Rhonans Schritte noch mehr.

Canon sah ihnen nach und seufzte tief.

»Guten Morgen!« Margas Stimme klang immer noch verschlafen. »Wo ist denn unser König hin?«

Er drehte sich um. »Morgen, Marga! Rhonan ist unterwegs, um seine Frau zu holen.«

Bei seinen Worten streckte er ihr die Hand hin und half ihr hoch.

Sie nickte ihm dankbar zu und dehnte sich. »Ich komm mir richtig erbärmlich vor. Hab nur auf der Erde geschlafen und fühl mich zerschlagen, und der reist schon wieder durch die Gegend. Ich geh mich jetzt erst einmal frisch machen. Bis …«

Sie wollte sich an Canon vorbeischieben, aber der hielt sie am Arm fest. »Ich muss mit dir reden. Mehr sogar: Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«

»Klar! Was gibt’s?« Sie sah ihn erwartungsvoll an.

Wild fuhr er sich übers Kinn. »Setz dich lieber!«

Er rückte ihr einen Stuhl zurecht, setzte sich selbst aufs Bett, knetete seine Oberschenkel und schüttelte immer wieder den Kopf.

Marga grinste ihn an. »Jetzt bin ich aber richtig gespannt. Du wirkst fast aufgeregt.«

Er sah sie entschlossen an, erklärte »Wohl an!« und erzählte ihr von der Gefangennahme Junas und dem anstehenden Verfahren.

Marga schenkte sich währenddessen einen Becher Wasser ein und trank. Ihr Gesichtsausdruck wurde von Satz zu Satz zufriedener.

»Geschieht der Hexe recht. Endlich bekommt sie, was sie verdient«, erklärte sie im Anschluss an seinen Bericht.

»Sie hat Derea das Leben gerettet«, gab er zu bedenken, aber sie wischte den Einwand mit einem abfälligen Winken und einem Auflachen weg. »Ohne sie wäre er ja gar nicht erst in die Lage gekommen, gerettet werden zu müssen.«

Er versuchte es anders. »Ich nehme es ihr nicht übel, dass sie Maluch getötet hat.«

»Ich auch nicht.« Erneut nahm sie einen Schluck und blinzelte ihn an. »Noch schöner wäre es nur gewesen, wenn sie sich gegenseitig umgebracht hätten, oder? Aber wenn sie jetzt auch noch stirbt, sind wir diese üble Brut endlich los.«

Canon seufzte und kratzte sich am Kopf. »Ich baue darauf, dass du das, was ich dir jetzt sage, niemandem weitererzählst.«

Er wartete ihr Nicken ab und fuhr fort: »Derea hat sich – unsterblich, wie er sagt - in die Hexentochter verliebt. Er will sich mit ihr verbinden. Du kennst ihn gut genug, um zu wissen, dass er eine Hinrichtung deshalb verhindern wird. Notfalls wird er sie mit Waffengewalt vor dem Galgen zu retten versuchen. Ich kann nicht zulassen, dass er sich selbst zum Gesetzlosen macht. Wir müssen einen Freispruch erwirken. Nicht um Junas Willen, sondern allein seinetwegen.«

Ihr Blick war immer ungläubiger geworden. »Verliebt? In Juna? In diese Hexe? Er will sich … Das ist nicht wahr«, keuchte sie atemlos. »Das kann überhaupt nicht wahr sein.«

»Wir sprechen hier nicht von unseresgleichen, wir sprechen gerade von Derea«, erklärte er trocken und ließ seine Worte einfach sacken.

Er baute darauf, dass Marga seinen Bruder lange genug kannte, um zu verstehen, was er meinte.

Tatsächlich nickte die auch nach einiger Zeit und erklärte schließlich. »Ich kann es immer noch nicht fassen, aber es wird wohl so sein. Nur, was wollt ihr unternehmen? Wollt ihr ihr zur Flucht verhelfen? Soll ich dabei helfen?«

Deutlich sah man ihr das Unbehagen an.

»Nein, natürlich nicht«, beschwichtigte er. »Ich bin doch nicht lebensmüde. Die Verhandlung muss stattfinden.«

»Ja, aber wie …«

»Du müsstest dich als ihren Beistand anbieten.«

»Ich?« Entsetzt riss sie die Augen auf. »Canon, ich hab so etwas noch nie gemacht. Da kann sie auch gleich auf einen Beistand verzichten.«

»Ich werde dir erklären, was ihr vorbringen müsst«, beruhigte er. »Machst du es?«

Längere Zeit sah sie ihn starr an, dann nickte sie. »Hätte mir jemand prophezeit, ich würde mich einmal für dieses grässliche Weib einsetzen, ich hätte ihn ausgelacht.«

Die beiden hockten noch zusammen, als Darius und Morwena mit dem tiefblauen Umhang der Großkönige über dem Arm das Zelt betraten.

Darius nickte beiden grüßend zu, und die Königin strahlte ihren Sohn an. »Als ich heute erwachte und wusste, dass Frieden herrscht, musste ich mich kneifen, um sicherzugehen, dass ich nicht noch träume. Und beim Gang durchs Lager habe ich mich erneut gekniffen. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so viele strahlende Menschen gesehen zu haben.«

Sie drückte ihren Sohn an sich und umarmte auch Marga herzlich und wies dann auf den Umhang, den sie immer noch im Arm hielt.

»Wie schön, dass Camora auf alles vorbereitet war und sogar Mantel und Zepter mit sich geführt hat. So können wir unverzüglich die längst überfällige Einthronung vornehmen. Dass ich diesen Tag noch erleben darf! Oh, Kinder, ich bin so glücklich. Wo ist Rhonan denn?«

Canon räusperte sich ziemlich unbehaglich. »Also, der ist …«

Er schluckte und vollendete dann forsch: »… auf dem Weg zur Nebelinsel, um Caitlin und Hylia zu befreien.«

»Er ist schon wieder weg?«

Morwena ließ sich enttäuscht auf das Bett plumpsen. »Aber es warten doch alle auf ihn.« Dann starrte sie ihn entsetzt an, als hätte sie erst jetzt begriffen, was er gesagt hatte. »Zur Nebelinsel? Ist er etwa allein auf dem Weg?«

Ihr Sohn nickte und schüttelte dann den Kopf. »Flugechsen bringen ihn hin, aber das Schloss wird er allein betreten. Da Ayala ihn noch benötigt, dürfte er dort nicht in Gefahr sein.«

»Du hast es gewusst und zugelassen?«, schnaubte Darius voller Entrüstung und stolzierte durchs Zelt.

»Niemals hättet ihr diese Entscheidung ohne uns treffen dürfen. Niemals darf er diese Insel betreten. Es war völlig unverantwortlich, was ihr getan habt. Ausgerechnet dir hätte ich diese Dummheit nie zugetraut.«

»Dummheit, Fürst?« Canons Augen blitzten frostig.

»Seine Frau steht kurz davor, ihr Kind, vielleicht sogar ihr Leben zu verlieren. Was hättet Ihr an seiner Stelle getan? Solltet Ihr meinen, Ihr hättet Euch anders entschieden, müsste ich meiner Mutter dringend von einer Verbindung mit Euch abraten.«

»Man hätte es zumindest gemeinsam beraten müssen.«

»Während Eure Frau im Sterben liegt, wollt Ihr Euch beraten?« Canons Stimme troff vor Sarkasmus.

Darius sah unwillkürlich von ihm zu Morwena, die herausfordernd blickte, und von der zu seiner Tochter, die ihn abwartend, eher noch ängstlich ansah.

»Nein, ich denke, das hätte ich nicht getan«, gab er zerknirscht zu. »Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass wir unser neues Königspaar noch einmal lebend wiedersehen.«

Canon nickte. »Aus diesem Grund werden Derea und ich uns mit den Flammenreitern auf den Weg zum Wolkenberg machen. Dort werden wir uns unseren König zurückholen.«

Er grinste leicht. »Für uns alle wird es eine neue Erfahrung, mit Flugechsen durch die Lüfte zu reisen, aber so benötigen wir nur sieben oder acht Tage.«

»Wo steuert diese Welt nur hin?«, seufzte Morwena. »Wenn das die neue Art der Fortbewegung werden soll, ziehe ich mich aus dem Kriegsgeschäft zurück.«

Ihr Sohn nahm sie liebevoll in den Arm. »Das wirst du ohnehin bald können, Mutter. Gestern ist ein neues Zeitalter für uns alle angebrochen. Jetzt bleibt uns nur noch eins zu tun: Wir müssen den Nebelpriesterinnen Einhalt gebieten, und das wird uns auch irgendwie gelingen. Mutter, Caitlin und Hylia werden hoffentlich irgendwann hier eintreffen. Kümmere dich bitte um sie und lass sie auf keinen Fall zum Wolkenberg kommen. Wenn Rhonan überhaupt etwas dazu bringen könnte, Ayala den Weg zur Quelle und zu ihrer erhofften Macht zu öffnen, dann könnte das nur die Sorge um seine Frau sein. Sie darf der Nebelfrau also auf keinen Fall erneut in die Hände fallen. Das ist wirklich wichtig.«

Sie nickte sofort. »Sieh mich nicht so besorgt an, Canon! Ich bin für gewöhnlich recht verständig und werde die Frauen wie meinen Augapfel hüten. Trage du besser dafür Sorge, dass ihr wohlbehalten zurückkehrt. Priesterinnen sind keine gewöhnlichen Gegner. Außerdem ist Ayala eure Mutter.«

»Solange sie nicht unsterblich sind, werden wir schon mit ihnen fertig. Derea wird sich ganz sicher etwas Nettes einfallen lassen. Ich hab auch mit ihm darüber gesprochen, was Ayala betrifft. Er ist der gleichen Ansicht wie ich, hat es nur besser auf den Punkt gebracht. Er sagt, sie sei für uns lediglich wie eine Gebärmutter – nach der Geburt zumindest für die Kinder schlichtweg unwichtig. Sie ist lediglich Anführerin der Nebelhexen für uns. Leb wohl, Mutter! Ich muss jetzt zu den Flugechsen, um sie um Hilfe zu bitten, und dann die Truppe zusammenstellen.«

Sie zog ihn an sich und küsste ihn zärtlich. »Ich liebe dich, Canon. Mögen die Götter dir beistehen, mein Sohn.«

Darius legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich würde anbieten, euch zu begleiten, aber ich bin sicher, dass Derea und du meine Hilfe nicht benötigt. Meine Zeit ist vorüber. Jungen, einfallsreichen Heerführern wie euch bin ich nicht mehr gewachsen.« Ein verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor er zerknirscht fortfuhr: »Außerdem graut mir beim Gedanken, feste Erde verlassen zu müssen. Viel Glück, mein Junge!«

Canon nickte dankend.

»Mutter und Ihr dürftet hier genug zu regeln haben. Die Hordenkrieger sind verständlicherweise verunsichert, was ihre Zukunft betrifft. Rhonan bat mich, Euch zu sagen, dass Ihr freie Hand bei Euren Entscheidungen habt.«

Er war sich zumindest sicher, dass der neue König dies oder etwas Ähnliches gesagt hätte, wenn der auch nur einen einzigen Gedanken an die Neuordnung der Reiche verschwendet hätte, und lächelte Darius an. »Junge Heerführer können vielleicht Schlachten gewinnen, aber die Ordnung der neuen Reiche sollte in fähigeren Händen liegen. Hier sind nicht Mut und Witz gefragt, sondern Erfahrung und Weisheit. Ihr werdet viel zu tun haben. Ich danke Euch für Eure Wünsche. Lebt wohl!«

Sein letzter Blick galt Marga. »Ich verlasse mich auf dich.«

Sie nickte und drückte ihm warm die Hand zum Abschied.

Kaum war er aus dem Zelt, erklärte Darius: »Eins muss man dem Jungen lassen: Er findet immer die richtigen Worte. Schlachten gewinnen jetzt andere für uns, aber wir beide, Morwena, wir sind dadurch trotzdem nicht überflüssig geworden. Wir haben noch wichtige Aufgaben. Das ist ein gutes Gefühl.«

Die Königin strahlte ihn an. »Ja, Canon war schon immer ein Schmeichler. Nett, nicht wahr? Aber ich muss jetzt Derea suchen.«


Kurze Zeit später war Juna mehr als erstaunt, als Marga ihr Zelt betrat.

Sie war gerade mit dem Frühstück fertig und schob den Teller von sich. »Oh, die tapfere Kriegerin stattet der bösen Verbrecherin einen Besuch ab. So viel Ehre für mich? Muss ich mich erheben?«

Marga drehte sich noch einmal zu den Wachen um. »Tretet ein wenig vom Zelt weg! Ich bin der Beistand und wünsche, ohne Lauscher reden zu können.«

Sie wartete, bis die Wachen sich ein paar Schritte entfernt hatten, und wandte sich Juna zu. »Ich kann Euch nicht leiden, und ich würde Euch nur zu gern hängen sehen, aber dafür mag ich Derea umso lieber, und deswegen muss ich leider versuchen, Euch vor dem Strang zu bewahren.«

Junas Augen blitzten auf. »Derea hat Euch geschickt?«

»Nein, Canon, aber auf Dereas Wunsch hin. Wundert Euch das etwa?«, brauste Marga auf. »Habt Ihr ihm Gifte eingeflößt, oder reichte schon Euer Körper aus, um ihn Euch zu krallen?«

»Höre ich da vielleicht Neid? Es gibt bestimmt auch jemanden, der eckige Körper und putzige Sommersprossen bevorzugt. Der klapprige Gelehrte zum Beispiel schien doch ganz angetan von Euch zu sein.«

Ihre Stimme klang derart höhnisch, und ihr Blick war derart spöttisch, dass Marga sich nur mit Müh und Not beherrschen konnte. Sie vergrub ihre geballten Fäuste in den Falten ihres Rockes und atmete tief durch. »Bei allen Göttern, wie ich verabscheue, was ich jetzt tun muss, aber ich gab mein Versprechen. Wenn Ihr überleben wollt, müsst Ihr genau das tun, was ich Euch jetzt sage. Glaubt mir, es würde mich freuen, wenn Ihr es nicht tätet. Sollte Derea Euch auch nur irgendetwas bedeuten, dann lasst Euch besser hängen.«

Juna lachte kehlig auf. »Ich muss Euch enttäuschen, ich bevorzuge die männliche Art. Mit bartlosen Bübchen kann ich nicht viel anfangen, auf Dauer gesehen. Euer Großkönig würde mir gefallen, aber der sieht mich ja nicht einmal mehr an. Unser Anfang war ja auch nicht sehr erfolgversprechend.«

Ein tiefer Seufzer entschlüpfte ihr, und ihr Blick wurde träumerisch. »Nur, während all dieser langen Tage und der noch längeren Nächte unserer Wanderung war kein anderer zur Hand als Derea. Seinen Körper fand ich auch sehr ansehnlich. Es steckte so viel unvermutete Kraft in ihm. Ich denke, Ihr wisst, was ich meine.«

Sie lachte, entzückt über Margas vor Wut funkelnde Augen, und fuhr fort: »Vielleicht wisst Ihr es auch nicht. Also, meine liebe Marga, ich höre.«

Die war nahe daran, das Zelt zu verlassen. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Derea sich in dieses kalte, berechnende Miststück verliebt haben sollte. Doch von Kindesbeinen an zur Ehrenhaftigkeit erzogen, konnte sie ein gegebenes Versprechen nicht brechen. Also schluckte sie ihre tiefe Abneigung gegen die Hexe und ihre aufsteigende Übelkeit hinunter und begann mit heiserer Stimme, Canons Vorgaben zu erläutern.


Der Gerichtshof trat zusammen, als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte. Überall brannten noch die Totenfeuer, und zwischen schier endlosen Reihen von Verwundeten eilten erschöpfte Heiler hin und her.

Das Gras der Senke war braun vom getrockneten Blut, und der Gestank von verbranntem Fleisch wehte über das Feld der Träume, aber trotzdem wurde überall gelacht, gescherzt und gesungen, denn die Toten hatten ihren Frieden gefunden, und nach den langen Jahren des Krieges durften ihn endlich auch die Überlebenden genießen.

Unmittelbar vor der Zitadelle der Träume, auf dem Platz, auf dem gestern noch der Zweikampf ausgetragen worden war, trat heute zum ersten Mal ein aus Führern der Freien Reiche und Hordenkriegern bestehender Richterrat zusammen, um gemeinsam über die Verbrechen der Hexentochter zu richten.

Viele Krieger hatten sich versammelt, um mitzuerleben, wie ehemalige Todfeinde miteinander umgehen würden.

Hinter einem schlichten Holztisch, auf dem ein Dolch lag, saßen zwei ehemalige Heerführer der Horden zusammen mit Fürst Darius und Fürst Menides, um ihr Urteil zu sprechen.

Juna, die ihre Haare zu einem Zopf geflochten hatte und mit einem schlichten und – ganz gegen ihre Gewohnheit – auch hochgeschlossenen Gewand bekleidet war, hielt den Kopf schüchtern gesenkt, während sie neben Marga vor ihre Richter trat.

Zunächst brachten die Hordenreiter ihre Vorwürfe vor. Es gab genug Augenzeugen, die beschwören konnten, dass nur die Angeklagte die Mörderin des Hexenmeisters gewesen sein konnte.

Fürst Darius, der den Vorsitz führte, hob irgendwann die Hand und sah seine Beisitzer an. »Ich denke, wir haben jetzt genug gehört, um sicher zu sein, dass die Beschuldigungen stimmen. Ich benötige keine weiteren Zeugen.«

Die übrigen Mitglieder des Richterrates nickten zustimmend, und er rief nunmehr die Hexentochter näher an den Tisch. »Nun, Juna Malewi, du hast gehört, was gegen dich vorgebracht wurde. Es ist ein Vorwurf, der unweigerlich den Tod nach sich zöge, wenn er von uns bestätigt werden würde. Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen? Hast du die Waffenruhe gebrochen?«

Sie blickte nicht einmal hoch, sondern schluckte offensichtlich tapfer ein Schluchzen hinunter und nickte nur stumm.

»Du hast also deinen Ziehvater, Hexenmeister Maluch, erdolcht?«, fragte er weiter, und sie nickte erneut, diesmal mit bebenden Schultern.

»Aus welchem Grund denn nur?«

Auch jetzt erhielt er nur ein Schweigen und zuckte die Achseln.

»Keinerlei Verteidigung? Nun, denn …«, hob er an, wurde nun aber von seiner Tochter unterbrochen.

»Wartet! Sie tat es aus höherem Zwang.«

Marga wandte sich Juna zu. »Erkläre dem Gericht die Umstände der Tat. Erzähle auch hier, was du mir erzählst hast.«

Die Hexentochter sah auch jetzt nicht hoch, sondern schüttelte nur stumm den Kopf und schluchzte hörbar.

Marga sah ihren Vater an. Sie hüstelte, schickte ein Gebet zu den Göttern, dass die ihr diese Lügen verzeihen mögen, und erklärte mit tonloser Stimme: »Als der von Juna gewählte Beistand werde ich dann für sie sprechen und berichten, was sie zuvor mir mitgeteilt hat.«

Erneut holte sie tief Luft, dachte an Derea und Canon und ihr Versprechen und sprach weiter: »Der Hexenmeister hatte die eigene Niederlage vorhergesehen, und er hatte im Traum sich selbst am Galgen gesehen. Der Gedanke daran, so bar jeder Würde und qualvoll zu enden, war ihm unerträglich. Er vertraute sich dem einzigen Menschen an, der ihn wegen seiner Feigheit nicht verhöhnen würde, seiner geliebten Ziehtochter Juna, und bat sie darum, ihn schnell und schmerzlos zu töten. Juna, die zu diesem Zeitpunkt noch an einen Sieg Camoras glaubte, lehnte dieses Ansinnen entsetzt ab. Ohnehin hätte sie es niemals übers Herz gebracht, den einzigen Menschen zu töten, der ihr immer mit Liebe begegnet war. Aber der Hexenmeister war fest entschlossen, sein Ende in den Armen seiner Tochter zu finden. Er belegte sie mit einem Zauber, drückte ihr seinen Dolch in die Hand und führte ihre Hand. Erst mit seinem Tod verschwand der Zauber, und Juna war zu fassungslos und viel zu sehr in ihrer Trauer gefangen, um einen klaren Gedanken fassen zu können, und versuchte nur noch den Ort des Schreckens zu verlassen. Sie sagte mir, dass sie das Todesurteil, ohne zu zögern, annehmen werde, da sie mit dem Gedanken daran, ihren geliebten Ziehvater erstochen zu haben, ohnehin nicht weiterleben könne. Aus diesem Grund schweigt sie jetzt. Doch ich bin der Meinung, dass Hexenmeister Maluch sie nur als willenlose Waffe für seinen Freitod wählte und eine Verurteilung daher nicht gerechtfertigt wäre.«

Darius musterte seine bleiche Tochter, die jetzt seinen Blick mied, mit unergründlicher Miene und blickte dann zu Juna. »Stimmt es, was dein Beistand uns gerade berichtete?«

Zum ersten Mal sah die Hexentochter hoch, und ihre schönen Augen waren tränenverhangen. »So war es, Fürst. Ich allein habe meinen Ziehvater getötet, den ich über alles geliebt habe. Sein Blut klebt jetzt an meinen Händen. Ich habe den Tod verdient und nehme den Schuldspruch an.«

Schluchzend senkte sie wieder den Kopf, und durch ihren Körper lief ein Beben.

Marga wurde erneut übel, weil sie deutlich spürte, dass das Beben echt war, aber lediglich ein inneres Lachen zum Ausdruck brachte. Sie wusste auch, dass ihr Vater kein Wort von der Geschichte glaubte. Viel zu ausdruckslos war dafür seine Miene.

»Wer sagt uns, dass das alles stimmt?«, fragte einer der Hordenführer und sah Juna an. »Der Hexenmeister kann schließlich nicht mehr widersprechen.«

Fürst Menides betrachtete unterdessen die kleine Waffe auf dem Tisch genauer. »Könnte das der Dolch des Hexenmeisters gewesen sein?«

Ein Hordenführer nickte umgehend. »Das war sein Dolch. Ich erkenne die Schriftzeichen. Sie stellen wohl irgendeinen Zauberspruch dar. Aber er hat ihn vor dem Zweikampf abgelegt.«

»Wisst Ihr das genau?«

»Nein, natürlich nicht! Aber selbst, wenn er ihn bei sich getragen hätte, wäre das immer noch kein Beweis dafür, dass das, was sie sonst noch sagt, auch der Wahrheit entspricht.«

»Nun, aber zumindest könnte es ein Hinweis darauf sein, dass der Hexenmeister selbst und nicht sie gegen das Verbot, eine Waffe zu tragen, verstoßen hat«, warf Darius nüchtern ein.

Eine Weile lang sahen die vier Herren nachdenklich vor sich hin.

»Wenn das mit dem Dolch stimmt, stimmt vielleicht alles andere auch«, erklärte Fürst Menides schließlich. »Ich werde einer Verurteilung unter solchen Umständen nicht zustimmen. Meine Zweifel sind zu groß. Ich kann mir auch keinen Grund vorstellen, der die Beschuldigte zu ihrer Tat getrieben haben sollte. Selbst die Belastungszeugen sprachen alle vom guten Verhältnis zwischen Hexenmeister und Ziehtochter. Keiner hatte auch nur die kleinste Vermutung, warum sie es getan haben könnte. Vieles spricht meines Erachtens daher dafür, dass es sich genau so zugetragen hat, wie es hier vorgetragen wurde. Nichts anderes ergibt einen Sinn. Ich habe in meinem Leben schon genug Tod gesehen, und ich sage hier und heute: Das muss ein Ende haben! Ich habe zu starke Zweifel an der Schuld der Juna Malewi, und bevor ich eine Unschuldige hängen lasse, lasse ich lieber eine Schuldige laufen.«

Die ehemaligen Heerführer der Horden schienen zunächst noch unentschlossen und tuschelten miteinander, aber endlich stimmten sie dem Fürsten zu.

»Auch unsere Zweifel sind zu groß. Wir wollen unseren jungen Frieden nicht durch den Tod einer vielleicht Unschuldigen stören. Selbst, wenn dieses Urteil nicht richtig und gerecht ist, sollten wir unseren ersten gemeinsamen Gerichtshof mit einem Akt der Gnade beenden. Wir stimmen einer Verurteilung daher ebenfalls nicht zu.«

Darius nickte bedächtig. »Dann will auch ich mich den weisen Entschlüssen meiner Vorredner anschließen. Wenn diese erste gemeinsame Entscheidung einst feindlicher Lager wegweisend für die Zukunft unserer Völker sein soll, dann bin ich voller Hoffnung, denn nicht mehr Feindschaft und Rache bestimmen unser Handeln, sondern gegenseitige Achtung und Gnade.«

Er sah Juna an und räusperte sich, bevor er sie ansprach. »Du bist einstimmig freigesprochen und kannst daher gehen, wohin du willst. Schuld wirst du nur noch deinen Göttern gegenüber vertreten müssen. Geh, mein Kind!«

Bei diesen Worten warf er aber bereits seiner Tochter einen längeren, unergründlichen Blick zu. Marga verstand die Botschaft sofort und nickte unglücklich. Auch sie hatte jetzt einiges mit den Göttern zu regeln.

Juna drückte sich noch eine Träne ab, knickste und ging mit Marga an ihrer Seite davon. Kaum außer Hörweite erklärte sie mit einem Seufzen, in dem eindeutig ein Kichern mitschwang: »Die Tränen sind echt. Das war eine wirklich herzergreifende Vorstellung. Ich bin immer noch ganz in meiner Trauer und in meiner tiefen Demut gefangen.«

Die Hauptmännin beschleunigte ihre Schritte, weil sie sich jetzt tatsächlich übergeben musste. Dafür waren Canon und Derea ihr eindeutig etwas schuldig.

Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
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