1. Kapitel
Meister Cato saß mit gerunzelter Stirn an seinem Schreibtisch. Der Raum mit der schweren Tür und nur einem schmalen Luftschacht zwischen Wand und Decke erinnerte an ein Gefängnis. Das große Bett mit dicken Daunenkissen, ein Tisch mit Wasser, Wein, Obst, Käse und Gebäck neben Krombechern und kostbaren Kerzenhaltern, die mit Yapis verziert waren, ließen diesen Gedanken jedoch schnell wieder verschwinden. Auch der gepolsterte Lehnstuhl und die Glocke, mit der er Martha jederzeit rufen konnte, verdrängten den Gedanken an Gefangenschaft.
Kisten mit Pergamenten stapelten sich an einer Wand, und auf dem Schreibtisch lagen verstreut Bücher mit schweren Siegeln und Papierrollen.
Meister Cato strich sich mit der Schreibfeder übers Kinn und hing seinen Gedanken nach. Seit vielen Tagen versuchte er jetzt, die vergilbten, zum Teil beschädigten Schriften längst vergangener Tage zu entziffern, aber ihm fehlte der Schlüssel. Die Alte Sprache war seit Jahrhunderten ausgestorben und völlig anders als alles, was er bisher gesehen hatte. Wie die Pergamente den Lauf der Zeit auf den Nebelinseln überstanden hatten, war ihm ein Rätsel. Vielleicht hing es damit zusammen, dass die Witterungsverhältnisse immer gleichbleibend waren, oder es hatte etwas mit der Magie zu tun, die hier alles irgendwie umgab.
Seine Gedanken schweiften wie so oft ab. Was Gideon jetzt wohl gerade tat? Ob es dem Jungen gutging? Ob er überhaupt noch lebte?
Da er hier immer noch als Weiser der Berge galt, hatte er sich natürlich nach Plänen bezüglich der Erfüllung der Prophezeiung erkundigt. Alles andere wäre merkwürdig erschienen. Martha hatte ihm erklärt, der Prinz sei nach wie vor unauffindbar, genauso wie die Nebelprinzessin Caitlin, was allerdings weniger tragisch sei, schließlich gäbe es ja mehrere Schwestern. Man hatte ihm sogar Prinzessin Sasha, eine schüchterne, rundliche und pausbäckige junge Dame, vorgestellt, die gegebenenfalls mit ihm auf die Reise gehen sollte, sollte man den Prinzen jemals finden. Trotz des ungewissen Schicksals ihrer Schwester schien die junge Prinzessin geradezu begierig, die Reise zur Erfüllung der Prophezeiung anzutreten. Sie …
Die Tür wurde geöffnet, und Königin Ayala, gekleidet in das weiße Gewand der Priesterinnen, unterbrach seine Gedanken. Sie lächelte flüchtig zur Begrüßung und kam umgehend zur Sache. »Meister Cato, Martha berichtete, Ihr macht keinerlei Fortschritte. Ich beginne langsam, mich zu sorgen!«
Er nickte unglücklich und legte die Feder aus der Hand. »Ihr könnt nicht unzufriedener sein als ich selbst. Noch nie habe ich solche Schwierigkeiten gehabt. Aber seht selbst, Königin, ich bin dabei, mich langsam von alten Schriften zu älteren und von denen zu noch älteren durchzuarbeiten, in der Hoffnung, endlich auf Anhaltspunkte oder Ähnlichkeiten mit der Alten Schrift zu stoßen. Ihr könnt Euch vorstellen, wie mühsam und zeitaufwendig das ist. Priesterin Martha wird Euch hoffentlich auch berichtet haben, dass ich fast ohne Pause arbeite. Ich will diese Herausforderung unbedingt meistern, aber diese Schrift ist völlig anders als alles, was ich bisher gesehen habe.« Er seufzte tief. »Ein Ende ist kaum in Sicht!«
Die Königin unterdrückte ihre aufkeimende Wut und Ungeduld und knetete die Hände. »Eilt Euch bitte! Es ist lebenswichtiger denn je, Meister. Stellt Euch vor, der Prinz ist gefunden worden.«
Sie wartete, bis der Gelehrte sein Erstaunen und seine Freude darüber, dass es wirklich und wahrhaftig noch einen Erben gab, genug zum Ausdruck gebracht hatte, und fuhr dann mit sorgenvoller Miene fort: »Ach, Meister Cato, es besteht leider nicht der geringste Anlass zum Jubeln, sondern es steht viel schlimmer, als Ihr es Euch denken könnt. Der Held, auf den wir unsere Hoffnung setzten und unsere Zukunft bauten, ist ein Taugenichts, ein ständig betrunkener Krüppel aus der Gosse, der sich zudem auch noch ganz offensichtlich weigert, seine Aufgabe zu erfüllen. Bevor er sich ihr stellt, versteckt er sich lieber im Wintergebirge. Kälte und Hunger zieht er seiner Verantwortung offensichtlich vor.« Sie lachte freudlos auf, stützte die Hände auf den Schreibtisch und sah den Verianer durchdringend an. »Doch selbst wenn er sich irgendwann entschlösse, seine Pflicht zu erfüllen, was sollte dieser jammervolle Junge denn schon vollbringen können?«
In seinem Gesicht spiegelten sich jetzt Fassungslosigkeit und Entsetzen. »Das ist nicht wahr«, keuchte er und klammerte sich an den Tisch, als hätte er plötzlich Angst, vom Stuhl zu fallen. »Das kann nicht wahr sein. Die Prophezeiung …«
»Oh, Meister, ich wünschte wirklich, es wäre anders, aber die Berichte aus dem Norden sind glaubwürdig. Prinz Rhonan scheint – ich will es einmal ganz freundlich ausdrücken – überhaupt nicht geeignet zu sein, irgendjemanden zu führen oder gar zu retten. Lediglich bei Schankwirten und Talermädchen ist er gern gesehen.«
Dem Gelehrten fehlten die Worte. Schweigend starrte er die Königin an, und die fuhr fort: »Ihr könnt Euch vorstellen, was das bedeutet? Wollt Ihr Euch und meine Tochter einem Trunksüchtigen anvertrauen? Wollt Ihr die Rettung der Völker in die Hand eines Mannes legen, der offensichtlich nicht einmal mit sich selbst fertig werden kann? Ihr müsst die Schriften übersetzen. Geben sie uns doch vielleicht einen Hinweis darauf, wie wir die Quelle auch ohne die Siegelerben wieder schließen könnten. Ich bitte Euch, … nein, ich beschwöre Euch, Meister: Gebt Euer Bestes, und gebt es schnell!«
Er nickte, immer noch unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen.
»Habt Ihr denn wirklich noch gar nichts herausfinden können, was uns in unserer Not weiterhelfen könnte?«
Ihre Stimme klang flehend, aber er schüttelte nur den Kopf.
Ayala holte tief Luft und nickte entschlossen. »Vergesst die Prophezeiung! Ich fürchte, es liegt an Euch und an uns, die Welt zu retten, denn der Schatten breitet sich immer schneller aus. Camora zieht seine düsteren Kreise immer enger, steht schon vor den Toren Mar’Elchs. El’Maran wird nicht mehr lange standhalten können. Ist es gefallen, werden sich auch die verbliebenen Reiche Camora unterwerfen. Es bleibt uns nur noch wenig Zeit!«
»Seid versichert, ich werde tun, was in meiner Macht steht.«
»Ich weiß, ich weiß. Sagt, wenn Ihr Hilfe benötigt!«
Sie wandte sich ab, drehte sich aber noch einmal um. »Fast hätte ich es vergessen: Meister Cato, sagen Euch dunkelgrüne Augen zufällig etwas?«
Er sah gedankenverloren vor sich hin und murmelte geistesabwesend:
»Augen wie funkelnder Edelstein: Du bist betört und ganz von Sinnen.
Augen wie das unendliche, tiefe Meer: Was du auch tust, es wird dich verschlingen.
Du willst entrinnen, doch es geht nicht mehr.
Wen die Augen erblicken, geben nimmer sie her.
Und die Trauer des Königs, sie schmolz dahin
in den dunkelgrünen Augen seiner neuen Königin.«
Er zuckte verlegen die Achseln. »Ein wahrhaft scheußliches Gedicht. Verzeiht! Es war nur das Erste, was mir in den Sinn kam. Ich denke gern weiter darüber nach, wenn Zeit dafür ist.« Er nickte freundlich und wandte sich wieder seinen Schriften zu.
Ayala aber starrte ihn unverwandt an. »Dieses Gedicht … wen beschreibt es?«
»Palema, die erste Großkönigin da’Kandars! Sie war die zweite Frau des Königs und soll so schön wie klug und stark gewesen sein.«
»Palema? Sagtet Ihr, die erste Großkönigin?« Die Königin schwankte leicht.
»Ja, ja!« Dem Weisen entging ihr Entsetzen. Er starrte schon völlig gebannt auf das Pergament, das vor ihm lag. Sollte er tatsächlich, konnte … konnte dieses Wort Palema bedeuten?
Ayala achtete genauso wenig auf die plötzliche Aufgeregtheit des Weisen. Seit Tagen suchten ihre Priesterinnen nach Hinweisen auf grüne Augen im Stammbaum des Prinzen. So weit zurück waren sie natürlich nicht gegangen. Grüne Augen und Ansätze von Magie … hier waren in der Tat Mächte beteiligt, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Ihr weiteres Vorgehen musste sie überdenken, wenn derartige Zauberkräfte im Spiel waren. Grußlos und nachdenklich verließ sie den Raum.
Meister Cato bekam das gar nicht mehr mit, sondern starrte nach wie vor auf das Schriftstück vor seinen Augen. Er war zu sehr Gelehrter: Vergessen waren die Siegelerben, vergessen die Prophezeiung. War das der Anfang? War das der Schlüssel zur Übersetzung? Er vergaß die Welt um sich herum und griff zur Feder.
In Ten’Shur schienen jeder Mann und jede Frau beschäftigt und fröhlich zu sein.
Marga saß in der Nähe des Nordtores auf dem Kutschbock und belächelte das bunte Treiben. Sie liebte den Anblick der erleichterten Menschen nach einer gewonnenen Schlacht. Das Leben in dieser Stadt war einfach und hart, aber die Bewohner nahmen es dankbar an. Sie waren arm, aber sie waren frei, und sie hatten Camora erneut die Stirn geboten. Allein das ließ sie singen und zufrieden sein.
Derea, der auf seinem Weg durch die Stadt aus dem Händeschütteln gar nicht mehr herausgekommen war, kam endlich auf sie zu und erklärte seufzend: »Dankbarkeit ist wirklich schön, kann aber verdammt schnell lästig werden, obwohl ich …«
Er stutzte, lauschte und fragte dann: »Hab ich da eben ein Geräusch aus Eurem Wagen gehört?«
Marga zog die Nase kraus. »Aus unserem Wagen? Das kann ich mir kaum denken, aber seht zur Sicherheit besser nach.«
Der Hauptmann ging um den Wagen herum und schob die Plane auseinander. Knurren empfing ihn, und gelbe Wolfsaugen musterten ihn angriffslustig.
»Blitz und Donner!«, entfuhr es ihm. Rasch ließ er die Plane wieder fallen. »Was einige Leute so mit sich führen.«
Sie lachte fröhlich. »Es sind drei, und sie sind sehr folgsam. Eigentlich laufen sie ja, aber in der Nähe von Städten hält Raoul es für besser, sie im Wagen zu lassen.«
»Sehr umsichtig«, bemerkte ihr neuer Begleiter. »Ihr seid ein Schelm, Hauptmann. Ihr hättet es mir auch einfach sagen können.«
Sie sah ihn spitzbübisch an. »Ich weiß doch, dass Ihr immer gern alles selbst überprüft«, erklärte sie mit einem Grinsen.
Er schüttelte nur belustigt den Kopf und drohte leicht mit dem Finger, denn der General kam jetzt hoch zu Ross auf sie zu und musterte ihn ärgerlich. »Hast du dich endlich von jedem Bewohner persönlich verabschiedet? Und was ist jetzt? Willst du uns zu Fuß begleiten?« Seine Stimme klang äußerst ungeduldig.
Derea schüttelte den Kopf und stieß einen schrillen Pfiff aus.
Raoul hatte Mühe, sein Pferd ruhig zu halten, und aus dem Planwagen ertönte umgehend ein lautes Heulen.
Der Hauptmann zog eine verlegene Grimasse, zuckte die Achseln und wies erklärend auf eine Häuserecke, um die gerade ein gesatteltes, aber reiterloses Pferd getrabt kam. »Ich vergesse immerzu, wo ich es abgestellt habe. So ist das für uns beide einfacher.«
Er tätschelte freundlich den Hals des riesigen Streitrosses. »Patras, ich hab’s heute etwas im Kreuz, hab einfach zu lang gesessen.«
Das Pferd ließ sich brav auf die Vorderläufe nieder und Derea stieg in den Sattel und lächelte den verdutzten General an. »Versucht ja nie, ihn zu reiten! Er wirft Euch ab. Er mag nämlich nur mich und Fremde überhaupt nicht.«
»Du bringst einem Streitross Kunststückchen bei?«, fragte Raoul, und reine Empörung schwang in seinen Worten mit.
Einem Berittenen waren nur zwei Dinge heilig: sein Pferd und seine Waffe! Die Pferde der Flammenreiter waren wertvolle Züchtungen und galten als die besten der Reiche. Sie waren eigens für den Kampf gezüchtet, und weder Feuer noch der Geruch von Blut oder das Klirren der Waffen ließ sie unruhig werden. Es waren stolze Tiere und sicher keine Spielgefährten.
»Patras mag das«, erwiderte der junge Mann mit blitzenden Augen. »Er ist auch gern lustig, wenn es die Umstände zulassen, genau wie ich. Kann’s losgehen?«
Marga sah gen Himmel. Was für eine Begleitung?! Die Männer waren schon seltsam, die Wölfe ungewöhnlich und jetzt auch noch ein lustiges Pferd.
Der General schnaubte verächtlich und lenkte sein Pferd Richtung Nordtor.
Derea ließ Patras neben dem Wagen gehen. »Sagt, wenn Ihr Euch ein wenig ausruhen wollt, dann lenke ich den Wagen.«
»Danke«, erwiderte sie, »aber auf dem Kutschbock habe ich keine Schwierigkeiten. Was glaubt Ihr, wie lange wir unterwegs sein werden? Der General meint vierzehn Tage. Mir kommt das viel zu knapp bemessen vor.«
Er winkte noch einigen Gardisten zu, die ihn wie jedes Mal, wenn sie ihn sahen, jubelnd hochleben ließen, und erwiderte: »Wenn wir quer durch Camoras Gebiet reisen, kommt das schon hin! Kambala ist ja leider seit einiger Zeit Feindesland, aber so ein paar unauffällige Herumtreiber wie wir werden kaum die Aufmerksamkeit der Horden erregen.«
Sie warf ihm einen Seitenblick zu. Vielleicht war er ja der Ansicht, dass Schwarz eine unauffällige Farbe war, aber Herumtreiber? Sie hätte ihn jedenfalls kaum so bezeichnet. Über seiner üblichen schwarzen Lederkleidung trug er einen Umhang in derselben Farbe. Auf seinem Kopf hatte er einen riesigen, ebenfalls schwarzen Schlapphut, unter dessen Krempe sich seine glänzenden Locken hervorkringelten. Einziger Farbtupfer an seiner Kleidung war ein grellrotes Halstuch, das ihm kurz zuvor ein kicherndes junges Mädchen umgebunden hatte. Sie war sich ziemlich sicher, dass er nicht nur hier, sondern überall unweigerlich die Aufmerksamkeit jedes weiblichen Wesens auf sich ziehen würde. Glücklicherweise gab es nicht viele Frauen bei den Horden. Es war schon ein Ärgernis, dass ein Mann so schönes Haar haben konnte. Sie hatte ihre krausen blonden Haare meist zum Zopf geflochten. Wenn sie sie offen trug, hatte sie immer das Gefühl, Gestrüpp auf dem Kopf zu haben. Und warum hatte er so makellose Haut, während sie sich über Sommersprossen ärgern musste?
»Wart Ihr schon einmal in Kairan?«, fragte sie, um auf andere Gedanken zu kommen.
Er schüttelte den Kopf. »Irgendwie gehört Kairan ja weder zum Reich noch zu Camora. In der Stadt soll sich nur Gesindel rumtreiben, seit die Tempelwächter tot sind. Ich reise auch nur ungern dahin. Ich bin Krieger und kein Spion. Das mit dieser Heimlichtuerei, das kriege ich nicht gut hin. Ich kann mir nämlich ganz schlecht Sachen merken. Also, von Schlachten könnte ich Euch jede Einzelheit erzählen, aber wer heute Morgen alles bei mir vorgesprochen hat, weiß ich schon nicht mehr. Canon meint, ich würde das hinkriegen, aber ich weiß ja nicht so recht.«
Er sah so verzweifelt drein, dass sie auflachte. »Oh, Derea, ich glaube auch, dass Ihr das hinkriegt. Ihr traut Euch zu wenig zu.«
»Das könnt Ihr nur sagen, weil Ihr mich nicht richtig kennt«, brummte er. »Ich lass so schnell kein Fettnäpfchen aus. Ich treff sie alle.«
Er tat so, als ob er einen Pfeil abschießen würde. »Zielsicher, ohne eins auszulassen und mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit! Wenn ich etwas kann, dann das.«
Ihr helles Lachen hallte über die Ebene. »Hauptmann, Ihr seid einmalig.«
»Den Göttern sei Dank, pflegt mein Bruder immer zu sagen. Zwei von meiner Sorte hält keine Armee so ohne weiteres aus. Canon sagt, ich wäre ihnen vielleicht sogar nützlicher, wenn ich auf Camoras Seite stünde – bei dem Durcheinander, das ich oft anrichte.«
»Oh, bringt mich bitte nicht fortwährend zum Lachen«, forderte Marga und hielt sich die Seite.
Der General sah sich daraufhin ungehalten um. »Ich habe es immer gern, wenn ausgelassene Stimmung herrscht«, fluchte er.
»Ich auch«, stimmte Derea umgehend mit funkelnden Augen zu. »Es macht vieles leichter, nicht wahr?«
Raoul riss sein Pferd herum und kam zurück. Drohend baute er sich vor dem Hauptmann auf. »Könnte es sein, dass dir Ernst und Bedeutung unserer Reise nicht bekannt sind?«
»Nein!«
Raoul stutzte leicht ob der prompten, knappen Antwort. »Warum tust du dann so?«
»Tu ich doch gar nicht.«
»Und was soll dann dieses alberne Gerede und Gelächter?«
Derea wies mit ausladender Geste um sich herum. »Wir sind allein auf weiter Ebene. Glaubt Ihr, wir kommen schneller voran, wenn wir ernste Gespräche führen oder unheilvoll um uns herumblicken? Schaut Euch an: Ihr seid ernst, und Ihr seid der Erste, der uns aufhält. Haben wir es doch nicht so eilig?«
Der letzte Satz war in so unschuldigem Ton vorgebracht, dass Marga größte Mühe hatte, nicht erneut aufzulachen. Ihr Lebensretter riss sein Pferd herum und galoppierte wütend davon. Er stieß einen kurzen Pfiff aus, und die Wölfe sprangen vom Wagen und hetzten ihrem Herrn hinterher.
»Na, der ist vielleicht schwierig«, bemerkte Derea und verdrehte die Augen.
Marga widersprach: »Er ist ein feiner Mensch. Ihr kennt ihn nur noch nicht richtig.«
»Das liegt wohl kaum an mir.«
»Nehmt Ihr ihm das übel?« Sie beobachtete ihn aufmerksam, um vielleicht zu erkennen, ob er verletzt war, aber er sah sie völlig offen an.
»Warum sollte ich? Er war ja nur mein Erzeuger, sogar nur mein gezwungener Erzeuger. Darauf besteht er ja ausdrücklich. Dabei kennt er mich noch gar nicht so lange. Aber ich kann mich nun wirklich nicht beklagen. Ich habe nur eine kleine, aber eine sehr gute Familie. Ich habe Canon, der sich immer um mich gekümmert hat, wenn Mutter auf einem ihrer Feldzüge war. Und Königin Morwena ist die beste Mutter, die ich mir vorstellen kann. Ich bin mehr als dankbar dafür, dass sie uns aufgenommen hat. Stellt Euch vor: Sie hätte seinerzeit für einen Gefallen von Ayala eine seltene Pflanze haben können, aber sie hat uns genommen. Mutter erzählte, Ayala hätte ihre Wahl sehr merkwürdig gefunden und war wohl versucht, ihr noch ein kleines Blümchen dazuzugeben.«
Er überging ihr Kichern und fuhr fort: »Ich glaube, nein, ich weiß, ich habe eine glückliche Kindheit gehabt. Manchmal da habe ich ein schlechtes Gewissen Canon gegenüber. Schließlich ist er ja nur knappe zwei Jahre älter als ich. Aber der lacht immer nur, wenn ich mit ihm darüber sprechen will. Er sagt, es hätte ihm Spaß gemacht, mich zu erziehen, obwohl man an dem Ergebnis sehen könnte, dass er nicht viel Übung darin gehabt hätte.«
Marga lächelte ihn warmherzig an. »Ich finde das Ergebnis jedenfalls sehr liebenswert.«
»Ein liebenswerter Hauptmann? Hoffentlich ist unser General damit zufrieden? Aber für ihn kann ich ja mal wild gucken. Das kann ich auch, wenn ich in Stimmung bin. Ihr würdet staunen.«
Sie ging nicht darauf ein. »Ihr liebt Eure Familie sehr, nicht wahr?«, fragte sie stattdessen.
»Ja«, erwiderte er schlicht, und Marga seufzte auf.
»Es klingt so warm, wie Ihr das so selbstverständlich sagt. Meine Mutter starb, als ich noch sehr klein war. Ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern, und mein Vater hatte nur selten Zeit für mich und selbst dann eigentlich immer etwas anderes im Kopf.«
Er nickte. »So war das auch bei Mutter! Canon und ich, wir wuchsen auf wie Prinzen, aber sie selbst war ständig irgendwo mit irgendwelchen Kämpfen beschäftigt. Wenn sie dann mal da war, hat sie sich immer zuerst um uns gekümmert. Während sie aß und trank, erzählten wir ihr von unseren Erlebnissen, Erfolgen und Misserfolgen. Sie hörte zu, lobte oder gab Ratschläge. Wenn wir dann abends am Kamin saßen, erzählte sie uns nächtelang von Schlachten und Kriegstaktiken. Vielleicht nicht unbedingt Gute-Nacht-Geschichten für Kinder, aber sie hat sich für uns Zeit genommen. Sie hat uns gegeben, was sie konnte – mehr ließ der Krieg nicht zu.«
»Ja, die Zeiten sind nicht eben geschaffen für Familienglück. Die meisten Menschen in unserem Haushalt kannte ich besser als meinen Vater. Versteht mich nicht falsch! Er liebt mich, aber es fällt ihm schwer, mir das zu zeigen.«
»Ja, manche Menschen sind schon seltsam, wenn es um Gefühle geht«, stimmte Derea sofort zu. »Versteht jetzt mich nicht falsch, aber Euer Vater ist mir tatsächlich immer sehr kühl vorgekommen. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass er mich wohl nicht sonderlich leiden kann. Zumindest habe ich immer das Gefühl, er würde mich am liebsten aus dem nächsten Fenster werfen.«
»Das könnte sogar stimmen. Er hält Euch für einen reinen Bruder Leichtfuß.«
»Mich?« Die Stimme klang so ungläubig, dass Marga erneut auflachte.
Der General kniff die Lippen zusammen. Marga, die ihm bisher so vernünftig erschienen war, kicherte schon wieder wie ein Mädchen, das noch von der Kinderfrau betreut wurde. Sein merkwürdiger Sohn hatte offensichtlich großen Einfluss auf seine Umgebung. Vielleicht hatte er sich doch nicht die richtige Begleitung ausgesucht.