24.
Kapitel
Zwei Stunden später wimmelt es auf der Farm von Menschen. Neben den Deputys vom Sheriffbüro und den Polizisten des hiesigen Polizeireviers sind jetzt auch Sanitäter von der freiwilligen Feuerwehr und eine Menge Trooper der Highway Patrol hier. Der SUV des Coroners parkt vor der Scheune. Auf dem Zufahrtsweg, aber hinter der Absperrung, steht ein Übertragungswagen von WCVK, dem regionalen Fernsehsender von Cleveland. Eine junge Journalistin im limonengrünen Regenmantel fährt sich mit der Hand durch die Haare, während der Kameramann die Scheinwerfer aufstellt.
Ich will gerade Tomasetti suchen gehen, als er mit düsterem Gesicht aus dem Haus tritt. Bei meinem Anblick hellt es sich auf, und er steuert auf mich zu. »Du wirst ganz nass, Chief.«
Dass ich das nicht gemerkt habe, sagt viel über meine Verfassung aus. Ich bin so froh, ihn zu sehen – aus vielerlei Gründen –, und muss mich zusammenreißen, um ihm nicht um den Hals zu fallen. »Gibt’s was Neues?«, frage ich ganz professionell.
»Es wird eine Weile dauern, bis wir genau wissen, was sich hier abgespielt hat«, sagt er. »Wie geht es den Geiseln?«
Ich habe die letzte Stunde im Tunnel bei den drei Mädchen verbracht, während man ihnen die Fesseln abmontiert hat.
»Sadie Miller und Bonnie Fisher sind in einem relativ guten Zustand, zumindest körperlich.« Ich sehe Tomasetti an und seufze. »Das dritte Mädchen ist wahrscheinlich Ruth Wagler. Sie ist in einem furchtbaren Zustand, ausgemergelt und schwach, beinahe katatonisch.«
»Ich habe die Waglers benachrichtigen lassen«, sagt er. »Ein Deputy holt sie mit dem Wagen in Sharon ab und bringt sie hierher.« Er hält inne. »Hast du schon mit der Familie von Sadie Miller gesprochen?«
»Ich hab Glock angerufen und ihn zur Farm meiner Schwester geschickt. Sie waren … na ja, überglücklich. Und sehr dankbar.« Ich grinse. »Schreiben natürlich das Verdienst Gott zu.«
»Ah … das traurige Schicksal eines jeden Polizisten.«
Wir beobachten, wie ein Krankenwagen wegfährt, und ich muss an die Tote denken, die ich gefunden habe. »Wurden noch mehr Leichen entdeckt?«
»Ein Deputy hat im Schweinestall Knochen gefunden«, sagt er. »Zwei Schädel.«
»O Gott.« Mich schaudert, ich will mir nicht vorstellen, was das bedeutet.
»Wir werden das ganze Grundstück absuchen. Der Sheriff schickt Spezialisten mit Leichensuchhunden.«
Ich frage mich, ob wir jemals die ganze Geschichte – und Hintergründe – erfahren werden. »Hast du mit Noah Mast gesprochen?«
Er nickt. »Zusammen mit einem der Trooper, während wir auf den Krankenwagen gewartet haben. Der Junge ist in einem schlimmen Zustand, komplett verwirrt. Weiß nicht einmal, welches Jahr wir haben.«
Ich kann mir kaum vorstellen, was das bedeutet. Die Zustände hier waren grauenhaft – ein schmutziges, feuchtes Loch ohne sanitäre Anlage. Die Geiseln sind alle unterernährt und verdreckt, und was die neun Jahre psychisch mit ihm gemacht haben, wage ich mir kaum auszumalen.
»Weiß er, dass seine Eltern tot sind?«, frage ich.
»Noch nicht.«
Rebecca Mast fällt mir ein, ihr Selbstmord. »Bei alledem frage ich mich, was damals mit seiner Schwester wirklich passiert ist.«
Tomasetti nickt. »Wir haben Noah danach gefragt. Offensichtlich haben seine Eltern ihn für ihren Tod verantwortlich gemacht.«
»Aber es war doch Selbstmord.«
»Vielleicht. Wir müssen uns den Obduktionsbericht genau ansehen, die Leiche möglicherweise exhumieren.«
Ich frage mich, wieso die Eltern den Sohn für schuldig hielten. »Hat Noah gesagt, warum sie ihm die Schuld gegeben haben?«
»Dazu hatten wir noch keine Zeit. Die Sanitäter haben ihn ins Krankenhaus nach Mayfield Heights gebracht, wo er erst einmal bleibt. Wenn dort die Formalitäten erledigt sind, setzen wir die Befragung in seinem Zimmer fort.« Tomasettis Gesicht verdüstert sich. »Hast du noch was von den Mädchen erfahren?«
»Nichts von Bedeutung, sie sind ziemlich mitgenommen.«
»Wir müssen mit ihnen reden.«
»Bonnie Fisher und Ruth Wagler sind im selben Krankenhaus wie Noah. Sadie ist nach Millersburg ins Pomerene gekommen, damit die Familie bei ihr sein kann.«
Stille tritt ein, nur das statische Knistern des Polizeifunks und das Platschen des Regens sind zu hören. »Tomasetti, was zum Teufel ging hier vor?«
Er schüttelt den Kopf, hat weder eine Antwort noch das Vorstellungsvermögen, um die Niedertracht und den Irrsinn des Ganzen zu verstehen.
»Die Masts kamen mir so normal vor«, sage ich.
»Nur dass sie mindestens fünf Teenager gekidnapped, mindestens drei Menschen umgebracht und ihren eigenen Sohn neun Jahre lang gefangen gehalten haben«, knurrt er.
In dem nachfolgenden Schweigen sehen wir einem Trooper in gelber Regenjacke zu, wie er einen jungen Reporter abwimmelt, während wir im Stillen weiter nach Antworten suchen. Meine Gedanken kreisen um Bonnie Fisher, Sadie Miller und Noah Mast. Tomasetti hat recht: Sie sind unsere besten Informationsquellen, um nicht zu sagen unsere einzigen, wo die Masts jetzt tot sind.
Hoffentlich wissen sie genug, um uns das Warum beantworten zu können.
* * *
Der Abschluss einer Ermittlung geht mit zahlreichen Belohnungen einher. An oberster Stelle rangiert das Wissen, einen gefährlichen Menschen – in diesem Fall zwei – aus dem Verkehr gezogen und weiteres Unheil verhindert zu haben. Zudem ist es äußerst befriedigend, gute Arbeit zu leisten und zu wissen, dass die Energie und die Zeit, die man investiert hat, sich bezahlt gemacht haben. Und nicht zuletzt die intellektuelle Genugtuung, schließlich dem »Warum« nachgehen zu können.
Mehr als alles andere ist Letzteres der Motor, der Tomasetti und mich antreibt, als wir in die Notaufnahme des Hillcrest Hospital in Mayfield Heights, einer kleinen Gemeinde östlich von Cleveland, kommen.
Schweigend fahren wir im Aufzug nach oben, wo die Türen sich zu einer hell erleuchteten Krankenstation öffnen. Eine korpulente Frau in pinkfarbenem Arztkittel sitzt am Schreibtisch und starrt auf den Computerbildschirm. Sie sagt nichts, als wir eintreten, doch ihr Mund verzieht sich zu einem dünnen, unfreundlichen Strich. Vermutlich sieht sie es nicht gern, dass die Polizei ihre neuen, im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehenden Patienten befragt.
Zahlreiche Türen reihen sich entlang des weiß gekachelten Flurs. Wir müssen nicht fragen, in welchen Zimmern die Opfer der Masts liegen. Vor den Nummern 308 und 312 stehen zwei Deputys des Sheriffbüros von Lake County sowie ein State Highway Patrol Trooper, trinken Kaffee und unterhalten sich leise. Als wir uns nähern, beäugen sie uns mit dem finsteren Blick eines Hunderudels, das sein Revier von Eindringlingen bedroht sieht. Ein Polizist vom örtlichen Revier sitzt auf einem Stuhl und liest in einer Illustrierten.
Da das Verbrechen im ländlichen Lake County verübt wurde, fällt der Fall in den Zuständigkeitsbereich des Sheriffbüros. Weil aber Tomasetti und ich seit Bildung der Sonderkommission Teil der Ermittlungen sind, dürfte unsere Anwesenheit bei den Verhören kein Problem sein.
Tomasetti und ich zeigen unsere Dienstmarken. Einer der Deputys kommt auf uns zu und schüttelt uns die Hand. »Ich bin Ralph Tannin vom Lake-County-Sheriffbüro.«
Er stellt uns die anderen Männer vor, von denen einer dem Polizeirevier in Monongahela Falls angehört. Dann wendet er sich mir zu. »Wir möchten Ihnen dafür danken, was Sie getan haben, Chief Burkholder.«
»Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort«, erwidere ich.
»Niemand hat auch nur ansatzweise geahnt, was da draußen auf der Farm vor sich geht.« Er schüttelt den Kopf. »Ein amisches Ehepaar mittleren Alters, Herrgott nochmal!«
»Haben Sie schon mit den Jugendlichen gesprochen?«, fragt Tomasetti.
»Der Doc ist gerade bei dem Fisher-Mädchen.« Tannin zeigt auf das Zimmer direkt hinter ihm.
»Haben Sie noch irgendetwas auf der Farm gefunden?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. »Nur die beiden Schädel. Aber wir sind mit der Suche noch lange nicht durch.«
Die Tür hinter ihm geht auf, und ein großer, schlanker Mann in einem weißen Laborkittel über Krankenhauskleidung mit SpongeBob-Figuren kommt heraus. Er ist jung, vielleicht dreißig, mit Bartstoppeln und großen dunklen Ringen um die Augen, die auf eine sehr lange Schicht schließen lassen. Auf seinem Namensschild steht Dr. Barton.
»Wie geht es ihr?«, frage ich.
Der Arzt sieht mich über die Brille hinweg an. »Sie ist dehydriert, erschöpft, traumatisiert, aber sie wird es schaffen.« Er blickt Tannin an. »Kommen ihre Eltern?«
Der Deputy nickt. »Jemand fährt sie her, innerhalb der nächsten Stunde sollten sie eintreffen.«
»Gut«, sagt der Arzt. »Das Mädchen braucht sie.«
»Können wir mit ihr reden?«, fragt Tomasetti.
Barton nickt zögerlich. »Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, machen Sie es kurz, und achten Sie darauf, dass sie sich nicht zu sehr aufregt.«
»Und was ist mit Ruth Wagler?«, frage ich.
Dr. Barton schüttelt den Kopf. »Sie wird wohl eine ganze Weile mit niemandem reden.«
Tomasetti zeigt auf die Tür von Noah Masts Zimmer. »Mit ihm müssen wir auch noch sprechen.«
»Ich werde ihn als Nächstes untersuchen«, erwidert der Arzt. »Bei ihm gelten die gleichen Regeln: Machen Sie es kurz und gehen Sie behutsam vor.« Mit den Worten dreht er sich um und verschwindet in Noah Masts Zimmer.
Tannin sieht mich an. »Wenn ich es richtig verstanden habe, waren Sie einige Zeit bei den Mädchen im Tunnel.«
»Nur ein paar Minuten, dann bin ich Hilfe holen gegangen«, antworte ich. »Und ich war dabei, als ihnen die Fesseln abgemacht wurden.«
»Ich habe gehört, Sie waren selbst einmal amisch, stimmt das?«, fragt er.
Mein Lächeln hat etwas Bemühtes. »Sie haben richtig gehört.«
»Von mir aus können Sie gerne die Befragung durchführen.« Er sieht zu dem anderen Deputy, zu Tomasetti und wieder zu mir. »Das ist dem Mädchen heute Abend sicher lieber.«
»Gern«, sage ich.
Er zeigt auf die Tür, und wir gehen zu dritt in Bonnie Fishers Zimmer. Sie liegt dünn und bleich mit einer Infusionsnadel im Arm im Krankenhausbett, macht aber schon einen deutlich besseren Eindruck als im Tunnel, wo ich sie verzweifelt und mit wildem Blick gefunden habe. Ihre frisch gewaschenen Haare sind noch feucht, und vermutlich hat ihr eine Krankenschwester beim Duschen geholfen, nachdem sie aus der Notaufnahme hierher verlegt wurde. Die einzigen physischen Merkmale der Tortur, die sie hinter sich hat, sind die Verletzungen um ihren Mund und die violetten Blutergüsse an den Handgelenken.
Doch während die körperlichen Wunden relativ geringfügig sind, ist der Schaden, den ihre Seele genommen hat, sicher groß. Bonnie Fisher hat jetzt den Gesichtsausdruck eines Opfers. In ihren Augen liegt ein Schatten, der den Verlust von Unschuld verdeutlicht, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die Welt noch immer für sicher und die Menschen für grundlegend gut hält.
»Hallo.« Sie schenkt mir ein zittriges Lächeln und hebt die Hand. »Sie sind hier.«
»Du kannst Katie zu mir sagen.« Ich drücke ihre Hand. »Wie fühlst du dich?«
»Als hätte ich gerade einen Tequila auf ex getrunken«, erwidert sie. »Nur dass der Hals nicht brennt.«
»Der Arzt hat uns gesagt, dass er dir ein Beruhigungsmittel gegeben hat.«
»Ich habe Angst, dass ich einschlafe.« Sie blickt aus dem Fenster in den Regen und die Dunkelheit, und ein Beben geht durch ihren Körper. »Ich habe Angst, dass ich aufwache und wieder unter der Erde bin.«
»Das wird nicht passieren, okay? Du bist hier sicher.«
Sie nickt.
»Hat der Arzt dir gesagt, dass deine Eltern auf dem Weg hierher sind?«
»Nein, aber die Krankenschwester. Ich kann es kaum erwarten, sie zu sehen.« Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Ich will meine Mamm.«
»Ich weiß, Bonnie.« Ich drücke sanft ihren Arm. »Meinst du, du kannst uns ein paar Fragen beantworten?«
Sie sieht an mir vorbei zu Tomasetti und Tannin, doch sie senkt schnell wieder den Blick. »Ja, schon.«
Ich setze mich auf den Stuhl an ihrem Bett und hole mein Notizbuch hervor. »Bonnie, wir müssen wissen, wie du in den Tunnel gekommen bist. Kannst du uns das erzählen?«
Sie reagiert auf die Frage, als wolle sie einem körperlichen Angriff ausweichen, drückt sich tiefer zurück ins Bett und zieht die Decke hoch zum Kinn. »Es kommt mir schon so lange her vor.«
Ich nicke verständnisvoll. »Nimm dir ruhig Zeit.«
Es dauert eine volle Minute, bevor sie schließlich spricht. »Ich bin mit dem Fahrrad zur Arbeit in die Schreinerei gefahren«, beginnt sie. »Es fing gerade an, hell zu werden, ich war spät und hab mich beeilt. Hinter mir war ein Auto, aber viel zu dicht. Ich hab weiter in die Pedale getreten, doch weiß ich noch, dass ich den Fahrer unmöglich fand, weil er doch Platz genug hatte, um zu überholen. Sie wissen ja selbst, wie die Touristen sind, haben es immer nur eilig.« Sie verstummt, sieht wieder aus dem Fenster.
»Was ist dann passiert?«, frage ich.
»Das Auto hat mich von hinten angefahren, mein Hinterrad fing an zu eiern, und ich hab die Kontrolle verloren und bin im Straßengraben gelandet.«
»Warst du verletzt?«
Sie lacht kurz auf. »Ich war wütend und wollte dem Fahrer die Meinung geigen.« Ihr Gesicht wird wieder ernst, die Erinnerung holt sie ein.
»Der alte Mann stand einfach nur da«, flüstert sie, »und hat mich mit diesem grusligen Ausdruck im Gesicht angesehen.«
»Wer war der alte Mann, Bonnie?«
»Diakon Mast.«
»Perry Mast?«
Sie nickt. »Er hat verlangt, dass wir ihn mit ›Diakon‹ ansprechen.«
»Was für ein Auto war das?«
Sie schüttelt den Kopf. »Alt und blau, glaube ich.«
Der alte Ford Kombi im Schuppen. »Was ist dann passiert?«
»Ich hab ihn beschuldigt, wie ein Irrer zu fahren.« Ihre Stimme beginnt zu zittern. »Diakon Mast … der alte Mann hat getan, als würde es ihm leidtun und als wolle er mir helfen. Er kam zu mir, und als er nahe genug war, hat er mich mit einer Nadel gestochen.«
»Mit was für einer Nadel?«
»Womit wir zu Hause die Kälber impfen.«
»Einer Spritze?«
Sie nickt. »Ich dachte, er ist verrückt. Ich hab geschrien und wollte auf mein Fahrrad steigen, aber in der Spritze war irgendwas, das mich müde gemacht hat, und ich konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen.«
»War er allein?«
»Ich hab sonst niemanden gesehen.«
»Und was ist dann passiert?«
»Danach kam mir alles ein bisschen wie ein Traum vor, aber ich bin sicher, dass er mich in den Kofferraum geladen hat. Ich erinnere mich, dass ich weggefahren wurde und es um mich herum dunkel war.«
»Hat er dir Hände und Füße zusammengebunden?«
»Nur die Hände. Ich weiß noch, dass meine Handgelenke wund waren, als ich wieder aufgewacht bin.«
»Und wo bist du wieder aufgewacht?«
»Na ja, da unten.« Sie verzieht das Gesicht und senkt den Blick. »In dem furchtbaren unterirdischen Raum.«
Ich frage weiter, denn sie wird bald einen Punkt erreichen, wo sie entweder zu aufgewühlt oder vom Beruhigungsmittel zu müde ist. »War sonst noch jemand mit dir da unten?«
»Das verrückte Mädchen heißt Ruth.« Bonnie sieht mich an. »Haben Sie sie gerettet, Katie?«
»Ja, sie ist gerettet.«
»Da war noch ein Mädchen, Leah.« Der Name kommt nur schleppend aus ihrem Mund, offensichtlich beginnt das Mittel zu wirken. »Aber sie ist irgendwann nicht mehr aufgewacht, und dann haben sie sie weggebracht.«
Dann scheint das wirklich Leahs Leiche zu sein, die da unten lag. Wahrscheinlich hat sie dem physischen und psychischen Stress nicht länger standgehalten und ist krank geworden. Ich frage mich, ob die Masts sie wie einen Müllsack aus dem Raum gezogen haben und in der Nische verrotten lassen wollten.
»Hast du irgendwann auch Masts Frau Irene gesehen?«, frage ich.
»Die alte Frau hat uns das Essen gebracht, meistens Scrapple, und Brot. Sie war nicht unfreundlich, aber meine Mamm kann besser kochen.«
Ich lächele. »Hast du auch einmal einen jungen Mann gesehen?«
Sie runzelt die Stirn. »Nein, aber manchmal habe ich Männerstimmen gehört.«
»Hat Diakon Mast dir gesagt, warum er dich festhält?«, frage ich. »Warum du dort unten leben musst?«
»Er hat zu uns gesagt, wir wären da, um Buße zu tun und unsere Sünden zu beichten. Dass er unsere Seelen retten will.« Sie starrt mich entsetzt an, als könne sie nicht glauben, was sie gerade gesagt hat. »Ich glaube, er ist verrückt«, flüstert sie.
»Ich glaube, du hast recht.« Ich schlage mein Notizbuch zu und stecke es in die Tasche. »Jetzt ruh dich aus.«
* * *
»Mast hat also mit dem Wagen Kontakt hergestellt und ihn entweder als Waffe benutzt oder einen Unfall simuliert. Dann hat er sie betäubt, um sie wehrlos zu machen, im Kofferraum abtransportiert und in den unterirdischen Raum gebracht.«
Tomasetti, Deputy Tannin und ich stehen vor Noah Masts Zimmertür und bereiten uns auf das Gespräch mit ihm vor.
»Um ihre Seelen zu retten«, fügt Tannin angewidert hinzu.
Tomasetti blickt mich an, und er stellt die Frage, die mich schon von Anfang an umtreibt: »Aber wie hat er von diesen Teenagern erfahren? Woher wusste er, dass sie aufsässig waren? Die Mädchen haben hundert Meilen voneinander entfernt gewohnt, und die Amischen benutzen nun einmal kein Telefon. Wie also hat er sie ausfindig gemacht?«
»Er war Diakon«, erwidere ich.
Tannin nickt. »Ich wusste, dass Mast irgendeine Funktion in der Gemeinde innehatte.«
»Ist das von Bedeutung?«, fragt Tomasetti.
»Der Diakon erfährt für gewöhnlich, wer in einer Gemeinde Probleme macht«, erkläre ich. »Er wird vom Bischof in den jeweiligen Kirchendistrikt geschickt, um herauszufinden, wer die Sünder sind.«
»Dann hat er also aufgrund seiner Stellung in der Kirche erfahren, wer die Regeln bricht«, sagt Tomasetti. »Für ihn waren die Teenager Missetäter.«
»Dabei waren sie noch nicht einmal getauft«, sage ich.
»In seinem Wahnsinn hat er wahrscheinlich gedacht, das sei unwichtig. Er hat geglaubt, die Rettung ihrer Seelen selbst in die Hand nehmen zu müssen, christliche Gebote hin oder her.«
»Ein besseres Motiv für die Taten werden wir wohl kaum finden«, bemerkt Tannin.
»Morgen frage ich den Bischof, ob Mast tatsächlich ein ordinierter Diakon war«, sage ich.
Tannin zeigt auf die Tür von Noah Masts Zimmer. »Vielleicht kann ja sein Sohn ein bisschen Licht in das Dunkel bringen.«