4.

Kapitel

Kurz darauf sitzen wir in Tomasettis Tahoe und fahren auf dem Ohio Turnpike Richtung Osten nach Buck Creek, wo das letzte Mädchen verschwunden ist. Der Ort liegt nahe der Mosquito Creek Wilderness, einem Gebiet ungefähr eine Stunde von Richfield entfernt. Der Weg dorthin führt durch eine hübsche Landschaft mit kleinen Orten, Farmen und kilometerlangen Laubwäldern mit riesigen Bäumen. Da Tomasetti sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen ignoriert, kommen wir schneller an als erwartet. In Newton Falls biegen wir auf die Interstate 4 Richtung Norden ein, fahren durch Cortland und nehmen dort eine wenig befahrene Bundesstraße nach Buck Creek.

Fünfzehn Minuten später heißt uns ein Schild zu »Ohios Jagd-Hauptstadt« und ihren eintausendzweihundert Einwohnern willkommen. Als Erstes fallen mir die Bäume entlang der Hauptstraße auf, uralte Rosskastanien, Ahorne und Ulmen mit so dicken Stämmen, dass man die Häuser dahinter fast nicht mehr sieht. Wir fahren durch ein kleines Gewerbegebiet, wo ein riesiger Schotterplatz von den Firmen »Erie Overhead Door« und »Whittle Plastics« gemeinsam genutzt wird und voller Autos und Lastwagen steht, und erreichen schließlich die malerische Innenstadt von Buck Creek, mit Läden in roten Backsteinhäusern und Straßen aus Kopfsteinpflaster. Wir fahren an einem halben Dutzend Antikläden vorbei, zwei Sportgeschäften, einer Bank, die mich an die Zeiten von Bonnie und Clyde erinnert, und dem Verlagshaus der Early Bird Newspaper. Überall hängen Blumentöpfe mit üppigen Petunien.

An der Ampel biegen wir links ab, kommen an einer gewaltigen lutheranischen Kirche vorbei sowie der Highschool von Buck Creek, der »Heimat der kämpfenden Panther«, und befinden uns schließlich auf einer kurvenreichen Straße stadtauswärts. Hier stehen die Bäume direkt am Straßenrand und bilden mit ihren Kronen ein dichtes Sonnendach, das nur hin und wieder von einem Lichtstrahl durchbrochen wird, der dann über unsere Windschutzscheibe blitzt. Hier ist es kühler, vielleicht wegen der Nähe zum See, und Tomasetti stellt die Klimaanlage aus. Ich öffne gerade das Fenster, als sein Mobiltelefon klingelt.

Er drückt eine Taste und brummt seinen Namen. »Und wo?« Plötzlich ist er hellwach. »Wir sind auf dem Weg«, sagt er schließlich.

Er legt auf und wirft mir einen Blick zu. »Willst du zuerst die gute oder die schlechte Nachricht hören?«, fragt er.

»Fang mit der guten an.«

»Das war eben der Sheriff. Wir haben unseren ersten Tatort.«

»Okay, das ist gut.« Besser wäre natürlich, den Täter auf frischer Tat zu ertappen – oder die vermisste Person zu finden –, aber in Anbetracht der spärlichen Informationen ist ein Tatort, an dem sich Beweise sichern lassen, wenigstens etwas. »Und die schlechte Nachricht?«

»Es gibt Blut, und zwar eine ganze Menge.«

»Mist.«

»Jap.«

»Sonst noch was?«

»Die Polizei ist vor Ort und sieht sich um. Ich schicke ein Spurensicherungsteam hin.«

»Wie weit ist es von hier?«

»Ein paar Meilen.«

»Das ist der Vorteil von Kleinstädten«, sage ich. »Egal, wo man sich gerade befindet, der Tatort ist nie weit weg.«

Nach einer Meile biegen wir auf eine schmale Asphaltstraße ab, wo nach circa vierhundert Metern der Streifenwagen des Sheriffs von Trumbull County mit eingeschaltetem Blaulicht auf dem Seitenstreifen steht; zwei weitere Polizeiautos stehen quer auf der Straße und blockieren so beide Fahrspuren. Ein uniformierter Deputy ist gerade dabei, mit orangefarbenen Warnhütchen den Verkehr umzuleiten, ein weiterer wickelt gelbes Absperrband um Bäume und Warnhütchen und riegelt so den Tatort ab.

Tomasetti parkt in einiger Entfernung auf dem unbefestigten Seitenstreifen. Wir steigen gleichzeitig aus und steuern den nächsten Streifenwagen an.

Die Luft ist kühl und sauber und erfüllt von Vogelgezwitscher. Der dichte Wald taucht selbst die Mittagsstunden in Dämmerlicht, und dickes Gestrüpp auf beiden Seiten der Straße bildet eine schier undurchdringliche Mauer. Das ganze Gebiet hier ist feucht und schattig und hat etwas von einer riesigen Wildnis – oder einem Ort, an dem schlimme Dinge passieren können, ohne dass je einer davon erfährt. Bis auf das gelegentliche Knistern eines Funkgeräts ist es so still hier, dass ich die Insekten summen höre.

»Tut mir leid, Leute, aber die Straße ist gesperrt.«

Ein hochgewachsener Mann in Zivil kommt mit düsterem Gesicht auf uns zu. Er ist um die vierzig, hat einen militärischen Bürstenhaarschnitt und einen gezwirbelten Schnauzbart, der gefärbt aussieht. In den Khakihosen, dem verschwitzten weißen Hemd und dem ledernen Schulterholster mit der Taurus .380 ähnelt er eher der Hollywood-Version eines Privatdetektivs als einem County Sheriff. Ich habe das untrügliche Gefühl, dass die Damenwelt auf ihn steht – und dass ihm das sehr bewusst ist.

Er zeigt in die Richtung, aus der wir kommen. »Sie müssen zurückfahren und die Straße durch die Stadt nehmen.«

Tomasetti zückt seinen Dienstausweis. »Wir sind vom BCI.«

Der Mann wirkt augenblicklich erleichtert. »Ich hatte gleich das Gefühl, dass Sie irgendwie offiziell aussehen.« Lächelnd streckt er die Hand aus. »Ich bin Sheriff Bud Goddard.«

Tomasetti stellt uns vor, wobei ich ihm meinen befristeten BCI-Ausweis zeige.

Goddard schüttelt meine Hand ein wenig zu heftig, ganz offensichtlich ist er dankbar über unser Kommen. »Sie sind die amische Polizeichefin, die vor Jahren den Serienmörder gefasst hat.« Seine Stimme ist tief und melodisch wie die eines Bassbaritons.

»Ehemals amisch«, korrigiere ich ihn. »Agent Tomasetti meinte, ich könnte Ihnen vielleicht nützlich sein.«

»Hoffentlich, denn die Amischen bleiben lieber unter sich.« Er zeigt zum Tatort, wo gerade ein Deputy in sein Mobiltelefon spricht. Beim Anblick des dunklen Flecks auf der Straße, der wie ausgelaufenes Motoröl aussieht, zucke ich zusammen, denn ich weiß, das ist kein Öl. »Sobald wir hier fertig sind«, sagt Goddard, »suche ich die Familie auf, die haben nämlich kein Telefon. Wäre nett, wenn Sie mitkommen würden. Amische zu befragen ist ’ne echte Qual, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Seine Worte treffen mich nicht direkt, eher wie alberne Irrläufer, und doch verletzen sie meine Gefühle. Auch wenn er recht hat, bin ich gegen Verallgemeinerungen.

Tomasettis Blick geht zur Fahrbahn. »Wer hat den Fleck entdeckt?«

»Ein Autofahrer, vor etwa einer Stunde. Er hat eine Tasche am Straßenrand liegen gesehen und dann beim Aussteigen das Blut. Da er von dem vermissten Mädchen gehört hatte, hat er die Polizei angerufen.«

»Das ist eine Menge Blut«, sage ich. Zu viel, flüstert es in meinem Hinterkopf.

Der Sheriff verzieht das Gesicht. »Wenn es wirklich das Blut des Mädchens ist, dann muss es schwer verletzt oder tot sein. Aber es gibt auch ’ne Menge Wild in der Gegend, andauernd wird irgendein Tier angefahren. In der Umgebung haben wir zwar keinen Kadaver gefunden, aber es kann natürlich auch verletzt weggelaufen sein. Haben Sie etwas dabei, um zu testen, ob es menschliches oder tierisches Blut ist?«

»Nicht dabei, aber ich sag der Spurensicherung Bescheid, dass sie einen Schnelltest mitbringen sollen, mit dem das sofort festgestellt werden kann«, sagt Tomasetti.

»Das wäre äußerst hilfreich. Dann wissen wir wenigstens, womit wir es zu tun haben.« Goddard sieht zu dem Blutfleck und schüttelt den Kopf. »Wir gehen davon aus, dass die Tasche dem vermissten Mädchen gehört. Bei dem ersten Gespräch haben die Eltern erwähnt, dass sie eine bei sich hatte. Wir werden sie ihnen zeigen und erfahren, ob es die von ihrer Tochter ist.«

Als hätten wir uns wortlos abgesprochen, steuern wir alle drei gleichzeitig die Blutlache an. Im Wald um uns herum vibriert der vielstimmige Chor der Vögel, Zikaden und anderen Insekten. Der Ruf eines Kardinals bricht sich an dem dicken Blätterdach über uns. Die Luft ist still und schwer und riecht nach feuchtem Laub. Je näher wir dem Blut kommen, desto eindringlicher ist das Gesumme der Fliegen, die sich daran laben, und der metallische Geruch.

Die schwarzrote Lache hat einen Durchmesser von etwas über einem Meter und ist – bis auf ganz innen – schon getrocknet. Mindestens ein Fahrzeug ist drübergefahren und hat einen deutlichen Reifenabdruck hinterlassen, um den die Spurensicherung sich kümmern wird. Aber ich gehe davon aus, dass er von einem Verkehrsteilnehmer stammt, dem die Blutlache schlichtweg nicht aufgefallen ist. Auch ein kleines Tier hat an dem Blut geleckt und dabei Spuren seiner Pfoten hinterlassen.

In dem dämmrigen Licht hier wirkt die Szene noch makabrer, als sie schon ist. Wie der Sheriff, hoffe auch ich auf eine so harmlose Erklärung, wie dass zum Beispiel ein Stück Wild angefahren wurde. Aber mein Gefühl spricht eine andere Sprache, ich glaube, dass sich hier etwas Entsetzliches zugetragen hat. Und angesichts der Stofftasche, die einige Meter entfernt am Straßenrand liegt, fürchte ich um das vermisste Mädchen.

Ich sehe Tomasetti an. »Ist das eine tödliche Menge?«

»Schwer zu sagen. Möglich.«

»Vielleicht ist sie am Straßenrand gelaufen und von einem Auto angefahren worden«, sagt Goddard, scheint aber wenig überzeugt von seiner eigenen Theorie.

»In so einem Fall hätte das Opfer eher innere Verletzungen davongetragen«, sage ich.

»Und es würde hier noch liegen«, sagt Tomasetti.

»Vielleicht hat derjenige es ja im Auto ins Krankenhaus gefahren«, wirft Goddard ein.

»Es gibt keine Bremsspuren«, sage ich.

»Vielleicht war es gar kein Unfall.« Tomasetti sieht den Sheriff an. »Haben Sie schon in den Krankenhäusern der Umgebung nachgefragt?«

Goddard nickt. »Meine Sekretärin überprüft das gerade.«

Plötzlich wird es ganz still um uns herum, wie aus ehrfürchtigem Respekt wegen der Gewalttat, die sich erst vor kurzem an diesem Ort ereignet hat.

Tomasettis Blick schweift suchend durch den umliegenden Wald. »Haben Sie genug Leute, um die ganze Gegend hier abzusuchen?«

»Ich kann wahrscheinlich ein paar Freiwillige zusammentrommeln.« Er zieht sein Mobiltelefon aus dem Gürtelclip, hält aber inne und zeigt auf die Reifenspuren. »Was halten Sie davon?«

Tomasetti geht in die Hocke und sieht sich das Reifenprofil von nahem an. »Wenn die Spurensicherung einen guten Abdruck hinkriegt, den wir einem Hersteller zuordnen können, sind wir vielleicht einen Schritt weiter.«

»Was glauben Sie, wie alt das Blut ist?«, fragt Goddard.

Tomasetti blickt zu den Baumkronen, um zu sehen, wie viel Sonne sie durchlassen. »Es ist sehr schattig hier und schwül. Sechs bis sieben Stunden, würde ich sagen.«

Der Sheriff nickt. »Ich kümmere mich um die freiwilligen Helfer.«

Tomasetti richtet sich wieder auf und stellt sich ein Stück weit weg an den Straßenrand. Dort holt er sein Mobiltelefon hervor, tippt eine Nummer ein und fängt an zu reden.

Ich versuche, mir ein mögliches Szenario vorzustellen, trete ein paar Schritte zurück und lasse den Ort auf mich wirken. Die Umhängetasche liegt etwas über einen Meter von der Blutlache entfernt auf dem unbefestigten Seitenstreifen. Mehrere noch in Blätter gehüllte Maiskolben sind herausgefallen und auf den Asphalt gerollt. Die Tasche ist aus handgemachtem Quilt mit amischen Motiven, und ich erinnere mich, dass meine Mamm früher auch so eine ähnliche zum Einkaufen besaß.

Ich hole einen Stift aus der Jackentasche, gehe neben dem Beutel in die Hocke und öffne ihn damit, um reinzuschauen, sehe grüne Paprika, einen weiteren Maiskolben und Tomaten, die in der Hitze matschig geworden sind. Ich stelle mich wieder auf. »Gibt es hier in der Nähe einen Gemüsestand?«, frage ich den Sheriff.

Er sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an, als wäre ihm gerade klargeworden, dass er daran selbst hätte denken sollen. »Die Yoders haben einen Verkaufsstand ein paar Meilen weiter unten an der Straße.«

»Haben Sie schon mit ihnen geredet?«

»Noch nicht«, gibt er kleinlaut zu. »Die haben ja kein Telefon.«

Das klingt nach Ausrede, und er weiß das. Aber ich lasse es gut sein, will ihm nicht auf die Füße treten, denn er wirkt durchaus kompetent und fähig. Trotzdem wundert es mich, dass er nicht selbst darauf gekommen ist.

Offensichtlich unzufrieden mit sich selbst, zieht er das Handy aus dem Gürtelclip. »Ich schicke einen meiner Deputys hin.«

Als Nächstes gehe ich um den Tatort herum, um mir die Details einzuprägen: Die genaue Stelle der Blutlache, die Entfernung der Tasche zum Blut, den Winkel der Reifenspuren.

»Haben Sie schon alles hier fotografiert?«, frage ich den Sheriff, nachdem er aufgelegt hat.

»Noch nicht.«

»Haben Sie überprüft, ob hier in der Gegend Sexualstraftäter gemeldet sind?«

»Meine Sekretärin ist gerade dabei.«

Einen Moment lang stehen wir schweigend da, dann frage ich: »Können Sie mir etwas über die Familie sagen?«

»Die Eltern des Mädchens heißen King, Edna und Levi. Sie sind Amische der Alten Ordnung, aber nette Leute. Ich glaube, inzwischen haben sie acht Kinder, Annie ist die Älteste. Heute Morgen gegen acht sind sie aufs Revier gekommen und haben erzählt, ihre Tochter sei gestern Abend nicht nach Hause gekommen.

Sie und ihre Nachbarn hatten die ganze Nacht nach ihr gesucht, aber irgendwann machten sie sich solche Sorgen, dass sie beschlossen, die Polizei einzuschalten.« Er verscheucht eine Fliege von seiner Stirn. »Ich wünschte, sie wären gleich gekommen, dann hätten wir zeitnah agieren können.«

»Haben Sie eine Beschreibung des Mädchens?«

»Ein Foto gibt es natürlich – leider – nicht.« Er holt einen Notizblock aus der Gesäßtasche und schlägt ihn auf. »Fünfzehn Jahre alt, braune Haare, braune Augen. Etwa zweiundfünfzig Kilogramm schwer, eins sechzig groß.« Er verzieht das Gesicht. »Ich hab sie ein paarmal gesehen, hübsches Ding.«

Auch ich kann sie vor mir sehen, ein schlankes Mädchen mit rauen Arbeitshänden, schlicht gekleidet. Vertrauensselig. Bei ihrem Gewicht leicht zu überwältigen, leicht unter Kontrolle zu bringen. Ich ziehe meinen eigenen Block hervor und notiere die Informationen. »Wissen Sie, was sie anhatte?«

»Blaues Kleid und weiße Schürze. Schwarze Schuhe. Eine von diesen Hauben auf dem Kopf.«

»Eine Kapp«, kläre ich ihn auf.

Er wirft mir einen Ja-was-auch-immer-Blick zu.

»Hat sie einen Freund?«

»Wenn ich ehrlich sein soll, Chief Burkholder, waren die Eltern nicht gerade mitteilsam, was das Privatleben des Mädchens angeht. Als ich danach fragte, machten sie zu wie eine Auster. Es war ihnen sichtlich unangenehm, mit mir zu reden.« Er räuspert sich. »Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht mitfahren und es noch einmal versuchen.«

»Kein Problem«, sage ich.

»Die Spurensicherung ist unterwegs«, ertönt Tomasettis Stimme, und wir drehen uns zu ihm um.

Er bleibt vor uns stehen. »In etwa einer Stunde müssten sie hier sein.«

»Wir sollten mit den Eltern sprechen«, sage ich ihm.

»Sehe ich auch so.« Er wendet sich an Goddard. »Haben Sie genug Leute, um den Tatort zu bewachen?«

»Mein Deputy kann hierbleiben, bis die Leute von der Spurensicherung eintreffen.« Er macht sich auf zu dem jungen Officer.

Tomasetti und ich gehen zum Tahoe. »Was glaubst du?«, frage ich ihn, als wir einsteigen.

Er runzelt die Stirn. »Ich glaube, das Blut ist ein verdammt schlechtes Zeichen.«

Das glaube ich auch, behalte es aber für mich.

* * *

Zehn Minuten später biegen wir in eine kurvenreiche unbefestigte Straße. Sie ist auf beiden Seiten von Maisfeldern gesäumt, deren schulterhohe Stängel wie Luftspiegelungen in der Nachmittagssonne flimmern. Entlang eines Maschendrahtzauns an der Nordseite reihen sich Himbeersträucher. Vor uns fährt Sheriff Goddard im Streifenwagen, wirbelt weißen Staub mit winzigen Steinchen auf, die sanft klirrend gegen Tomasettis Kühlergrill fliegen.

Nach einer Viertelmeile öffnet sich der Weg zu einem großen Platz, und zwei massive, mit weiß abgesetzte rote Scheunen kommen ins Blickfeld. Geradeaus stehen mehrere kleine Nebengebäude, eine alte Außentoilette und ein rostiger Wellblechschuppen, linker Hand ein weißes Farmhaus mit hohen, schmalen Fenstern und grünem Blechdach. Wie so manches andere Haus in diesem Teil des Landes, wird es über die Jahre hinweg schon vieles mit angesehen haben und könnte sicher so manche Geschichte erzählen.

Jenseits des Hauses überschatten mehrere riesige Ahornbäume einen gepflegten Blumengarten mit prächtigen Pfingstrosen und mannshohem Pampasgras, daran angrenzend bewacht eine mit Strohhut und Hosenträgern bekleidete Vogelscheuche üppige Erdbeer- und Bohnenbeete. Ein amisches Mädchen in einem hellbraunen Kleid lässt seine Hacke ruhen und beobachtet uns.

Auf dem College habe ich mal in einem Buch gelesen, dass Erinnerungen, die von Sinneswahrnehmungen geweckt werden, ganz leicht Flashbacks auslösen können. Der Anblick der Farm, in Verbindung mit dem Geruch nach Vieh und Pferden und mit den Sommerdüften, hat genau diesen Effekt. Denn die Farm hier gleicht jener, auf der ich aufgewachsen bin, auf geradezu unheimliche Weise, und für einen Moment werde ich in meine Vergangenheit katapultiert: Ich sehe meine Mamm, wie sie, eine Wäscheklammer im Mund, Hosen und Kleider auf die Leine hängt. In dem Feld hinter der Scheune treibt mein Bruder Jacob unser Pferdegespann an, während mein Datt und ein Nachbarjunge Heu schneiden und bündeln. Ich erinnere mich genau, wie frustriert ich war, weil ich im Haus bleiben und Fußböden schrubben musste, wo ich doch nichts lieber getan hätte, als draußen auf dem Rücken eines der Pferde zu sitzen.

Es war eine glückliche, unschuldige Zeit, und obwohl dieses Leben auch Schattenseiten hatte, rufen die Erinnerungen doch eine beklemmende Sehnsucht in mir hervor. Das heißt aber nicht, dass ich wieder amisch sein möchte, noch will ich meine Jugend oder die Vergangenheit zurückhaben. Doch wenn ich an die Zeit denke, gehen mir immer all jene Dinge durch den Kopf, die unerledigt geblieben sind. Was im Wesentlichen daran lag, dass meine Kindheit ein abruptes, vorzeitiges Ende fand. Es gibt so vieles, was ich meiner Familie nie gesagt habe. Doch ich habe mit meinen dreiunddreißig Jahren eines gelernt, nämlich dass man nichts rückgängig machen kann, auch wenn man es noch so sehr will.

Ich denke an Annie King und frage mich, ob sie mit dem Leben hier bei ihrer Familie zufrieden war. Ob sie sich in einer so eng verbundenen Gemeinschaft wohl gefühlt hat. Oder war sie so wie ich? Immer unzufrieden und mit einer unstillbaren Sehnsucht nach Dingen, die sie nie haben würde? Wo sie wohl jetzt gerade ist? Ob sie Angst hat und sich wünscht, wieder hier bei ihren Brüdern und Schwestern zu sein, in der Monotonie des Landlebens? Ich frage mich, ob sie, so wie ich, in vielen Jahren zurückblicken wird und sich wünscht, einiges anders gemacht zu haben?

»Sieht aus, als wären sie nicht allein.« Tomasettis Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.

Zwei amische Männer in blauen Arbeitshemden, dunklen Hosen mit Hosenträgern und Strohhut auf dem Kopf stehen vor der Scheunentür und beäugen uns. »Das sind wahrscheinlich Nachbarn, die bei der Suche helfen oder sich um die Tiere kümmern«, erkläre ich.

Ich folge seinem Blick. Ein Stück von uns entfernt, versuchen zwei amische Mädchen, einen großen Hund in eine verbeulte Waschwanne zu bugsieren. Sie sind etwa zehn Jahre alt und tragen das mausbraune Haar im Nacken zu einem Knoten gebunden. Ihre Füße sind nackt und schmutzig, und ihre schlichten grünen Kleider haben auch schon bessere Tage gesehen. Angesichts der Einfachheit und Unschuld dieser Szene muss ich lächeln.

Alle Kinder sind unschuldig, doch amische Kinder sind es auf eine besondere Weise. Sie glauben, dass die Welt gut ist, dass die Eltern nie Fehler machen, alle Menschen, die sie kennenlernen, Freunde sind, und man nur inbrünstig genug beten muss, damit Gott einen erhört. Umso erschütternder ist es dann für sie, wenn sie erfahren, dass nichts davon stimmt.

Einen Moment lang beobachten Tomasetti und ich die Kinder, jeder ist in seine eigenen Gedanken vertieft. Plötzlich wird mir bewusst, dass diese Mädchen in dem Alter sind, in dem seine beiden Töchter jetzt wären, hätte ein Profikiller sie nicht brutal ermordet – um ein Exempel zu statuieren, was Polizisten passieren kann, die ihm in die Quere kommen. Das ist jetzt drei Jahre her, und ich weiß, dass Tomasetti noch heute gegen eine bodenlose Verzweiflung ankämpft, die ihn immer wieder in den Abgrund zu ziehen droht. An den meisten Tagen gewinnt er den Kampf, glaube ich. Doch manchmal sehe ich in seinen Augen die Finsternis, die ihn umgibt.

Er wirft mir einen Seitenblick zu. »Ich glaube, der Hund gewinnt.«

»Ich setze auf die Mädchen.« Ich lächle ihn an.

»Heißt das, ich soll die Entschlossenheit eines amischen Mädchens nicht unterschätzen?«

»Schon gar nicht, wenn sie eine Schwester hat, die ihr hilft. Der Hund hat keine Chance. So oder so, er kriegt sein Bad.«

Tomasetti parkt hinter dem Streifenwagen neben einem Lattenzaun, wir steigen aus und machen uns schweigend auf zur Veranda, wo wir auf Sheriff Goddard warten.

»Verdammt schwül heute.« Noch bevor der Sheriff anklopfen kann, geht die Tür auf, und ein kleiner Junge erscheint, der mir ungefähr bis zur Taille reicht. Er hat blonde Haare, blaue Augen, einen stumpfgeschnittenen, leicht schiefen Pony, und seine kleine Nase ist voller Sommersprossen.

»Hallo, kleiner Mann, ist deine Mama oder dein Papa zu Hause?«

Der Junge stößt einen quietschenden Schrei aus und rennt zurück ins Haus.

»Sie kommen gut an bei Kindern«, sagt Tomasetti.

Der Sheriff wirft uns einen Seitenblick zu. »Bei Frauen auch.« Und dann an mich gewandt: »Nichts für ungut.«

Ich verkneife mir ein Lächeln. »Schon okay.«

In dem Moment erscheint ein Mann im Vorraum und kommt zur Tür. Er ist blond und groß – weit über einen Meter achtzig –, mit muskulösen Schultern und einem kleinen Bauch, die verraten, dass er sowohl körperlich viel leistet als auch gerne gut isst. Ich schätze ihn auf Mitte vierzig, und der bis auf den Bauch reichende braune Bart bedeutet, dass er verheiratet ist. In der schwarzen Hose mit Hosenträgern und dem weißen Hemd mit Weste ist er eine imposante Erscheinung.

Seine pechschwarzen, onyxfarbenen Augen unter den dichten Brauen registrieren unser Erscheinen ohne jede Emotion. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragt er, macht aber keine Anstalten, uns hereinzubitten.

»Ich grüße Sie, Mr King«, ergreift Sheriff Goddard das Wort. »Wir würden mit Ihnen gern über Ihre Tochter sprechen.«

Der amische Mann blickt von Goddard zu Tomasetti und zu mir, doch sein Gesicht bleibt unbewegt.

Goddard stellt uns vor und sagt, von welcher Behörde wir kommen. »Sie sollen uns helfen, Annie zu finden, Mr King. Und dazu wollten wir Sie und Ihre Frau bitten, uns ein paar Fragen zu beantworten.«

Kings Blick heftet sich auf mich. Ich weiß nicht, ob er meinen Nachnamen als typisch amisch identifiziert hat oder ob ich ihn einfach nur interessiere, weil ich aus Holmes County komme. Doch er spricht mich nicht an, sondern fragt Goddard: »Haben Sie schon etwas herausgefunden?«

»Wir glauben, wir haben ihre Tasche gefunden«, sagt der Sheriff.

King wird von einem Zittern erfasst, als würden sich Hoffnung und Schrecken in seinem Inneren bekriegen. »Wo?«

»Ein paar Meilen vom Gemüsestand entfernt«, antwortet Goddard. »Und Sie, haben Sie schon etwas gehört?«

Der Mann lässt die Schultern hängen und schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er und bedeutet uns hereinzukommen.

Wir betreten einen Vorraum mit verkratztem Holzboden und zwei gardinenlosen Fenstern, durch die viel Licht fällt. An der Wand hängen ordentlich aufgereiht sechs Strohhüte, verdreckte Arbeitsstiefel stehen nebeneinander auf einem selbstgemachten Teppich. Die uralte Wäschemangel in der Ecke riecht nach Seife und Schimmel.

King führt uns in eine große Wohnküche, wo mir der Geruch von Brot, gebratenem Fleisch und Petroleum wieder so ein Déjà-vu-Erlebnis beschert wie zuvor. Ein einziges Fenster über der Spüle lässt Tageslicht in den Raum, doch nicht genug, um die Düsternis zu vertreiben. Zwei Laternen werfen gelbes Licht auf die blauweiß karierte Decke des rechteckigen Tisches, der mit leer gegessenen Tellern, Besteck und Wassergläsern bedeckt ist. Obwohl es noch nicht einmal vier Uhr nachmittags ist, hat die Familie offensichtlich ihr Abendessen schon beendet. In dem Moment entdecke ich das einzige unbenutzte Gedeck: Annies. Es symbolisiert die Hoffnung, dass sie zurückkehren wird. Ihren Glauben, dass Gott sie ihnen wiederbringt, dass ihre Gebete erhört werden. Es ist schon lange her, dass ich einen solchen Glauben besaß, und wahrscheinlich wird auch diese Familie die Erfahrung machen, dass manche Gebete unerhört bleiben, was mich traurig stimmt.

Ein Mädchen, gerade erst ins Teenageralter gekommen, räumt gerade das Geschirr ab und trägt es zur Spüle, wo eine Frau in einem dunkelblauen Kleid mit weißer Schürze und weißer Kapp aus Organdy steht, die Hände im Spülwasser und den Kopf gesenkt. Sie ist so vertieft in ihre Arbeit – oder ihre Gedanken –, dass sie uns erst bemerkt, als ihr Mann sie anspricht.

»Mir hen Englischer bsuch ghadde.« Wir haben englischen Besuch.

Die Frau dreht sich überrascht um. Ich schätze sie auf mindestens zehn Jahre jünger als ihren Mann, und vermutlich war sie einmal wirklich hübsch, doch jetzt ist ihr Gesicht eingefallen – von Kummer gezeichnet. Ich bezweifle, dass sie seit dem Verschwinden ihrer Tochter gegessen oder geschlafen oder auch nur einen Moment Seelenfrieden hatte. Trotz ihres Glaubens nagt die Sorge um ihr Kind an ihr wie eine fleischfressende Bazille, die nicht aufgehalten werden kann.

»Mein Name ist Kate Burkholder«, stelle ich mich vor. »Wir sind hier, um Ihnen bei der Suche nach Annie zu helfen.« Ohne groß nachzudenken, gehe ich quer durch die Küche und halte ihr die Hand hin, bin mir dabei der verwunderten Blicke Goddards und Tomasettis sehr bewusst. »Können wir uns setzen und einen Moment reden?«, frage ich sie auf Pennsylvaniadeutsch.

Die Frau sieht mich ungläubig an, schockiert. Aus reiner Höflichkeit reicht sie mir die Hand, die feucht und schlaff und kalt ist, und ich ertappe mich bei dem Wunsch, sie zu wärmen. Sie sieht zu ihrem Mann hinüber, in den Augen die Bitte um Erlaubnis, mit mir sprechen zu dürfen, und ich unterdrücke meine Verärgerung darüber. Sein Blick ruht auf mir, und ich starre zurück, wobei mir die Härte – oder das Misstrauen – in seinen Augen nicht entgeht.

Er nickt kaum merklich.

»Ich bin Edna.« Sie hebt den Kopf und sieht mich an. »Sitz dich anne un bleib e weil.« Setzen Sie sich und bleiben Sie einen Moment. »Ich mache einen Kaffee.«

Toedliche Wut
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