6.
Kapitel
Justin Treece wohnt bei seinen Eltern in einem heruntergekommenen Fachwerkhaus am Stadtrand von Buck Creek. Das ganze Viertel ist verwahrlost, die briefmarkengroßen Häuser haben marode Veranden und verwilderte Vorgärten, einige stehen auch leer, sind den Elementen preisgegeben oder haben mit Brettern vernagelte Fenster. Im Dach des Nachbarhauses der Treeces prangt ein wagenradgroßes Brandloch, das den Blick auf verkohlte Dachsparren und rosa Isolierwolle frei gibt.
»O Mann, hier sieht’s aus wie in Cleveland«, sagt Tomasetti, als wir langsam daran vorbeifahren.
»Willkommen im Armeleuteviertel«, sage ich leise.
In der Auffahrt der Treeces steht ein verbeulter Toyota-Pick-up mit übergroßen Rädern, daneben ein alter Ford Thunderbird. »Sieht aus, als wäre jemand zu Hause.«
Goddard parkt seinen Streifenwagen zwei Häuser weiter am Straßenrand. Wir stellen uns hinter ihn, steigen aus und gehen zu ihm auf den Bürgersteig, wo er wartet.
»Die Fahrzeuge gehören den Eltern«, erklärt der Sheriff. »Trina fährt den Thunderbird, Jack den Toyota.«
»Und der Junge?«, fragt Tomasetti.
»Als ich ihn das letzte Mal angehalten habe, hatte er einen betagten Plymouth Duster. Er und sein alter Herr basteln an Autos rum, kann sein, dass der hinten in der Garage steht.«
»Wie übel ist der Junge eigentlich?«, frage ich.
»Bis jetzt wurde er nur das eine Mal verurteilt.« Goddard schüttelt den Kopf. »Aber er ist ein echtes Früchtchen. Um ehrlich zu sein, ich glaube, der macht Karriere, in zehn Jahren spielt er ganz oben mit.«
»Oder er sitzt im Gefängnis«, meint Tomasetti.
Goddard zeigt aufs Haus. »Die ganze Bagage ist Stammkunde auf dem Revier. Meistens wegen häuslicher Gewalt – die Eltern lassen sich volllaufen und prügeln sich dann gegenseitig windelweich. Die Kinder verwahrlosen. Echt traurig das Ganze.«
Da ich mehrere Jahre als Streifenpolizistin in Columbus unterwegs war, kenne ich solche Familienverhältnisse nur zu gut. Es ist ein bedrückender und anscheinend hoffnungsloser Kreislauf, besonders für die Kinder. Zu viele von ihnen sind Opfer ihrer Umgebung und werden am Ende genau wie ihre Eltern – oder noch schlimmer.
»Würde mich nicht überraschen, wenn der Junge was mit dem vermissten Mädchen zu tun hat«, sagt Goddard. »Er ist ein Hitzkopf und hat ein großes Maul.«
»Schlechte Kombination«, sage ich.
»Besitzen sie Waffen?«, fragt Tomasetti.
»Als wir vor ein paar Monaten das Grundstück durchsucht haben, wurde nichts gefunden. Aber überraschen würde es mich nicht.« Goddard sieht Tomasetti und mich an. »Tragen Sie beide eigentlich eine Waffe?«
»Ich gehe nie ohne aus dem Haus«, erwidert Tomasetti.
Ich öffne meine Jacke gerade so weit, dass er das Lederholster mit meiner .38er sehen kann.
»Nun denn, sichern und laden heißt die Parole.« Er zeigt aufs Haus, dessen Vorgarten von einem kaputten Maschendrahtzaun umgeben ist. »Mal sehen, was Romeo uns zu sagen hat.«
Der Bürgersteig ist von Baumwurzeln aufgebrochen und voller Risse, und mein Blick fällt auf einen winzigen Hinterhof voller alter Autoreifen. Dahinter bildet eine freistehende Garage mit abblätternder gelber Farbe und einem kaputten Fenster die Grundstücksgrenze.
»In der Garage brennt Licht«, sage ich.
»Da ist der Junge oft. Dreht diese gruselige Scheißmusik so laut, dass einem das Trommelfell platzt.«
»Arbeiten die Eltern?«, fragt Tomasetti, als wir die Steinstufen zur Haustür hochgehen.
Goddard nickt. »Jack Treece ist Autoschlosser in der Tankstelle. Soll gute Arbeit machen, hab ich gehört. Das scheint der Junge von ihm geerbt zu haben. Trina arbeitet an den meisten Abenden hinter der Theke im Bowlingcenter.«
»Und Justin?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass ihn hier in der Gegend jemand einstellt. Er hat einen schlechten Ruf, die meisten Leute gehen ihm aus dem Weg.«
Wir erreichen die Haustür, wo knapp einen Meter daneben das Wasser der aus dem Fenster ragenden Klimaanlage auf den Beton tropft. Goddard klopft und tritt zur Seite, als rechne er damit, dass jemand durch die geschlossene Tür schießen könnte.
Die Tür geht knarrend auf, und vor uns steht eine große, beleibte Frau mit braunen Augen und fast hüftlangen schwarzen Haaren, die heute noch keinen Kamm gesehen haben. Ich schätze sie auf ungefähr vierzig, obwohl sie eines jener Gesichter hat, bei denen man das Alter schwer sagen kann. Wir haben sie offensichtlich geweckt, aber sie muss auf dem Sofa geschlafen haben, denn sie macht einen trägen Eindruck, und dafür hat sie ziemlich schnell die Tür aufgemacht.
Sie trägt ein geblümtes Hauskleid, das für meinen Geschmack ein bisschen zu viel unbedeckt lässt. Ihre Waden sind kräftig wie Schinkenkeulen und voller Krampfadern, und aus den rosa Schlappen schauen geschwollene Zehen mit dicken gelben Nägeln heraus.
Sie betrachtet uns mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Belustigung. »Sheriff.« Der schleppende Akzent ihrer tiefen Stimme verrät eindeutig ihre Südstaatenherkunft. »Ich hab gehört, Sie sind gestorben.«
»Tja, davon hat man mir noch nichts gesagt.« Goddard hält seine Dienstmarke hoch. »Ich hoffe, das enttäuscht Sie nicht allzu sehr.«
»Das Leben hier wär doch ziemlich langweilig ohne eure ständige Bullen-Schikane.«
»Ist Justin da?«
Ihr Blick wandert vom Sheriff zu mir zu Tomasetti und wieder zurück zum Sheriff. Er hat etwas Lauerndes und erinnert mich an einen großen, schwerfälligen Bär, der sich, ohne Vorwarnung und ohne provoziert worden zu sein, in eine Bestie verwandeln und einen Menschen in Stücke reißen kann. Ihre kalten Augen spiegeln eine Scheißegal-Haltung, die mir sagt, dass sie vor nichts und niemandem – sich selbst eingeschlossen – Achtung hat und Gesetzeshütern gegenüber einen besonders großen Hass empfindet.
»Wen interessiert das?«, fragt sie.
»Mich und diese beiden Agenten vom BCI.«
»Oh, BCI-Agenten.« Sie mustert mich von oben bis unten und stößt einen verächtlichen Ton aus. »Was hat er jetzt wieder angestellt?«
»Wir wollen ihm nur ein paar Fragen stellen.«
»Geht’s um das vermisste Mädchen?«
Augenblicklich sind wir hellwach. Der Sheriff beugt sich leicht vor, und neben mir reckt Tomasetti den Hals, um an ihr vorbei ins Hausinnere zu sehen. »Trina, wir wollen einfach nur mit Justin reden«, wiederholt Goddard.
Sie macht keine Anstalten, uns hereinzulassen. »Ich kenne meine Rechte, Sheriff. Ich bin die Mutter und will wissen, warum Sie mit meinem Sohn reden wollen.«
Tomasetti hält ihr seinen Dienstausweis vor die Nase. »Weil wir höflich darum gebeten haben und nicht länger höflich sein werden, wenn wir mit einem Durchsuchungsbeschluss zurückkommen müssen.«
Sie zeigt sich wenig beeindruckt, würdigt seinen Ausweis mit keinem Blick. »Und wer verdammt sind Sie?«
»Ich bin derjenige, der Sie fertigmachen wird, wenn Sie uns nicht sofort reinlassen.«
Goddards Kinnlade klappt so weit runter, dass ich die Füllung in seinen Zähnen sehen kann, doch Trina Treece zuckt mit keiner Wimper. Die Belustigung, die in ihren Augen aufflackert, schockiert mich. Tomasetti ist ungefähr so lustig wie eine Autopsie, und die meisten Menschen sind eifrig bemüht, seinen Wünschen nachzukommen, besonders wenn er schlechte Laune hat. Er ist zwar Polizist, strahlt aber etwas so Unberechenbares aus, dass selbst die dämlichsten Leute bemüht sind, ihn nicht zu verärgern. Doch dieser Frau hier scheint das vollkommen zu entgehen – und das liegt sicher nicht daran, dass sie dämlich ist.
Sie grinst den Sheriff an. »Wo haben Sie denn den Charmeur aufgetrieben?«
»An Ihrer Stelle würde ich uns einfach ins Haus lassen«, sagt der Sheriff freundlich. »Wir müssen wirklich mit Ihrem Sohn sprechen.«
»Na schön, was soll’s.« Ihr Oberarm schwabbelt, als sie die Tür aufstößt. »Kommen Sie rein. Und Füße abtreten.«
Tomasetti betritt als Erster das Haus, geht, ohne sich die Füße abzutreten, die rechte Hand nahe am Pistolenholster, wortlos an ihr vorbei. Ich folge ihm, streife jeden Schuh auf der Matte vor der Türschwelle ab. Goddard bildet das Schlusslicht und blickt tatsächlich nach unten, um sich sorgfältig die Schuhe zu säubern.
Im Inneren des Hauses ist es heiß und stickig, und es riecht vage nach Fisch. Ein Sofa mit geschwungener Rückenlehne und einer schäbigen Häkeldecke darauf trennt das kleine Wohnzimmer von dem noch kleineren Esszimmer. In dem großen, an der Wand befestigten Flachbildfernseher läuft leise ein alter Bugs-Bunny-Cartoon. Von meinem Platz aus kann ich eine schwach beleuchtete Küche mit zugemüllten Ablageflächen und dreckigem Geschirr in der Spüle sehen; aus dem Mülleimer ragt ein zusammengefalteter Pizza-Karton. Am Fenster der Hintertür hängt eine gelbe Rüschengardine. Ein Bodenventilator bläst abgestandene Luft in einen schmalen, dunklen Flur.
Eine gefühlte Minute lang sind nur die ratternde Klimaanlage und die schweratmende Trina Treece zu hören.
»Wo ist er?«, fragt Goddard.
»Ich nehm mal an, dass er draußen bei seinem nutzlosen Alten rumhängt.« Dabei starrt sie Tomasetti an, als versuche sie herauszufinden, welchen Knopf sie bei ihm wie fest drücken müsse. Er starrt unverwandt zurück, das Gesicht ausdruckslos wie ein leeres Blatt Papier. O Mann.
Aus dem Flur kommen Geräusche. Zwei Mädchen, ungefähr zehn Jahre alt, gucken um die Ecke und beäugen uns. Ihre Gesichter sind scheu und neugierig, und ihre Augen haben bestimmt schon viel zu viel gesehen.
Trina dreht sich schwerfällig um. »Hab ich euch zwei Idioten nicht gesagt, ihr sollt in eurem Zimmer bleiben?«
Beide Mädchen haben das gleiche wuschelige schwarze Haar wie ihre Mutter. Doch da hört die Ähnlichkeit auch schon auf, denn sie sind dünn und hübsch und anscheinend unbeschadet von der Umgebung, in der sie aufwachsen. Bei ihrem Anblick muss ich an die Mädchen der Kings denken und kann nicht anders, als sie miteinander zu vergleichen: unschuldige, hoffnungsfrohe Kinder, deren Zukunft bestimmt wird von dem, was ihre Eltern ihnen mit auf den Weg geben, und auch von den zwei grundverschiedenen Welten, in denen sie aufwachsen.
Das Leben wird diesen beiden Mädchen hier noch viele Lehren erteilen, und ich frage mich, ob sie dabei auf den Beistand ihrer Mutter oder ihres Vaters zählen können – ob sie überleben werden.
»Wer sind diese Leute, Mama?«, fragt das größere der beiden Kinder.
»Das geht dich überhaupt nichts an, du neugieriger kleiner Scheißer.« Trina geht zum Sofa, nimmt eine leere Limodose und wirft sie nach ihr. Die Dose knallt an die Wand und fällt scheppernd auf den Boden. »Jetzt geh und hol deinen verdammten Bruder. Sag ihm, die beschissenen Bullen sind hier.«
Neben mir holt Tomasetti tief Luft, er ist kurz davor, etwas zu sagen, schluckt es aber klugerweise runter. Sein Gesicht scheint ausdruckslos, doch ich kenne ihn gut genug, um die Wut unter der ruhigen Oberfläche brodeln zu sehen. Ich weiß, dass seine Töchter etwa so alt wie diese Mädchen waren, als sie ermordet wurden.
»Lass es gut sein«, flüstere ich.
Er ignoriert meine Worte, sieht mich nicht einmal an. Doch er bleibt ruhig, und mehr kann ich in der Situation nicht erwarten.
Unbeeindruckt von der kränkenden Behandlung ihrer Mutter, durchqueren die beiden Mädchen das Wohnzimmer, wobei sie uns weiter interessiert mustern. Sie tragen Shorts und T-Shirts, die zu eng sind und zu viel enthüllen für Mädchen in diesem zarten Alter. Erst jetzt fällt mir die elastische Binde am linken Handgelenk des größeren Mädchens auf, auch der faustgroße Bluterguss an ihrem linken Oberschenkel und noch einer hinten am Arm. Wer hat ihr die zugefügt und wie viel Gewalt gehört zum Alltag dieser Familie? Keiner von uns dreien sagt etwas, aus Rücksicht auf die beiden. Denn worüber hier gesprochen werden muss, ist für ihre jungen Ohren nicht geeignet, auch wenn sie wahrscheinlich schon viel Schlimmeres gehört haben.
Die Hintertür knallt zu, und kurz darauf erscheint ein dunkelhaariger junger Mann im Zimmer. Justin Treece, das sehe ich sofort. Er ist etwa ein Meter achtzig groß, dürr, wie so viele junge Männer heutzutage, aber mit kräftigen, sehnigen Armen und der schlaksigen Haltung eines Straßenkämpfers, der auch schon mal zu unerlaubten Mitteln greift. Er trägt Baggy Jeans mit tiefhängendem Schritt – perfekt zum Verstecken einer Waffe –, ein schmutziges T-Shirt, und seine Füße stecken in abgetragenen Doc Martens. Beide Arme sind von den Schultern bis zum Ellbogen offenbar frisch tätowiert. Goldkette um den Hals, Goldringe in beiden Ohren. Er sieht uns an, als hätten wir ihn bei etwas Wichtigem unterbrochen und als müsste er so schnell es geht wieder weg.
»Was ist los?«, fragt er und wischt sich die verschmierten Hände an einem orangefarbenen Putzlappen ab.
Trina dreht den Kopf und sieht ihn an. »Ich weiß nicht, was du schon wieder angestellt hast, aber die Bullen hier wollen mit dir reden.«
»Ich hab nix angestellt.« Er wirft seiner Mutter einen Blick zu, und eine Sekunde lang blitzt reiner Hass darin auf, dann wendet er sich uns zu. »Was wollen Sie von mir?«
Ich hatte mir Justin Treece anders vorgestellt. Er ist attraktiv, mit dunklen, intelligenten Augen und dem gleichen verschlagenen Blick wie seine Mutter. Jemand, der weniger Lebenserfahrung hat, könnte ihn durchaus für einen anständigen, hart arbeitenden jungen Mann halten. Doch das äußere Erscheinungsbild kann trügen, das habe ich mittlerweile auch begriffen.
Goddard verliert keine Zeit mit langen Vorreden. »Wann hast du Annie King das letzte Mal gesehen?«
In seinen Augen flackert eine Gefühlsregung auf, die ich nicht deuten kann, dann wird sein Gesichtsausdruck hart. »Ich hab mich schon gewundert, dass Sie nicht schon längst hier aufgetaucht sind.«
Tomasetti holt seinen Dienstausweis hervor und hält sie ihm hin. »Und warum?«
Justin mustert ihn geringschätzig von oben bis unten. »Wenn hier in der Gegend irgendwas passiert, stehen die Bullen sofort bei uns auf der Matte. Ich bin sozusagen ihre erste Wahl.«
»Wenn ein Mädchen vermisst wird, ist ihr Freund meistens einer der Ersten, mit denen die Polizei redet«, erklärt Goddard sachlich.
»Ihr Problem«, erwidert Justin.
Tomasettis Blick haftet beharrlich auf dem Jungen. »Hör auf, dich wie ein Vollidiot zu benehmen, und beantworte die Fragen des Sheriffs.«
»Ich hab sie seit Tagen nicht gesehen.« Er zuckt die Schultern ein bisschen zu lässig, so als wäre ein vermisstes Mädchen nicht der Rede wert, ob Freundin oder nicht. »Aber ich hab gehört, dass sie verschwunden ist.«
»Du scheinst dir ja keine allzu großen Sorgen um sie zu machen«, sagt Tomasetti.
»Ich geh davon aus, dass sie abgehauen ist.«
»Wie kommst du darauf?«
Justin rollt die Augen. »Jeder unter achtzehn mit ’nem bisschen Hirn im Kopf sieht zu, dass er von so ’nem beschissenen Ort wegkommt. Außerdem hat sie diese ganzen bibelgläubigen Fanatiker gehasst.«
»Meinst du die Amischen?«, frage ich.
Er scheint mich erst jetzt wahrzunehmen und fragt sich wohl, warum ich hier bin. Ich zeige ihm meinen Dienstausweis.
»Klar, wer sonst, die Amischen. Die behandeln sie wie Scheiße, und sie hat die Nase voll von dem ganzen selbstgerechten Getue.«
»Das hat sie dir gesagt?«
»Ständig. Die haben immer nur an ihr rumgemeckert und ihr gesagt, was sie tun soll und was nicht. Sie hat keine Freiheiten und kann nichts machen, ohne dass einer von denen mit seinem selbstgerechten Finger auf sie zeigt.« Mir entgeht nicht, dass er in der Gegenwartsform von ihr spricht. »Ich bin froh, dass sie endlich da weg ist, und freue mich für sie.«
»Wie gut kennt ihr euch?«, frage ich.
»Wir sind Freunde, na ja, dicke Freunde.«
»Wo ihr doch so dicke miteinander seid, hat es dich da nicht gestört, dass sie ohne Abschied weg ist?«, frage ich.
Der Junge sieht zu Boden, und ich stelle überrascht fest, dass die Frage einen wunden Punkt berührt hat, der ihm unangenehm ist. »Ist ja ein freies Land. Ich hab ihr immer gesagt, wenn sie die Gelegenheit hat, soll sie sie nutzen.« Er lacht. »Ich hab immer gedacht, ich würde als Erster von hier abhauen.«
»Hat sie gesagt, wo sie hinwollte?«, fragt Tomasetti.
Er denkt einen Moment nach. »Wir haben immer von Florida geredet. Sie hasst die Kälte hier und hat noch nie das Meer gesehen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einfach so weg ist, ohne Wohnung und ohne Job in Aussicht.«
»Ihre Eltern machen sich Sorgen«, sage ich.
»Die hätten sie einfach mal besser behandeln sollen«, schießt er zurück.
»Wir glauben, dass sie in Schwierigkeiten steckt«, sagt Goddard.
»Dass ihr jemand … was getan hat?«, fragt er, die Augen ungläubig zusammengekniffen.
»Genau das meinen wir.« Tomasetti sieht ihn scharf an. »Weißt du irgendwas davon?«
»Was? Sie glauben, ich hab ihr was getan?«
»Bist du ihr gegenüber mal ausgerastet?«, will Tomasetti wissen. »Hast du sie mal geschlagen?«
Trina Treece schießt erstaunlich anmutig vom Sofa hoch. »Was is’n das für ’ne Frage?«
»Eine zum Beantworten«, sagt Tomasetti, den Blick weiter auf den Jungen geheftet.
Justin hält ihm stand. »Ich hab sie nie angefasst«, antwortet er.
»Hast du ihr ein Handy gekauft?«, fragt Goddard.
»Ihre Eltern haben sich geweigert, also hab ich ihr eins gekauft. Vor ein paar Tagen war das noch nicht strafbar.«
»Hat sie es benutzt?«, frage ich.
»Klar. Wir haben die ganze Zeit miteinander telefoniert.«
»Wann hast du das letzte Mal von ihr gehört?«, will Tomasetti wissen.
»Keine Ahnung. Vor ein paar Tagen.«
»Hast du in den letzten vierundzwanzig Stunden versucht, sie zu erreichen?«
Justin nickt. »Kriege aber immer sofort die Voicemail.«
»Das kam dir nicht komisch vor?«, fragt Goddard.
»He, so ist sie eben. Unabhängig, okay?« Er zuckt die Schultern. »Ich dachte, sie wird mich schon anrufen, wenn sie da angekommen ist, wo sie hinwill.«
Tomasetti holt seinen Notizblock hervor. »Wie ist die Nummer?«
Justin rasselt sie auswendig runter, und Tomasetti schreibt mit.
»Hast du dein Handy dabei?«, fragt er.
»Sicher, ich –« Der Junge sieht ihn misstrauisch an. »Warum?«
»Weil ich es mitnehmen werde.« Tomasetti hält die Hand hin. »Gib’s mir.«
Justin würde sich gern weigern, denn es fällt ihm offensichtlich schwer, die Hand in die Tasche zu stecken und es rauszuholen. Doch irgendetwas muss er in Tomasettis Augen erkannt haben, denn einen Moment später hält er es in der Hand. »Das hat ’ne Menge Geld gekostet.«
»Wir wollen nur sehen, ob wir damit die Zeit ihres Verschwindens eingrenzen können.« Er holt einen Spurensicherungsbeutel aus der Tasche, und der Junge lässt das Telefon reinfallen. »Du kriegst es wieder.«
Justin glaubt ihm nicht, guckt weg. »Sicher.«
»Weißt du, Justin, es hätte geholfen, wenn du sofort zu uns gekommen wärst, als sie verschwunden ist«, sagt Goddard.
»Ist das offiziell?« Treece sieht von Goddard zu mir zu Tomasetti. »Ich meine, dass sie vermisst wird.«
»Ihre Eltern haben eine Vermisstenanzeige aufgegeben«, erkläre ich ihm.
»Ich bin davon ausgegangen, dass es ihr gutgeht«, sagt der Junge. »Woher sollte ich das wissen?«
»Du hättest ja mal das Ding zwischen deinen Ohren benutzen können«, sagt Tomasetti.
Der Junge bedenkt ihn mit einem Leck-mich-Blick.
»Hat sie irgendwelche anderen Freunde, mit denen sie zusammen weggegangen sein könnte?«, fragt Goddard.
Justin schüttelt den Kopf. »Die meisten ihrer Freunde sind amisch.«
»Hat sie irgendeine Fahrgelegenheit gehabt?«, frage ich.
Noch ein Kopfschütteln. »Davon weiß ich nichts. Ein Auto konnte sie sich nicht leisten.« Er lacht auf. »Ich hab sie mal mit meinem fahren lassen, da hat sie den Briefkasten vom alten Heath umgenietet.«
»Hast du etwa angenommen, sie ist zu Fuß weggegangen?«, fragt Tomasetti.
»Oder den Bus genommen.« Seine Stimme klingt zunehmend streitlustig. »Hören Sie mal, ich bin ihr Freund, nicht ihr Aufpasser.«
»Wie hast du sie kennengelernt?«, frage ich.
»Sie ist auf der Straße gegangen, es hat geregnet, ich hab angehalten und sie gefragt, ob sie mitfahren will. Sie ist eingestiegen.« Er hebt die Schulter, lässt sie fallen. »Ich hab ihr ’ne Zigarette angeboten, und sie hat sie geraucht.« Er lächelt. »Es war echt komisch, weil sie ja diese Altfrauenkleider anhatte, Sie wissen schon, die amische Kluft. Wir haben uns sofort verstanden.«
»Habt ihr eine Liebesbeziehung?«, fragt Tomasetti.
»Na ja … wir sind Freunde … meistens.«
Tomasetti stöhnt auf. »Justin, schläfst du mit ihr?«
Er wird rot, was ich ihm zugutehalte. »Sieht so aus, ich meine, wir haben’s ein paar Mal gemacht. Aber wir waren kein Paar oder so. Ich bin noch nicht so weit, mich an die Leine legen zu lassen, das hab ich ihr von Anfang an gesagt.«
Schweigen tritt ein, und wir stehen einfach nur da, sind in unsere eigenen Gedanken vertieft. Die zwei Mädchen beobachten uns von der Küche aus, essen Chips aus einer Tüte. Tomasetti will nicht zu ihnen hinsehen, schafft es aber nicht ganz.
Ich sehe Justin an. »Wenn du so wild darauf bist, aus Buck Creek wegzukommen, warum bist du dann nicht mit ihr gegangen?«
Er lacht. »Ich glaube kaum, dass das meinem Bewährungshelfer gefallen hätte.«
* * *
Ein paar Minuten später sitzen Tomasetti und ich im Tahoe und warten auf Goddard, damit wir losfahren können. Tomasetti starrt gedankenverloren aus dem Fenster, einen grüblerischen Ausdruck im Gesicht. Ich suche gerade nach den richtigen Worten, doch er kommt mir zuvor.
»Was zum Teufel tun die Menschen ihren Kindern eigentlich an, Kate?«
Solche Äußerungen bin ich von ihm nicht gewohnt. Normalerweise lässt er ein paar politisch unkorrekte Witze vom Stapel, ernste, philosophische Fragen stellt er nicht, so dass ich einen Moment brauche, um damit klarzukommen. »Nicht alle behandeln ihre Kinder so.«
»Aber zu viele.«
Ich will ihm widersprechen, doch er hat recht, und so lasse ich die Worte im Raum stehen. »Wir tun, was wir können, Tomasetti. Aber man kann auch nicht alles kontrollieren.«
»Dieses Miststück da drin verdient keine Kinder.«
»Ich weiß.«
»Sie wird ihnen das Leben versauen, genauso wie sie ihr eigenes versaut hat.«
»Das kannst du nicht wissen.«
Er lacht bitter. »Seit wann bist du zum Optimismus konvertiert?«
»Komm mir nicht mit Zynismus, Tomasetti.«
»Genauso gut kannst du vom Meer verlangen, es soll nicht so nass sein«, sagt er freudlos und starrt aus dem Fenster. »Für uns ist so vieles selbstverständlich. Ich wünschte, ich hätte fünf Minuten mit meinen Kindern. Nur fünf lausige Minuten, um ihnen all das zu sagen, was ich nicht gesagt habe, als sie noch lebten.«
Anspannung kriecht mir in Schultern und Nacken. Es ist das erste Mal, dass er so offen über seine Kinder spricht, seine Gefühle. Nie zuvor hat er mir gegenüber auch nur erwähnt, wie sehr ihn die Erinnerung schmerzt. Ich habe keine Kinder. Aber ich weiß, was es heißt, einen geliebten Menschen zu verlieren. Ich kenne diesen dunklen Ort und auch den Tribut, den so ein Verlust fordert.
»So sind die Menschen nun einmal«, erwidere ich. »Wir nehmen die Dinge als selbstverständlich hin. Wir alle tun das.«
Er sagt nichts.
»Ich bin sicher, sie wussten, dass du sie liebst«, sage ich, ein wenig beschämt ob der Plattitüde.
»Manchmal war ich so total in einen Fall involviert, dass ich sie tagelang nicht gesehen habe. Selbst wenn ich noch abends zu Hause gearbeitet hatte, habe ich ihnen keinen Gutenachtkuss gegeben, sie nicht ins Bett gebracht. Es gab Tage, da habe ich sie kaum wahrgenommen. Die Hälfte der Zeit hab ich sie nicht mal vermisst. Was für ein beschissener Vater ist das denn, der nicht mal seine Kinder vermisst?«
Ich sehe zu ihm hinüber. Er umklammert das Lenkrad, starrt geradeaus, und ich denke: Mist. »Tomasetti …«
Er sieht mich an. »Ich erinnere mich nicht einmal daran, was ich ihnen als Letztes gesagt habe, Kate. An dem Morgen hatte ich es eilig, wegen irgendeines dämlichen superwichtigen Meetings, das am Ende dann völlig belanglos war. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich sie das nächste Mal im Leichenschauhaus sehen würde.«
Es ist schwer, doch ich halte seinem Blick stand. »Du hast sie geliebt, und sie haben das gewusst. Nur darauf kommt es an.«
»Ich habe nicht für ihre Sicherheit gesorgt.«
»Du hast dein Bestes getan.«
»Wirklich?«
Ich brauche einen Moment, um mich zu beruhigen, meine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu bringen. »Tomasetti, ist alles in Ordnung?«, frage ich schließlich.
Er schenkt mir ein mattes Lächeln. »Keine Angst, ich knalle nicht durch, falls du das meinst.«
Ich lege meine Hand auf seine. »Ich hab keine Angst.«
Die nächsten Minuten sitzen wir schweigend da, hören die Jungen auf der gegenüberliegenden Straßenseite Baseball mit Besenstielen und Tennisball spielen und einen Blauhäher, der uns vom Ahornbaum aus beschimpft. Dann kommt endlich auch Goddard und steigt in seinen Wagen.
»Ich hätte dem Miststück da drin den Kopf abreißen können«, sagt Tomasetti nach einer Weile.
»Das ist mein Tomasetti, wie ich ihn kenne und liebe.«
Sein Mund verzieht sich zu einem gespielten Lächeln, doch die Anspannung lässt ein wenig nach. Einen Moment später klingelt sein Mobiltelefon. Er blickt aufs Display, sieht mich an und meldet sich mit: »Was gibt’s?«
Den Blick weiter auf mich gerichtet, hört er dem Anrufer zu. Sein Gesicht verrät nichts. »Verstehe. Okay. Überprüfen Sie das für mich, ja?« Er beendet das Gespräch und schiebt das Telefon in den Gürtelclip.
»Und?«, frage ich und schnalle mich an.
Er dreht den Zündschlüssel um, der Motor heult auf. »Es ist Menschenblut.«
»Verdammt.« Obwohl wir beide damit gerechnet haben, trifft uns die Nachricht unvermindert hart. »Ist es ihres?«
»Wissen sie noch nicht. Im Labor kommen sie mit der Arbeit kaum hinterher, aber bis morgen wissen sie die Blutgruppe. Die DNA dauert noch ein paar Tage.« Er folgt Goddards Streifenwagen.
»Das war eine Menge Blut.« Ich denke laut. »Wenn es ihr Blut ist, dann ist sie schwer verletzt.«
Oder schlimmer.
Die unausgesprochenen Worte hängen wie der Geruch von Schießpulver in der Luft. Keiner von uns wagt es, sie zu sagen.