9.

Kapitel

»Er ist entweder ein verdammt guter Lügner, oder er sagt die Wahrheit«, erklärt Tomasetti, als er auf den Highway fährt, an dem unser Motel liegt.

»Ich glaube ihm«, sage ich. »Zumindest was Noah Mast betrifft.«

»Er kam mir ziemlich nervös vor.«

»Du warst auch ziemlich bissig.«

»Ich war nicht bissig.« Doch im schwachen Licht des Armaturenbretts sehe ich, wie seine Mundwinkel hochgehen.

Ich blicke aus dem Fenster, spüre die sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf. »Irgendwie kommt keiner so richtig als Täter in Frage.«

»Bis wir jemanden finden, bei dem das anders ist, müssen wir das Standardprogramm durchziehen.« Er sieht mich von der Seite an. »Hast du Hunger? Es gibt ein Restaurant nicht weit weg vom Motel.«

»Hab ich auch gesehen. Das Flying Buck.« Seit letzter Nacht habe ich nichts gegessen und bin am Verhungern. »Aber es ist eine Bar, Tomasetti, kein Restaurant.«

»Da die Auswahl an Restaurants hier beschränkt ist, könnten wir uns Bier und Burger genehmigen, ohne gegen allzu viele Regeln zu verstoßen.«

»Aber nichts Hochprozentiges.«

»Das wäre sicher ganz im Sinne unserer Bosse.«

Es ist fast zweiundzwanzig Uhr, als wir auf den Parkplatz vom Flying Buck fahren. Im Scheinwerferlicht taucht nur ein einziges Fahrzeug auf, ein Toyota Camry, der aussieht, als wäre er frisch gewachst. Das Gebäude selbst ist ein in grüner Tarnfarbe gestrichenes riesiges Mobilhaus mit einem Wandgemälde, das eine Jagdszene zeigt: zwei durch einen Fluss springende Labradore und zwei Jäger in orangefarbenen Westen, die Gewehre schussbereit.

Wir gehen zur überdachten Veranda, auf der ein paar Tische stehen, wo man im Sommer draußen essen kann, und betreten die Bar durch eine schwere Holztür, über der mehrere Zwölfender-Geweihe hängen. Drinnen ist es düster, und es riecht wie in all den anderen Bars, in denen ich zu viel Zeit verbracht habe – eine Mischung aus Bratfett, Alkohol und Zigaretten. Ein Lautsprecher unter der Decke beschallt den Raum knisternd mit einem alten Allman-Brothers-Song über jemanden, der noch einen Silberdollar hat. Die Theke ist rechts vom Eingang, mit einer uralten Holzplatte, die schon viele raue Ellbogen, gelallte Sätze und verschüttetes Bier über sich ergehen lassen musste. Ein krummer alter Mann mit Cowboyhut sitzt pfeiferauchend und mit übergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl. Die Toiletten sind am Ende des Raums. An der Wand hängt ein Schild mit der Aufforderung: SETZ DICH VERDAMMT NOCHMAL HIN. Wir setzen uns an einen Tisch im hinteren Teil.

Tomasetti zieht einen Stuhl für mich hervor, und ich würde ja gern glauben, dass er das tut, weil er ein Gentleman ist, doch ich weiß, dass er sich an einem öffentlichen Ort niemals mit dem Rücken zur Tür setzen würde. Manche Leute halten das sicher für paranoid, aber ich nicht.

Eine magere Kellnerin mit blaugrauen Haaren und dürren Beinen kommt zu unserem Tisch geeilt und legt uns die Speisekarte hin. »Hi, Leute, wollt ihr was essen oder nur was trinken?«

»Beides«, antwortet Tomasetti. »Und nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.«

Sie lacht. »Das höre ich gern. Was kann ich Ihnen bringen?«

Wir bestellen zwei Flaschen Killian’s Irish Red und Burger mit Pommes, und sie eilt weg.

»An Stoltzfus stört mich«, beginnt Tomasetti, »dass er sich selbst eine Position verschafft hat, in der er mit unzufriedenen amischen Teenagern in Kontakt kommt.«

Eine Alarmglocke schrillt in meinem Hinterkopf, aber ich kann nicht sagen, warum. »Kindesentführer gehen im Prinzip genauso vor.«

»Und er hatte mit mindestens einem der Vermissten Kontakt.«

Die Kellnerin kommt mit zwei Flaschen Bier und zwei eiskalten Gläsern zurück. »Die Burger sind gleich fertig.«

Tomasetti schenkt das Bier ein. Wir heben die Gläser, sehen uns über den Rand hinweg an und nehmen einen großen Schluck. Es ist der erste Alkohol seit dem Slabaugh-Fall vor sechs Monaten, und ich stelle nur ungern fest, wie gut er tut.

Ich denke noch über Stoltzfus nach, als im Gürtelclip mein Handy vibriert. Beim Blick aufs Display erwarte ich schon beinahe, den Namen des Bürgermeisters zu sehen, der mich mit einem weiteren Anruf wegen seines Sohnes quälen will, doch die Telefonnummer ist mir unbekannt.

»Burkholder.«

»Hier ist Suzy Fisher.«

Ihr Anruf überrascht mich wirklich. Nicht nur, weil Amische normalerweise kein Telefon benutzen, sondern auch, weil es so spät ist – um die Zeit sind amische Frauen meist längst im Bett. »Hallo, Mrs Fisher, ist alles in Ordnung?«

»Es tut mir leid, Sie zu so später Stunde noch zu stören«, sagt sie atemlos. »Aber ich konnte nicht schlafen. Ich bin mit dem Buggy in die Stadt gefahren und hier in einer Telefonzelle.« Sie quetscht die Worte hervor, als wäre ihr Hals zugeschnürt. »Eli weiß nichts davon.«

»Verstehe«, sage ich. »Was gibt es?«

»Ich habe Ihnen heute nicht alles gesagt. Ich glaube, dass es wichtig ist.«

»Über Bonnie?«

»Ja.« Erst jetzt merke ich, dass sie weint. »Bonnie liebt Babys. Sie liebt Kinder und hat sich so sehr darauf gefreut, im Herbst in der Schule zu unterrichten.«

Ich warte, lasse ihr Zeit.

»Chief Burkholder, sie war verwirrt wegen des Babys.«

»Wie meinen Sie das?« Doch noch während ich die Frage stelle, dämmert mir die Antwort. »Sie wollte das Kind nicht?«

»Wir hätten es gern gehabt.«

»Mrs Fisher, hat Bonnie von einer Abtreibung gesprochen?«

»Unser Glaube erlaubt das nicht.« Jetzt weint sie heftig. »Ich habe versucht, es ihr auszureden, aber sie hat sich so geschämt. Sie war fest entschlossen, es zu tun. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«

Ihre Worte erschüttern mich. Für die meisten Amischen ist Abtreibung Mord. Ich kenne insgesamt nur zwei amische Frauen, die abgetrieben haben. Die eine hat ihre Sünde zwar vor der Gemeinde gestanden, sich aber von ihren Altersgenossen so verachtet gefühlt, dass sie das schlichte Leben aufgab. Die andere hat sich umgebracht.

»Mrs Fisher, ich weiß, wie schwer es für Sie ist, mir das zu erzählen«, sage ich. »Danke, dass Sie es trotzdem getan haben, die Information scheint mir wichtig.«

»Bitte finden Sie sie, Chief Burkholder. Was sie getan hat, ist uns egal, wir wollen sie einfach nur zurückhaben.«

»Ich werde mein Bestes tun«, erwidere ich. »Versprochen.«

Sie legt auf. Ich nehme mir Zeit, das Telefon zurück in den Gürtelclip zu schieben, dann berichte ich Tomasetti von dem Gespräch. »Sie hat es nie ihrem Mann erzählt.«

»Für mich klingt das so, als hätten beide Mädchen – Bonnie Fisher und Annie King – sich ziemlich weit von den amischen Regeln entfernt«, bemerkt er.

Ich nicke zustimmend, denke dabei an das dritte Mädchen, deren Eltern bei einem Buggy-Unfall gestorben sind. »Es wäre sicher hilfreich gewesen, mit Leah Stuckeys Eltern zu reden, ob sie vielleicht auch Probleme hatte.«

»Dann könnten wir eher sagen, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Verhalten und dem Verschwinden der drei Mädchen gibt.«

»Aber selbst wenn wir beide wissen, dass ein bestimmtes Verhalten gefährlich sein kann, verbindet das die Fälle wirklich miteinander?«, frage ich.

»Wir haben zu viele Spuren, die nirgendwo hinführen«, erwidert Tomasetti.

Als die Kellnerin mit unseren Burgern kommt, unterbrechen wir das Gespräch. Was auf unseren Tellern liegt, sieht gut aus und riecht noch besser, und wir machen uns gierig darüber her.

»Okay, legen wir mal alles auf den Tisch, was wir haben«, sagt er.

Ich fange an. »Es könnte einen religiösen Hintergrund geben.«

»Die Kirche der zwölf Wege«, sagt er. »Laut Goddard mögen sie die Amischen nicht.«

»Das passt: Annie King hatte einen englischen Liebhaber, Bonnie Fisher war schwanger, hatte mehrere Liebhaber und wollte anscheinend abtreiben lassen.«

»Was jeden religiösen Fanatiker, der was auf sich hält, stinksauer machen dürfte«, kommentiert Tomasetti trocken.

»Somit bleiben alle, die etwas mit der Kirche der zwölf Wege zu tun haben, auf der Liste der Verdächtigen.«

Noch einmal lasse ich alles, was wir über den Fall wissen, in Gedanken Revue passieren. Nach ein paar Minuten ziehe ich eine letzte Pommes durch den Ketchup, und Tomasetti leert seine Flasche Killian’s.

»Glaubst du, dass Noah Masts Verschwinden etwas damit zu tun hat?«, fragt Tomasetti schließlich.

»Keine Ahnung«, sage ich ehrlich. »Laut Stoltzfus hat er vom Weggehen gesprochen.« Ich muss an das Gedeck für ihn auf dem Küchentisch der Masts denken. »Checkst du auch die nicht aufgeklärten Vermisstenfälle, die schon ad acta gelegt sind?«

Er nickt. »Wenn es noch andere ähnliche Fälle gibt, wird VICAP sie ausspucken.«

»Nur wenn sie gemeldet wurden.«

Er sieht mich ungläubig an. »Glaubst du wirklich, dass manche amische Eltern keine Vermisstenanzeige aufgeben, wenn ihr Kind verschwindet?«

»Die meisten tun das sicher«, erwidere ich. »Am Anfang versuchen sie wahrscheinlich, alles selbst in die Hand zu nehmen, aber wenn sie dann Angst bekommen und sich die Lage wirklich bewusst machen, würden sie sich schon an die Polizei wenden.« Ich denke einen Moment darüber nach. »Allerdings sollte man nicht vergessen, dass es viele Amische gibt, die glauben, dass Gott sich kümmern wird. Wenn man das zusammen mit dem Misstrauen gegenüber den Englischen – besonders der englischen Polizei – bedenkt, kann ich mir durchaus vorstellen, dass manche Familien eben keine Vermisstenanzeige aufgeben.«

»Das müssen wir im Hinterkopf behalten.«

Ich nicke, bin in Gedanken schon bei einem weiteren Szenario. »Was ist mit dem Fotografen, den Goddard erwähnt hat?«

»Stacy Karns.«

»Wegen seiner Verurteilung und der Tatsache, dass sein Opfer ein junges amisches Mädchen war, gehört er definitiv auf die Liste.« Ich blicke auf die Uhr. »Sollen wir ihm einen Besuch abstatten?«

»Das kann bis morgen warten.« Er blickt mir fest in die Augen. »Du siehst müde aus, Kate. Hast du in letzter Zeit mal geschlafen?«

»Ist schon länger her.«

Er legt ein paar Scheine auf den Tisch. »Was hältst du davon, wenn wir Feierabend machen und das Buck Snort Motel in Augenschein nehmen?«

* * *

Das Buck Snort Motel liegt zwei Meilen außerhalb von Buck Creek direkt am Highway. Es besteht aus etwa einem Dutzend Holzhütten, die sich ein gutes Stück von der Straße entfernt in einem baumreichen Areal befinden, auf dem es auch Picknicktische und einen öffentlichen Grillplatz gibt. In zwei Hütten brennt Licht. Als wir auf den Parkplatz biegen, fällt mein Blick auf eine Gruppe junger Leute an einem der Picknicktische. Die Hütte mit dem Motelbüro ist etwas größer als die anderen, hat ein riesiges Frontfenster, in dem der obligatorische rote Neonschriftzug »ZIMMER FREI« blinkt. Die kleinere Leuchtreklame darunter preist KOSTENLOSE FILME an.

Tomasetti parkt nahe des Büros und stellt den Motor aus. »Ich melde uns an und hole die Schlüssel.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, steigt er aus und geht. Ich sehe ihm hinterher, mag, wie er sich bewegt, bis mir plötzlich klar wird, dass ich keine Ahnung von dem Schlafarrangement habe, das er telefonisch getroffen hat – in welche Richtung sich also die Nacht entwickelt. Bei den früheren gemeinsamen Ermittlungen war unsere Beziehung nie ein Thema und nie ein Problem, denn die Arbeit hatte immer Priorität. Doch dieser Fall ist anders, keiner von uns ist in seinem eigenen Territorium, und ich frage mich, ob uns das vielleicht in die Quere kommt.

Die Tür geht auf, und ich schrecke hoch. Tomasetti schiebt sich auf den Fahrersitz, lässt den Motor an und fährt zu den Hütten ganz hinten. »Ich habe die Nummer zwölf, du die elf.«

»Dann sind wir Nachbarn.« Ohne ihn anzusehen, drehe ich mich zum Rücksitz, um meine Reisetasche zu nehmen.

Er stoppt mich. »Das mache ich.«

»Okay, danke.« Ich steige schnell aus, bevor mir irgendwelche Peinlichkeiten rausrutschen. Er macht die Hintertür auf und holt unsere Taschen heraus.

Wir gehen zur Hütte Nummer elf, er schließt auf und gibt mir den Schlüssel. Mein Blick fällt sofort auf das große Doppelbett mit der Tarnmuster-Tagesdecke und dem Kopfteil aus Geweihstangen. Tarnmuster-Gardinen, an den Wänden Bilder mit Jagdmotiven – Enten und Wild und Labrador-Retriever. Aber der Raum ist sauber und riecht nach frischer Wäsche und Zedernholz.

»Ich habe bestimmt noch nie so viele Geweihe an einem Ort gesehen«, bemerke ich.

»Könnte zum Problem werden, wenn man einen unruhigen Schlaf hat.«

Ich lache. »Aber immer noch besser als Tierköpfe an der Wand.«

»Die sind wahrscheinlich in meiner Hütte.« Lachend stellt er meine Tasche aufs Bett und steckt den Kopf in die Tür zum Badezimmer, um es zu checken. »Falls du die Kaffeemaschine suchst, die ist da drin«, sagt er.

Auf dem kleinen Tisch beim Fenster steht ein handgeschriebenes Schild mit der Mitteilung, dass der WLAN-Empfang kostenlos ist. Daneben liegt ein Block mit dem Briefkopf des Motels, und an der Wand dahinter gibt es eine Steckdose für den Laptop. »Ist ja wie zu Hause«, sage ich.

Und dann tritt eine peinliche Stille ein. Die wachsende Anspannung ist offenkundig. Ich wende mich Tomasetti zu, der mich intensiv anschaut. Eine ganze Minute lang sehen wir uns in die Augen, ohne etwas zu sagen.

»Und, wie geht’s jetzt weiter?«, fragt er schließlich.

Was er meint, ist eindeutig. »Keine Ahnung«, sage ich ehrlich. »Ich fühle mich hier irgendwie verloren.«

»Ich auch«, erwidert er. »Ich bin es gewohnt, allein zu reisen.«

»Ich bin es gewohnt, dass du mitten in der Nacht durch die Hintertür in mein Haus schleichst.«

Er lacht.

Ein paar Herzschläge lang bleibt die Zeit stehen. Ich spüre die Anziehungskraft, die er auf mich ausübt, fühle, wie wichtig dieser Moment ist, das Unbehagen zwischen uns.

Wir haben schon während anderer gemeinsamer Ermittlungen miteinander geschlafen, können trotz unserer Liebesbeziehung gut zusammenarbeiten. Aber das ist mein erster Berater-Job. Es fühlt sich anders an, kommt mir so … geplant vor.

»Ich will nichts vermasseln«, sage ich kurz darauf.

»Das wirst du auch nicht«, erwidert er ruhig. »Kannst du gar nicht.«

»Vielleicht sollten wir lieber langsam machen.«

Er nickt und tritt einen Schritt zurück. Die Spannung zwischen uns lässt ein wenig nach, und ich kann wieder atmen.

Er beugt sich zu mir runter und haucht einen Kuss auf meinen Mund, sagt: »Vorsicht mit dem Kopfteil«, und geht zur Tür. Kurz davor dreht er sich um. »Schlaf gut, Chief, wir sehen uns morgen früh.«

Er geht, und ich stehe eine ganze Minute lang mit klopfendem Herzen da und weiß nicht, ob ich froh bin oder enttäuscht, dass er gegangen ist.

Schließlich mache ich den Fernseher an, suche die Lokalnachrichten und höre mit halbem Ohr zu, während ich meine Kleidung auspacke. Dann schließe ich den Laptop an, rufe meine E-Mails ab und versuche, mich auf den Fall zu konzentrieren. Doch das Zwischenspiel mit Tomasetti hat mich sehr aufgewühlt. Dazu kommen sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf, so dass ich einfach zu verwirrt und zu müde bin, um produktiv arbeiten zu können. Ich beantworte ein paar Mails und gehe dann unter die Dusche.

Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, wie unsere Beziehung weitergehen wird. Ich bin gern mit ihm zusammen, auch das gemeinsame Arbeiten klappt gut. Ich vertraue ihm total, respektiere ihn in jeder Hinsicht. Und glaube, dass er mir gegenüber das Gleiche empfindet.

Wir kommen beide gut damit klar, dass wir eine Fernbeziehung führen, wir sind beide zu eigenständig für etwas Kuschliges. Aber sosehr wir auch versuchen, das Ganze einfach zu gestalten, es liegt einfach in der Natur der Sache, dass Beziehungen irgendwann kompliziert werden.

Manchmal glaube ich, dass ich ihn liebe. Ich will bei ihm sein, wenn ich es nicht bin. Er ist immer irgendwo in meinen Gedanken. Wenn etwas Außergewöhnliches passiert, will ich es mit ihm teilen, weiß aber nicht, ob das gut ist oder schlecht. Ehrlich gesagt, macht es mir Angst. Ich komme nicht an der kleinen Stimme in meinem Kopf vorbei, die sagt, dass es zu schön mit ihm ist, um von Dauer zu sein.

Mein eigenes Herz kenne ich gut, doch Tomasetti ist mir in vielen Dingen noch immer ein Rätsel. Vor drei Jahren war er noch verheiratet und hatte Kinder. Ich weiß nicht, ob er glücklich oder unzufrieden war, oder, wie die meisten Menschen, irgendetwas dazwischen. Er spricht selten über seine Vergangenheit. Aber ich weiß, dass er eine andere Frau geliebt und Kinder mit ihr hatte. Dass er seine Familie geliebt hat. Und auch, dass er an ihrem Verlust fast zugrunde gegangen wäre.

Manchmal, wenn ich nicht zu ihm durchdringen kann, frage ich mich, ob er im Grunde lieber mit ihr zusammen wäre. Ob er sie immer noch liebt. Ob er nur deshalb mit mir zusammen sein will, weil sie nicht mehr da ist. Ob ich mit einer toten Frau konkurriere.

* * *

Das Klingeln reißt mich aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Ich taste auf dem Nachttisch nach dem Handy, klappe es auf und drücke es ans Ohr, krächze: »Burkholder.«

Noch bevor ich Tomasettis Stimme höre, weiß ich, dass es nichts Gutes bedeutet. Wenn ein Polizist mitten in der Nacht geweckt wird, dann immer mit schlechten Nachrichten.

»Wir haben eine Leiche«, sagt er nur.

Ich setze mich kerzengerade auf. Im Zimmer ist es stockdunkel, mein Herz klopft heftig, und einen Moment lang weiß ich nicht, wo ich bin. Dann fällt mir alles wieder ein – die vermissten amischen Teenager, das Blut auf der Straße. Ich knipse das Licht an, springe aus dem Bett und packe meine Kleider.

»Ist es Annie?«, frage ich, ein Bein schon in der Hose.

»Ich weiß es nicht.«

»Gib mir fünf Minuten.«

Toedliche Wut
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