10.

Kapitel

Als ich zur Tür hinausgehe, zeigen die roten Leuchtziffern des Weckers 3:53 an. Tomasetti hat den Wagen bereits vor meine Hütte gefahren, lehnt am vorderen Kotflügel der Beifahrerseite und telefoniert. Die Nacht ist feuchtwarm und still, Regen liegt in der Luft.

Ich steige ins Auto, kurz darauf beendet er das Gespräch und schiebt sich hinters Lenkrad. »Ein echt beschissener Start in den Tag«, brummt er, als wir langsam über den Parkplatz fahren.

»Erzähl mir, was du weißt«, sage ich.

»Nicht viel. Die Identität ist noch nicht festgestellt, aber das Opfer ist jung und weiblich.«

Ich denke an das viel zu frühe Ende eines jungen Lebens, an die Eltern, die in den nächsten Stunden benachrichtigt werden müssen, die Familie, die von der Nachricht erschüttert sein wird – und fühle die vertraute Wut in mir aufsteigen.

Steinchen wirbeln hoch, als wir mit quietschenden Reifen auf den Highway biegen. Neben mir gleiten Tomasettis Blicke suchend über die dunklen Schaufensterfassaden und die schwarzen Schatten der Bäume. Wir fahren über eine Brücke und weiter in Richtung Stadt. Er ist jetzt ganz Polizist, schon auf der Jagd nach dem Täter.

»Wo ist die Leiche?«, frage ich.

»In einem Fluss. Ein Typ, der dort fischen wollte, hat sie gefunden.«

Mich schaudert es bei der Vorstellung. Wasserleichen sind immer ein furchtbarer Anblick und erschweren die Spurensicherung immens. »Ist schon jemand vor Ort?«

»Goddard ist auf dem Weg.« Er wirft mir einen düsteren Blick zu. »Wir sind näher.«

»Coroner?«

»Ein Team aus Youngstown ist unterwegs.«

Ich sehe ihn an. Er wirkt müde und nicht gerade freundlich. Er hat Schlafprobleme, und letzte Nacht war da vermutlich keine Ausnahme.

Wir passieren Buck Creek in Richtung Norden auf einer schmalen, zweispurigen Straße, die durch ein waldreiches Gebiet führt. Nach ein paar Meilen erreichen wir eine rostige Stahlbrücke mit einer Haltebucht davor, in der ein großer Dodge Ram steht. Tomasetti parkt dahinter, stellt den Motor ab und nimmt seine Stablampe vom Rücksitz. »Eine zweite steckt bei dir in der Türverkleidung.«

Die MagLite in der Hand, stoße ich die Tür auf und trete in ein nächtliches Konzert von Grillen, Ochsenfröschen und nachtaktiven Tieren, das aus dem undurchdringlichen Schwarz des Waldes erklingt.

Tomasetti steht schon bei dem Dodge. »Wo zum Teufel steckt der Fahrer?«, flucht er.

Da auch ich niemanden sehe, lege ich die Hand auf den Revolver und gehe zu ihm. Gut möglich, dass der Notruf nur von einem Bürger kam, der einen furchtbaren Fund gemacht hat. Trotzdem darf man nie vergessen, dass es bei einem Mord auch einen Mörder gibt, und schon zu viele Polizisten haben ihr Leben gelassen, weil sie glaubten, einen ungefährlichen Ort zu betreten.

Blitze zucken am Horizont. Tomasetti will die Fahrertür öffnen, doch sie ist verschlossen. Er leuchtet den Innenraum ab, legt die Hand auf die Motorhaube. »Noch warm.«

Ich gehe in die Hocke, leuchte unter den Wagen. »Nichts.«

Wir inspizieren gerade die Ladefläche, als zwanzig Meter weiter etwas Großes aus dem Buschwerk auf der anderen Seite des Straßengrabens auftaucht. Adrenalin durchflutet meinen Körper. Vielleicht ein Tier – ein brünstiger Bock oder ein Schwarzbär, der gleich über uns herfällt. Ich ziehe die Waffe und leuchte mit der Lampe zu dem Trampelpfad, der in die Büsche führt.

Tomasetti eilt mit der Pistole in der Hand zu mir. »Polizei!«, ruft er. »Stehenbleiben. Wer sind Sie?«

Ein Mann taucht aus der Dunkelheit auf, stolpert und fällt hin.

»O Gott!«, schreit er und klettert auf allen vieren aus dem Graben.

»Bleib, wo du bist, Kumpel«, sagt Tomasetti. »Das ist mein Ernst.«

Seine Stimme ist laut und deutlich, doch der Mann scheint ihn nicht zu hören, ist entweder randvoll mit Drogen oder hat Todesangst. Angesichts des Ortes, an dem wir uns befinden, vermute ich Letzteres.

Ich bleibe in sicherer Entfernung zu dem Mann, der es jetzt ganz aus dem Graben geschafft hat und so heftig keucht, dass er bei jedem Atemzug würgt. Er ist leicht übergewichtig und sinkt drei Meter vor uns auf die Knie, beugt sich vornüber und stützt sich mit den Händen im Schotter ab.

Tomasetti tritt einen Schritt zurück, die Waffe noch immer auf den Mann gerichtet. »Halten Sie die Hände hoch, damit wir sie sehen können.«

Der Mann ist so damit beschäftigt, nach Luft zu schnappen, dass er nicht reagiert. »Nicht schießen, Herrgott nochmal! Ich hab die Polizei gerufen«, stößt er japsend aus, verschluckt sich an seiner eigenen Spucke und fängt an zu husten.

Tomasetti lässt die Waffe sinken, behält sie aber in der Hand. »Was ist passiert?«, fragt er, noch immer misstrauisch.

»Da unten im Fluss liegt ’ne Leiche!«, sagt der Mann keuchend.

Tomasetti blickt rüber zu dem Wald, aus dem der Mann gekommen ist, und leuchtet mit der Stablampe in der linken Hand zum Trampelpfad. Nichts regt sich. Der Wald scheint verstummt, als wolle er das Geheimnis mit seiner düsteren Umarmung schützen.

»Ist sonst noch jemand da unten?«, fragt Tomasetti.

»Außer der verdammten Leiche hab ich nichts gesehen.« Er hustet, schnappt weiter nach Luft. »Hab fast ’nen Herzkasper gekriegt.«

»Wie heißen Sie?«, frage ich.

»Danny … Foster.« Der Mann hebt den Kopf und sieht uns mit zusammengekniffenen Augen an. »Wer sind Sie überhaupt? Wo ist Sheriff Goddard?«

Ich zeige ihm meinen Ausweis. »Haben Sie Ihren Führerschein einstecken?«

Er richtet den Oberkörper auf, holt das Portemonnaie aus der Hosentasche und hält es mir zitternd hin.

Tomasetti tritt neben mich, wirft einen Blick auf das Portemonnaie und runzelt die Stirn. »Was machen Sie da unten?«

»A-angeln.«

»Um vier Uhr morgens?«

»Ich muss um acht arbeiten«, schnappt er.

Tomasetti und ich stecken beide unsere Waffen weg.

Der Mann sieht von Tomasetti zu mir. »Kann ich aufstehen?«

»Sicher«, sage ich.

Foster hievt sich mühsam auf die Füße. Er ist ein kleiner, runder Mann in weiter Khakihose, Flanellhemd und Anglerweste. Sein Schritt ist feucht.

»Was ist passiert?«, fragt Tomasetti erneut.

»Ich hab bei dem tiefen Loch gefischt, ungefähr vierhundert Meter weiter im Wald drin.« Er schluckt schwer, zeigt mit dem Daumen zu dem Pfad, der dort hinführt. »Ich hatte grade die Schnur ausgeworfen, als ich am Ufer was liegen sehen hab, das sich in ’ner Baumwurzel verfangen hatte.« Er hustet und spuckt aus. »Ich dachte, es wär so ’ne Schaufensterpuppe, wie die im Einkaufszentrum, und hab hingeleuchtet und den Schock meines Lebens gekriegt. So was Schlimmes hab ich noch nie gesehen.«

»Sind Sie sicher, dass sie tot ist?«, fragt Tomasetti.

»Sie hat mich aus glasigen Augen angestarrt.« Er atmet schwer. »Sie ist tot, hundert pro.«

Tomasetti zieht sein Handy hervor und drückt die Kurzwahltaste. Ich höre, wie er Goddard die Situation beschreibt und ihn bittet, rund um diesen Teil des Flusses Straßensperren aufstellen zu lassen.

»Was haben Sie gemacht, nachdem Sie die Leiche entdeckt haben?«, frage ich.

»Ich hab wie ’n Reiher gekotzt.« Er atmet tief ein, stößt die Luft aus. »Dann hab ich gemacht, dass ich wegkomme.«

Blaulicht streift über die Bäume und verkündet die Ankunft eines Polizeiautos. Ich drehe den Kopf und sehe einen Streifenwagen des Sheriffbüros hinter dem Tahoe halten.

»Wo genau haben Sie die Leiche gefunden?«, fragt Tomasetti.

Foster zeigt wieder zur Mündung des Pfades. »Gehen Sie auf dem eine Viertelmeile weit rein, dann sehen Sie unten am Fluss auf der rechten Seite einen Baum mit freiliegenden Wurzeln. Da drin hängt sie fest.«

Sheriff Goddard steigt aus dem Streifenwagen und richtet den Schein seiner MagLite auf den Angler. »Danny?«, fragt er und kommt auf uns zu. »Bist du das?«

»Ja, Kumpel.« Der Mann seufzt erleichtert auf. »Ich bin’s.«

Der Sheriff nickt Tomasetti und mir zu und sagt an Foster gewandt: »Was zum Teufel machst du um diese Zeit hier draußen?«

»Angeln, wie immer. In dem tiefen Loch da unten sind Forellenbarsche. Ich versteh nicht, warum mich das alle fragen, wenn ich’s doch schon gesagt hab.«

»Du weißt doch, wie Polizisten sind«, erwidert der Sheriff nur.

Die Kissenabdrücke auf seiner Wange sagen mir, dass auch er aus dem Bett geklingelt wurde, was seiner Stimmung nicht besonders guttut.

Goddard leuchtet mit der Lampe über Fosters Kleider. »Wieso bist du von oben bis unten voll Dreck?«

Foster sieht an sich hinab, bemerkt den feuchten Fleck im Schritt und zieht das Hemd aus der Hose, um ihn zu bedecken. »Ich war so erschüttert vom Anblick der Frau da unten, dass ich meine Taschenlampe fallen lassen hab. Deshalb bin ich vom Pfad abgekommen und in irgendwelche Büsche gefallen.«

Tomasetti sieht Goddard an. »Haben Sie schon die Absperrung organisiert?«

Goddard nickt. »Zwei Deputys sind vor Ort, die State Highway Patrol ist unterwegs. Das ist zwar nicht gerade viel, müsste aber reichen.«

»Wir würden uns gern den Tatort ansehen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagt Tomasetti.

Augenblicklich zeigt sich Erleichterung im Gesicht des Sheriffs. Die meisten Polizisten sind – bis zu einem gewissen Grad – Adrenalinjunkies. Wenn irgendetwas Außergewöhnliches passiert, wollen sie dabei sein. Ich wage zu behaupten, dass einige sogar eine übertriebene morbide Neugier besitzen, doch Goddard gehört offensichtlich nicht dazu. »Wahrscheinlich ist es besser, wenn nicht zu viele von uns da unten rumtrampeln«, sagt er. »Sie zwei gehen schon mal vor, und ich warte auf den Coroner.«

Ich folge Tomasetti durch den Straßengraben zu dem Pfad, der in den Wald führt. Das Blätterdach über uns ist wie eine feuchtkalte, erdrückende Hand, der Wald um uns herum dunkel und nass und voller Insekten und nachtaktiver Tiere. Dunst schwebt über dem Boden und hängt wie Rauch im dichten Unterholz. Für diese feuchte Umgebung sind wir beide völlig unpassend gekleidet und schon nach kurzer Zeit pitschnass.

Der Duft des Laubes, der feuchten Erde sowie der nasskalte Geruch des Flusses umweht mich, je tiefer wir in den Wald eindringen. Tau tropft von Büschen und Baumwipfeln. Unsere Schuhe versinken im Matsch. Das entfernte Donnergrollen kündigt an, dass die Bedingungen in naher Zukunft nicht besser werden, eher schlechter.

Tomasettis MagLite durchschneidet die Dunkelheit wie eine Klinge. An manchen Stellen ist der Pfad überwuchert und schwer auszumachen, so dass wir uns zweimal verlaufen und ein Stück zurückgehen müssen.

»Da ist der Fluss.«

Mein Blick folgt dem Strahl seiner Taschenlampe, und ich erkenne die grünblaue Oberfläche langsam fließenden Wassers. Nach ein paar Metern sehe ich den Baum, von dem Foster gesprochen hatte, ein uralter Osagedorn, der in einem Winkel von fünfundvierzig Grad aus dem Steilhang am Ufer wächst. »Da ist der Baum.«

Mein Herz pocht heftig, als wir runter zum Wasser gehen. Blitze durchzucken jetzt den Himmel, und Regen klatscht auf das Blätterdach. Tomasetti bleibt kurz vor dem Abbruch des Flussufers stehen. Tote sind niemals ein schöner Anblick, aber Wasserleichen sind wirklich grausig. Ich stelle mich neben ihn.

Im Licht seiner Taschenlampe erscheint die glänzende Oberfläche des schlammigen Ufers, schwammiges Moos auf Flusssteinen und spilleriges schwarzes Wurzelwerk. Mein Blick bleibt an dem hauchdünnen Stofffetzen hängen, der sich in der Strömung auf und ab bewegt wie die durchscheinende Flosse eines exotischen Fisches. Ich erkenne einen wächsernen Oberschenkel, ein angewinkeltes Knie, das weiße Fleisch einer weiblichen Wade. Der Fuß wird von den düsteren Tiefen des Wassers verschluckt. Sie ist angezogen, vielleicht mit einem Kleid, doch es ist bis zur Hüfte hochgerutscht und man sieht einen schlichten Baumwollschlüpfer – wie ihn junge amische Frauen für gewöhnlich tragen.

Sie liegt rücklings im Wasser, ein Arm klemmt verdreht in den Wurzeln fest. Ich starre auf das fahle Gesicht mit dem Mund, der wie zum Schrei geöffnet ist, er ist voll mit Wasser und Blättern. Ihre Unterlippe ist gespalten, die Augen sind offen, die Iris darin farblos und trüb.

»Verdammte Scheiße«, sagt Tomasetti.

Der Anblick der Leiche, das wellenförmige Auf und Ab ihres langen Haares in der Strömung, hat etwas Surreales. Tomasetti und ich stehen einfach nur da. Der Regen ist stärker geworden, doch das nehme ich kaum wahr, spüre weder Nässe noch Kälte. Ich sehe wie gebannt auf das tote Mädchen, das so jung und so entsetzlich sterben musste.

Ich zwinge mich zurück ins Hier und Jetzt, frage leise: »Was glaubst du, wie lange liegt sie schon hier?«

»Die Leiche scheint intakt, jedenfalls kann ich keine Anzeichen von Verfall erkennen.«

Ich warte auf weitere Ausführungen, doch vergeblich. »Keine sichtbaren Wunden«, füge ich hinzu, in Gedanken an das Blut, das wir am Nachmittag auf der Straße gefunden haben.

»Sie hat noch die Unterwäsche an.«

Das muss ein Sexualdelikt nicht ausschließen, denn manche Täter kleiden ihre Opfer wieder an. »Kein Make-up oder Schmuck, keine lackierten Fingernägel. Tomasetti, das Kleid hat ein typisch amisches Muster.«

»Verdammt.«

Ich blicke stromaufwärts, Richtung Brücke, doch es ist zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen. »Glaubst du, jemand hat sie hier an der Stelle reingeworfen? Oder eher von der Brücke aus?«

Er leuchtet mit der Taschenlampe über den Boden, wo mehrere Schuhabdrücke sichtbar werden, unsere und ein Wabenmuster, das von Foster stammen könnte. Aber nirgends abgebrochene Zweige, kein plattgetretenes Gras, kein Blut. »Auf den ersten Blick keine Anzeichen eines Kampfes«, knurrt er. »Wir müssen Abdrücke von Fosters Stiefelsohlen nehmen.«

Er leuchtet weiter über den steilen Uferrand, dann zur Wasseroberfläche. Der Fluss ist knapp acht Meter breit. Er sieht tief aus, aber ein paar Meter flussabwärts scheint eine seichte Stelle zu sein, wenn ich das Plätschern richtig deute. »Er könnte sie weiter oben reingeworfen haben, und die Strömung hat sie hergeschwemmt.«

»Oder er hat auf der Brücke haltgemacht und sie runter geworfen«, sage ich.

»Mist.« Er nimmt sein Telefon, ruft Goddard an und bittet ihn, die Brücke absperren zu lassen. »Ich glaube kaum, dass Reifenspuren was bringen, falls es überhaupt welche gibt«, sagt er und klappt das Handy zu.

»Vielleicht haben wir ja Glück.«

Aber das glauben wir beide nicht. Es ist extrem schwer, in einem so großen, allgemein zugänglichen und stark frequentierten Gebiet aussagekräftige Beweismittel zu finden. Auf die es auch noch geregnet hat.

Einige Minuten stehen wir da und leuchten die Umgebung des Fundorts ab, um eine Vorstellung zu bekommen, wie es hier aussieht. Ich wünschte, ich hätte die Kamera dabei, aber die müssen wir erst aus dem Wagen holen. Deshalb präge ich mir erst einmal so viele Details wie möglich ein – Ort und Position der Toten, Neigung des Baumes, Ufererosion und das Ausmaß des Wurzelwerks am Wasserrand, die Kleidung des Opfers. Aber ich weiß jetzt schon, dass es ihr Gesicht ist, das mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wird. Ich sehe auf die Uhr.

»Wir müssen zurück und den Fotoapparat holen. Und wir brauchen einen Generator und Scheinwerfer«, sagt Tomasetti.

»Es fällt mir schwer, sie so zurückzulassen.« Ich weiß, es ist ein dummer Kommentar, denn wir dürfen die Leiche nicht bewegen, bevor alles dokumentiert ist. Doch die Vorstellung, sie hier im trüben, kalten Wasser liegen zu lassen, ihr Körper den Tieren im Wasser ausgeliefert, in deren Reich sie eingedrungen ist, setzt mir zu.

Abrupt wendet Tomasetti den Lichtstrahl von der Leiche ab, knipst die Taschenlampe aus und geht hinauf zum nächsten Baum, stützt sich mit einer Hand daran ab und schließt die Augen. Auch wenn er schon oft im Leben mit Gewalt konfrontiert wurde, ist er genauso entsetzt und abgestoßen wie ich.

Kurz darauf streicht er sich mit der anderen Hand über die Wange und stößt sich vom Baum ab. »Die Spurensicherung muss schnell kommen, bevor der Regen auch noch den letzten Rest zunichtemacht, was sich eventuell verwerten lässt.« Er knipst die Taschenlampe wieder an und leuchtet über den mit Wurzeln durchzogenen Uferabschnitt. »Vielleicht finden sie ja Schuhabdrücke.«

Doch er holt sein Telefon nicht hervor, sondern dreht sich um und bleibt reglos stehen, den Lichtstrahl auf den Boden gerichtet. Obwohl er mir den Rücken zugewandt hat und ich sein Gesicht nicht sehen kann, spüre ich, dass er keine Fragen hören will.

Ich lasse ihm etwas Zeit, dann sage ich. »Soll ich die Spurensicherung anrufen?«

Langsam dreht er sich zu mir um. Im schwachen Licht der auf den Boden gerichteten Taschenlampe sehe ich Falten in seinem Gesicht, die ich noch nicht kenne; der Ausdruck in seinen Augen ist mir allerdings bekannt, denn in meinen ist der gleiche zu sehen.

»Ich mach das schon.« Er sieht weg. »Ich bin okay.«

»Versteh mich nicht falsch, aber du siehst nicht so aus.«

Er sieht mir in die Augen. »Vor fünf Jahren hätte mich so ein Anblick wütend gemacht, und das wär meine einzige Gefühlsregung gewesen. Für das tote Mädchen oder ihre Familie hätte ich nichts empfunden, ich war nur daran interessiert, den Scheißkerl zu kriegen, der das gemacht hat. Und wenn er dabei draufgegangen ist, war das wie ein zusätzlicher Bonus.«

»Dafür musst du dich nicht noch selber fertigmachen, das ist nur allzu menschlich«, sage ich.

»Genau das ist das Problem, Kate. Es war nicht menschlich. Ich war weder geschockt noch traurig oder zerknirscht, weil ein Mädchen tot war. Manchmal hab ich nicht einmal Wut empfunden. Es war ein Spiel. Ich hatte bloß das fast manische Bedürfnis, den Scheißkerl dranzukriegen. Nicht um irgendeiner edlen Gerechtigkeit willen, sondern weil ich wusste, dass ich besser bin als er, und es beweisen wollte.«

»Diesen Schutzmechanismus haben wir alle.«

»Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, gesagt zu bekommen, dass deine Liebsten alle tot sind.«

Ich gehe zu ihm, und noch bevor es mir klar wird, lege ich die Hand auf seine Wange. »Es tut mir leid.«

Er nimmt sie, führt sie sanft über seinen Mund und vom Gesicht weg. »Also gut, kriegen wir den Dreckskerl eben dran«, sagt er, und wir gehen den Pfad zurück.

* * *

Eine Stunde später wimmelt es auf der Landstraße von Deputys des Sheriffs, State Highway Patrol Officers und Rettungssanitätern. Die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge und Krankenwagen flackern über die Bäume. Das Gebiet ist weitläufig mit gelbem Absperrband gesichert, und die Brücke ist mit Straßensperren abgeriegelt. Zwei Krankenwagen stehen außerhalb des abgesperrten Gebietes, ihre Dieselmotoren rattern in der Stille der Morgendämmerung.

Regen klatscht auf die drei Mitarbeiter des Coroners von Trumbull County nieder, die mit viel Mühe den Leichnam durch den Straßengraben nach oben tragen. Goddards Deputy hatte uns County-eigene Regenklamotten gegeben, doch wir sind bereits total nass, und obwohl es um die fünfzehn Grad ist, spüre ich die Kälte bis auf die Knochen.

Ich stehe hinter dem Krankenwagen, als die drei Männer die Tote auf der Rollbahre bringen, und kann die Silhouette ihres Körpers in dem schwarzen Leichensack erkennen.

»Hatte sie einen Ausweis oder so was dabei?«, fragt Tomasetti.

»Nein, nichts«, erwidert ein etwa dreißig Jahre alter Kriminaltechniker mit Spitzbart und Nickelbrille. »Wir haben uns am Tatort so vorsichtig wie möglich bewegt, aber das Ufer ist trotzdem ziemlich zertrampelt.«

»Todesursache?«, fragt Tomasetti.

»Keine sichtbaren Verletzungen.« Der Mann verzieht das Gesicht. »Bei Wasser ist das ansonsten schwer zu sagen, wir müssen die Autopsie abwarten.«

»Wie lange wird das dauern?«, fragt Tomasetti.

»Wir sind mit der Arbeit zur Zeit auf dem Laufenden, also vielleicht morgen früh.«

Tomasetti reicht ihm seine Karte. »Geben Sie uns Bescheid, ja?«

»Mach ich«, sagt er, dann laden sie die Leiche in den Krankenwagen und fahren davon.

Als ich dem Auto hinterhersehe, steigt Zorn in mir auf. »Ich hatte gehofft, dass sie einfach nur weggelaufen ist.«

Tomasetti seufzt. »Irgendwie passt das alles nicht so richtig zusammen.«

»Chief Burkholder, Agent Tomasetti«, hören wir Goddard hinter uns rufen und drehen uns um. Er trägt eine gelbe Regenjacke und hat zwei Kaffee-to-go von McDonald’s in der Hand. Als er mir einen reicht, bin ich ihm über die Maßen dankbar.

»Ist es Annie King?«, frage ich.

»Keiner hier erkennt sie wieder.« Der Sheriff schüttelt den Kopf. »Und wir haben kein Foto.«

Ich erzähle ihm von dem typisch amischen Muster des Kleides, dass sie keinen Schmuck trägt und ihre Nägel nicht lackiert sind. »Sie könnte amisch sein.«

Goddards Gesicht verdüstert sich. »Dann ist sie es wahrscheinlich. Von der Zeit her könnte es passen. Verdammt.« Er stößt einen tiefen Seufzer aus. »Wir müssen sie von den Eltern identifizieren lassen.«

»Wer ist der Bischof der amischen Gemeinde?«, frage ich.

Beide Männer sehen mich an.

»Auch wenn wir die Eltern nur zur Identifizierung der Leiche kommen lassen, sollte der Bischof auf jeden Fall dabei sein – falls es ihre Tochter ist«, sage ich.

Goddard nickt. »Old Abe Hertzler. Er wohnt mit seiner Frau in der River Road.« Er senkt die Stimme. »Ich sag ihm Bescheid. Können Sie hierbleiben und das Ganze beaufsichtigen? In ein paar Stunden sehen wir uns dann im Krankenhaus in Warren, da ist unser Leichenschauhaus.«

Kein Polizist reißt sich darum, Angehörige zu benachrichtigen. Ich wage sogar zu behaupten, dass es mit zu den schwierigsten Pflichten eines Chief of Police gehört. Die Todesursache ist dabei nicht von Bedeutung – ob Autounfall, Ertrinken oder ein Verbrechen –, aber die Nachricht zu überbringen setzt einem Polizisten oft stark zu.

Goddard dreht sich um und will gehen, doch ich halte ihn auf. »Ich mache es.«

Er sieht mich ungläubig an. »Das ist wirklich nett gemeint, Chief Burkholder, aber das kann ich Ihnen nicht aufbürden.«

»Vielleicht hilft es, dass ich selbst einmal amisch war«, sage ich.

Ich spüre Tomasettis Blick auf mir ruhen, weiß nicht, ob er mir die »Es macht mir überhaupt nichts aus«-Haltung abnimmt. »Deshalb bin ich ja hier«, füge ich noch hinzu.

Ich lasse unerwähnt, dass die meisten Amischen nicht nur gegenüber Englischen misstrauisch sind, sondern auch gegenüber Amischen aus anderen Gegenden – und nicht zu vergessen gegenüber den Exkommunizierten, so wie ich eine bin.

Die Erleichterung steht Goddard ins Gesicht geschrieben. »Um ehrlich zu sein, fühle ich mich bei den Amischen immer ein bisschen fehl am Platz«, gesteht er kleinlaut.

»Das ist bei Chief Burkholder nicht der Fall«, sagt Tomasetti.

»Wie finden wir den Bischof?«, frage ich.

Der Sheriff beschreibt uns den Weg zum Bischof, der nur ein paar Meilen weiter südlich wohnt. »Wir sehen uns dann später im Leichenschauhaus.«

Toedliche Wut
titlepage.xhtml
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_000.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_001.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_002.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_003.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_004.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_005.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_006.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_007.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_008.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_009.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_010.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_011.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_012.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_013.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_014.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_015.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_016.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_017.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_018.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_019.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_020.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_021.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_022.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_023.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_024.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_025.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_026.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_027.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_028.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_029.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_030.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_031.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_032.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_033.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_034.html
CR!FEJCAS4QS56Q57BK1XRTZX73ESX8_split_035.html