3.

Kapitel

Bis Richfield sind es noch ungefähr zwanzig Minuten, als Tomasetti anruft. Glücklicherweise hat der Stadtrat letzten Monat die Anschaffung einer Freisprechanlage genehmigt, denn ich verbringe einen Großteil der Fahrtzeit am Telefon. Ich habe mit Sheriff Rasmussen gesprochen, mit Auggie – der sich für seine »unangemessenen« Bemerkungen von vorhin entschuldigte –, und vier ausgesprochen unangenehme Unterhaltungen mit Kathleen McClanahan geführt. Mona hatte recht: Die Frau flucht in einem Tempo, das dem eines Auktionators in nichts nachsteht. McClanahan beendete das letzte Gespräch mit der Drohung, mich zu verklagen, weil ich ihr kleines Mädchen »hart angefasst« hätte.

Tomasettis Anruf nehme ich nach dem dritten Klingelzeichen entgegen. »Ich bin fast bei euch«, sage ich zur Begrüßung.

»Ein weiteres Mädchen wird vermisst«, sagt er. »Fünfzehn Jahre alt. Seit letzter Nacht. Vor zehn Minuten hat das örtliche Polizeirevier angerufen.«

»Wo?«

»Buck Creek, eine Kleinstadt, eine Autostunde nordöstlich von hier.«

»Sie ist amisch?«

»Die Familie hat die ganze Nacht nach ihr gesucht.«

»Und sie haben erst jetzt die Polizei gerufen, weil sie dachten, sie würden sie selber finden«, ergänze ich trocken.

»Siehst du? Ich wusste doch, dass wir deine Hilfe gebrauchen können.«

»Wie heißt sie?«

Am anderen Ende der Leitung raschelt Papier. Tomasetti blättert in einer Akte. »Annie King. Die Eltern haben sie zum Gemüsehändler geschickt, und sie ist nicht nach Hause gekommen.«

Er hält inne. Seine Ungeduld ist spürbar – er will loslegen, und ich halte ihn auf. Die ersten achtundvierzig Stunden sind die wichtigsten bei der Aufklärung eines Falles. Das trifft umso mehr zu, wenn es um vermisste Personen geht, wobei wir in zwei Fällen schon über der Zeit liegen. Aber bei diesem jetzt sind die Erfolgsaussichten gut.

»Es sind schon alle hier versammelt«, sagt er. »Wir warten mit dem Briefing auf dich, du unterscheibst ein paar Formulare für die Personalabteilung, und dann geht’s los.«

»Ich bin in zehn Minuten da.«

»Ich hole dich an der Tür ab.«

Kurz nach zwölf Uhr biege ich auf den Highlander Parkway ab. Ich bin zwar nicht nervös, werde aber zunehmend ruhelos, je näher ich der BCI-Niederlassung komme. Ich weiß genauso gut wie Tomasetti, dass die Uhr tickt, und will mit den Eltern des verschwundenen Mädchens sprechen. Ich will das Mädchen finden, bevor wirklich etwas Schlimmes passiert – wenn es nicht schon passiert ist.

Ich rufe mir ins Gedächtnis, dass ich nur eine Beraterfunktion habe, und frage mich natürlich, wie die aussehen soll. Als Polizeichefin von Painters Mill bin ich es gewöhnt, alles selbst in die Hand zu nehmen. Ob es mir schwerfällt, von der zweiten Reihe aus zu agieren?

Und dann ist da auch noch meine Beziehung mit Tomasetti. Gemeinsam an einem Fall zu arbeiten und privat involviert zu sein heißt, einen gewagten Spagat zu vollführen. Niemand weiß von unserer Beziehung, und es ist sicher klug, es dabei zu belassen. Zudem bin ich überzeugt, dass wir unsere persönlichen Gefühle aus den Ermittlungen heraushalten können, gebe allerdings zu, dass ich mich auf die gemeinsame Zeit freue.

Ich stelle meinen Wagen auf den Besucherparkplatz, nehme meine Reisetasche und steuere die gläsernen Doppeltüren des Gebäudes an. Am Empfang sitzt eine uniformierte Frau hinter einem glänzenden Nussbaumschreibtisch. Als sie mich kommen sieht, steht sie auf.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Sie ist Afroamerikanerin, schlank, und trägt ein marineblaues Jackett. Auf dem Namensschild steht Gabrielle, und an ihrem Gürtel ist eine verchromte Polizeimarke befestigt. »Mein Name ist Kate Burkholder. Ich habe einen Termin mit John Tomasetti.«

»Er hat schon zweimal angerufen, einen Moment bitte.« Sie wählt gerade seine Nummer, als ich meinen Namen höre und mich umdrehe. Tomasetti kommt mit langen Schritten auf mich zu, und ich freue mich beim Anblick seiner hochgewachsenen Gestalt. Er ist wie immer sehr gut gekleidet: blaues Hemd, graugestreifte, weinrote Krawatte und anthrazitfarbene Hose.

Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Agent Tomasetti.«

Sein Gesicht entspannt sich. »Chief Burkholder.« Er sieht die Frau hinter dem Schreibtisch an. »Danke, Gabby.«

Noch bevor sie ihm lächelnd zuwinkt, sehe ich in ihren Augen, dass ich nicht die Einzige bin, der dieser dunkle, grüblerische und leicht zwielichtige Mann gefällt.

»Wie war die Fahrt?«, fragt er und reicht mir die Hand.

»Ereignislos.«

»Mehr kann man sich vermutlich kaum wünschen.« Wir schütteln die Hände, und ich nehme mehrere Dinge auf einmal wahr: Seine Hand ist warm und trocken, sein Händedruck fest. Er mustert mich ein bisschen zu genau und auch eine Idee zu eindringlich, was ich aber beides mag. »Gut siehst du aus«, sagt er leise.

»Du aber auch.«

Die Fältchen in seinen Augenwinkeln verraten sein Amüsement. Er hält meine Hand etwas zu lange und zeigt dann zu den Aufzügen. »Legen wir gleich los.«

Auf dem Weg zum Fahrstuhl will er mir meine Reisetasche abnehmen, besinnt sich aber im letzten Moment eines Besseren. Niemand soll auf falsche Gedanken kommen, was unsere Beziehung betrifft, schon gar nicht seine Vorgesetzten. Also hänge ich mir die Tasche über die Schulter und tue so, als hätte ich es nicht bemerkt.

Wir stehen schweigend vor dem Aufzug und warten. Als er kommt, gehen wir hinein, Tomasetti drückt den Knopf für den zweiten Stock, und die Türen gleiten leise zu. Abgesehen von der Musikberieselung aus den Deckenlautsprechern – die Verstümmelung eines alten Sting-Songs –, sind wir allein. Obwohl Tomasettis Körperlichkeit schwer zu ignorieren ist, sind meine Gedanken schon bei dem Treffen mit seinen Vorgesetzten: Ich will einen guten Eindruck machen und zur Lösung des Falls beitragen. Doch kaum setzt der Aufzug sich in Bewegung, legt Tomasetti mir die Hände auf die Schultern, drückt mich an die Wand und küsst mich. Ich bin so geschockt, dass meine Knie weich werden. Die Fahrstuhlmusik nehme ich nur noch gedämpft wahr, dafür pocht mein Herz umso lauter. Ich spüre vage die Aufwärtsbewegung des Fahrstuhls, dafür deutlich den festen Druck seiner Lippen auf meinem Mund, schmecke Pfefferminz und Kaffee und den Mann, der mir seit Wochen fehlt. Ich will gerade die Arme um ihn schlingen, als er zurücktritt und mich ansieht. »Willkommen in Richfield«, sagt er leise.

»Eine wirklich professionelle Begrüßung.« Mein Lachen klingt nervös, meine Stimme atemlos und dünn. »Es gibt hier im Aufzug nicht zufällig Überwachungskameras, oder?«

»Ich hab’s überprüft.«

»Dann war das also geplant.«

»Aber oben im Flur gibt’s Kameras.«

»Falls ich das Bedürfnis verspüre, mich auf dich zu werfen.«

»Dem zu widerstehen dir sicher nicht leichtfallen wird.«

Wir lächeln uns an, dann gehen die Türen auf, und mir bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, was das gerade war. Mit noch immer klopfendem Herzen trete ich hinaus in den hell erleuchteten Flur mit den etwa ein Dutzend Türen, die größtenteils offen sind. Am Ende des Flurs bleibt Tomasetti vor einer Tür mit einem Messingschild »KONFERENZRAUM 1« stehen.

»Ich versuche, das Ganze so schnell wie möglich hinter uns zu bringen«, sagt er.

Ich wische meine feuchten Handflächen an der Hose ab. »Ich versuche, nicht so auszusehen, als wäre ich gerade im Aufzug überfallen worden.«

Er wirft mir einen Seitenblick zu, dann treten wir in den Konferenzraum. An einem schweren Eichentisch sitzen zwei Männer und eine Frau. Ihre Blicke streifen kurz Tomasetti und bleiben dann an mir hängen, neugierig, abschätzend, einschüchternd – sie beurteilen mich aufgrund von Aussehen und Verhalten. Ich kenne die Nummer, habe sie über die Jahre selbst bei vielen Neulingen angewandt. Die beiden Männer sind Polizisten, das sehe ich sofort: billige Anzüge und Blicke, die ein bisschen zu direkt sind. Die Frau ist Anfang dreißig, gut gekleidet, teurer Schmuck, manikürte Fingernägel. Sie arbeitet vermutlich in der Verwaltung, hält sich aber lieber bei den Herren auf.

Tomasetti verliert keine Zeit. »Das ist Chief of Police Kate Burkholder«, stellt er mich vor.

Die Männer stehen auf. Ein hochgewachsener, schlaksiger Mann mit blauen Augen und rotgeäderter Knollennase hält mir die Hand hin. »Ich bin Lawrence Bates, Deputy Superintendent.« Mit verschwörerisch gesenkter Stimme fügt er hinzu: »Was im Prinzip heißt, dass ich Tomasetti fast jeden Tag ertragen muss.«

Ich grinse; er gefällt mir. »Tougher Job.«

Er lacht verhalten. Ich wende mich dem zweiten Mann zu. Sein Händedruck ist etwas zu fest und zu feucht. »Denny McNinch.«

In McNinchs Blick liegt etwas Berechnendes, und sein Gesichtsausdruck verrät psychische Anspannung – die vielleicht sogar mit Tomasetti zu tun hat. Insgesamt wirkt er mitgenommen, aber nicht im physischen Sinne. Ich bin ziemlich sicher, dass er viel Zeit im Außendienst verbracht hat, bevor er hinter einem Schreibtisch gelandet ist. »Schön, Sie kennenzulernen«, sage ich.

»Denny kommt aus Columbus«, erklärt Tomasetti.

Aha, denke ich, das ist es also. Tomasetti war von Cleveland nach Columbus versetzt worden, wo er von Anfang an Probleme hatte und beinahe gefeuert worden wäre. Wenn McNinch ebenfalls in Columbus war, weiß er darüber Bescheid. Und so wie er mich anstarrt, fragt er sich vielleicht, ob zwischen mir und Tomasetti etwas läuft. Aber vielleicht hab ich auch einfach nur ein schlechtes Gewissen.

»Willkommen an Bord, Chief Burkholder«, sagt er und lässt meine Hand los.

Bates leitet die Besprechung und beginnt ohne lange Vorrede. »Wir freuen uns, Sie bei uns zu haben, Chief Burkholder. John hat Ihnen die Situation sicher schon erklärt.«

Ich nicke. »Inzwischen wird wohl noch eine dritte Person vermisst.«

»Richtig. Wir haben einen Anruf der Polizei in Buck Creek bekommen«, sagt Bates. »Da ich weiß, dass Sie schnell loslegen wollen, halten wir das hier kurz.«

McNinch sieht zu der Frau am Tisch. Sie war die ganze Zeit sitzen geblieben, hatte aber seit meinem Eintreten den Blick nicht von mir gewendet. »Das ist Paige Wilson, meine Assistentin. Sie hat ein paar Formulare vorbereitet, die Sie bitte unterzeichnen wollen, Chief Burkholder, damit Vater Staat nichts auszusetzen hat.«

»Nennen Sie mich Kate.«

Nickend zeigt er auf die Papiere. »Wir zahlen ein kleines Tagesgeld, plus Kilometergeld, und erstatten die Auslagen.«

Die Formulare sind typische Verwaltungsvordrucke in dreifacher Ausfertigung, die Unterschriftsseiten mit einem roten Sticker versehen. Da Eile geboten ist, überfliege ich die Papiere nur und setze meinen Namen drunter.

Als ich fertig bin, sagt Bates: »Ich wollte Sie schon immer kennenlernen, seit Tomasetti mir von Ihren gemeinsamen Ermittlungen bei den Schlächter-Morden erzählt hat. Was für ein Wahnsinnsfall für so eine kleine Stadt.«

»Da haben Sie recht.« Bei der Erinnerung daran graust mich noch immer, nicht zuletzt wegen einiger heikler Verwicklungen. »Agent Tomasetti war uns eine enorme Hilfe.«

»Er hat erzählt, Sie seien selbst einmal eine Amische gewesen«, sagt McNinch.

Das ist es, was immer alle interessiert. Nicht mein beruflicher Werdegang bei der Polizei oder mein Abschluss in Strafrecht, und auch nicht meine Aufklärungsrate als Detective in Columbus. Sie wollen wissen, wie das war, als Amische aufzuwachsen, ob ich selbstgeschneiderte Kleider anhatte, in einem Buggy – der Pferdekutsche der Amischen – gefahren bin und ohne Strom und Autos gelebt habe. »Ich bin als Amische geboren«, sage ich nur.

Mir entgeht nicht, dass die Frau sich leicht zur Seite neigt, als wolle sie nachsehen, ob ich praktisches Schuhwerk trage.

»Sie sprechen anscheinend auch fließend Pennsylvaniadeutsch«, sagt McNinch.

Ich nicke. »Das ist besonders hilfreich, um kulturelle Barrieren zu überwinden.«

»Bis jetzt ist unsere Erfolgsquote gleich null, was nützliche Informationen angeht«, sagt Bates.

»Die amischen Familien sind nicht eben kooperativ gegenüber den örtlichen Polizeibehörden«, fügt Tomasetti erklärend hinzu.

»Das ist leider nicht ungewöhnlich«, erkläre ich. »Die Amischen stehen dem Staat – und besonders den Polizeibehörden – generell misstrauisch gegenüber. Wir haben das letzten Dezember zu spüren bekommen, als wir mit einem plötzlichen Anstieg hassmotivierter Verbrechen konfrontiert waren.« Während ich spreche, vermeide ich Blickkontakt mit Tomasetti, denn es soll niemand hier mitbekommen, dass wir mehr als Kollegen sind. Mehr als Freunde. »Zudem sind die Amischen sehr zurückhaltend, was den Kontakt mit uns betrifft, weil sie von ihrem Grundsatz her für sich bleiben wollen. Daneben gibt es natürlich auch kulturelle und religiöse Unterschiede.« Ich denke an die Kluft zwischen mir und meinen Geschwistern. Dass man selbst dann, wenn man amisch geboren wurde, als Außenstehende betrachtet werden kann, verschweige ich. »Im Allgemeinen sind sie uns gegenüber offener, wenn sie merken, dass wir in ihrem Interesse handeln. Das trifft besonders zu, wenn ein Familienmitglied in Gefahr ist.«

»Sehr gut.« Bates schiebt mir eine Mappe über den Tisch zu. »Wir sind noch dabei, die Fakten zusammenzutragen, Kate, die Akte ist also noch ziemlich dünn.«

Ich schlage sie auf und blicke auf drei Vermisstenanzeigen. Bates hat recht, die Informationen sind mehr als dürftig. Es handelt sich um drei junge Frauen zwischen sechzehn und achtzehn Jahren.

»Wir gehen davon aus, dass es mit ihrer amischen Herkunft zu tun haben muß«, sagt Ninch.

»Denken Sie, dass es sich um eine Serienstraftat handelt?«, frage ich. »Und das ist jetzt eine Eskalation?«

Tomasetti nickt. »Möglich.«

»Aber das Motiv ist uns noch ein Rätsel«, sagt Bates.

»Keine Lösegeldforderung«, erklärt Tomasetti.

»Noch keine«, präzisiert Bates.

»Haben Sie spontan eine Idee?«, fragt McNinch.

Ich blicke von der Akte auf und sehe ihn an. »Am naheliegendsten ist natürlich ein sexueller Hintergrund, aber daran haben Sie sicher auch schon selbst gedacht.« Mir gehen noch einmal die Ermittlungen in meinem vorletzten Mordfall – die Familie Plank – durch den Kopf und welche Abgründe sich seinerzeit auf einmal auftaten. »Vielleicht hat es was mit Fetischismus zu tun. Jemand mit einem Amisch-Fetisch agiert seine Phantasien aus, wobei es im Wesentlichen darum geht, dass das Opfer amisch ist.«

»Ich wusste nicht, dass so etwas existiert«, bemerkt McNinch.

»Momentan läuft eine Suche in NCIC und VICAP«, sagt Tomasetti. »Wir warten noch auf das Ergebnis.« NCIC ist die Polizeidatenbank der Bundesbehörden, VICAP die des FBI, wo sämtliche aufgeklärte und unaufgeklärte Serienmorde gesammelt und analysiert werden.

»Es könnte auch ein Hassmotiv sein«, erkläre ich. »Damit hatten wir es in Painters Mill zu tun, und ich weiß, dass es in anderen Städten auch solche Probleme gegeben hat.«

»Hassdelikte sind vermutlich immer irrational«, sagt Bates und kratzt sich am Kopf. »Aber Hass auf die Amischen? Sie scheinen mir doch ziemlich gute Nachbarn zu sein.«

»Trotzdem gibt es Menschen, denen ihre Religion missfällt und die sie für Fanatiker oder eine Art Kult halten. Andere können sie wegen der Buggys nicht leiden, weil sie damit den Verkehr behindern.« Ich zucke die Schultern. »Wer einen Grund sucht, wird ihn finden, und wahrscheinlich ist da draußen irgendwo ein Irrer, der genau das getan hat.«

»Hatten Sie schon einmal mit einer Entführung bei den Amischen zu tun?«

Ich schüttele den Kopf. »Gibt es Verdächtige?«

»Null.« Bates schüttelt seinerseits den Kopf.

»Irgendetwas bei einem der Tatorte?«, frage ich.

»Es gibt keine Tatorte«, antwortet Tomasetti. »Diese Jugendlichen sind im wahrsten Sinne des Wortes spurlos verschwunden. Wir wissen nicht, wo die Entführungen – falls es überhaupt welche waren – stattgefunden haben.«

Ich blicke wieder in die Akte. Ich bin von dem Rätsel wie gebannt. Ich will wissen, was passiert ist und warum. Ich will die Verantwortlichen finden und ihnen in die Augen sehen. Ich will sie aufhalten. Zur Rechenschaft ziehen. Doch auf der Gefühlsebene – geprägt von meiner amischen Herkunft und einer intimen Kenntnis ihrer Kultur – bin ich schockiert von der Tatsache, dass drei amische Teenager verschwunden sind, und ich habe Angst vor dem, was noch alles ans Tageslicht kommen kann. »Was ist mit den Vermissten? Gibt es noch andere Gemeinsamkeiten, außer dass sie amisch sind?«

»Wir haben noch keine gefunden, aber wie gesagt, wir sind noch dabei, Informationen zu sammeln«, erwidert McNinch.

»Unsere Analysten sehen sich momentan alles genau an«, fügt Tomasetti hinzu. »Sobald wir vor Ort sind, reden wir mit den Familien. Und dabei brauchen wir Ihre Hilfe.«

Ich nicke. »Die Familien werden unsere wichtigsten Informationsquellen sein. Und die Freunde.«

»Bis jetzt ist es uns noch nicht gelungen, Fotos von den Vermissten zu bekommen«, sagt Bates.

»Die wenigsten Amischen haben Fotos von ihren Kindern«, erwidere ich.

Er starrt mich unverwandt an, und mir wird klar, dass er nicht in Ohio aufgewachsen ist. »Die meisten Amischen lassen sich nicht fotografieren, weil darin eine eitle Zurschaustellung von Stolz zum Ausdruck kommt«, erkläre ich ihm. »Und manche der sehr konservativen Gemeindemitglieder gehorchen dem biblischen Gebot, nach dem keinerlei Abbild – nicht einmal ein Gemälde – von ihnen angefertigt werden darf.«

»Wir hatten die Officer der State Highway Patrol um Unterstützung gebeten«, sagt Bates, »und sie wollten Fotos, doch wir konnten ihnen lediglich Personenbeschreibungen geben.«

»Wenn die Eltern mitmachen, können wir Zeichnungen der Mädchen anfertigen lassen. Das ist zwar bei weitem nicht so hilfreich wie ein Foto, aber immerhin eine Alternative«, schlage ich vor.

»Sowie Sie das Okay der Eltern haben, schicken wir einen Polizeizeichner hin«, sagt Bates.

Tomasetti wirft demonstrativ einen Blick auf die Uhr, die wenig subtile Aufforderung an seine Vorgesetzten, die Besprechung schnell zu Ende zu bringen, damit wir losfahren können.

»Hat die örtliche Polizei schon mit den Eltern gesprochen?«, frage ich.

Tomasetti nickt. »Der Sheriff hat aber kaum etwas in Erfahrung bringen können. Die Eltern stehen wohl genauso vor einem Rätsel wie wir.«

McNinch fährt sich mit der Hand über den Kopf. »Das soll jetzt keine Kritik an Kleinstadtpolizisten sein, aber solche Dinge überfordern sie vermutlich, zumal Reviere auf dem Land meistens klein und unterbesetzt sind. Der Sheriff dort hat Staubsauger verkauft, bevor er Ordnungshüter wurde, das muss man sich mal klarmachen. Nichts für ungut, Kate, aber diese Leute haben meistens einfach nicht die Erfahrung, um Ermittlungen dieser Art durchzuführen.«

»Schon okay.« Ich lächele ihn an. »Nur zu Ihrer Information: Ich habe noch nie Staubsauger verkauft.«

McNinch lacht. »Dann sind Sie der Sache bestimmt gewachsen.«

Hoffentlich, flüstert meine innere Stimme.

Toedliche Wut
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