5.

Kapitel

Zehn Minuten später sitzen Edna und Levi King, Tomasetti, Goddard und ich vor dampfenden Kaffeetassen am großen Küchentisch. Ich höre irgendwo im Haus Kinder spielen, das nahe Bellen eines Hundes, das typische piiieh-piiieh eines Blauhähers draußen im Ahornbaum und das entfernte Pfeifen eines Zuges. Die Stimmung ist düster, die bange Vorahnung der Eltern fast greifbar. Ich hoffe, dass keiner von uns ihnen irgendwann mitteilen muss, dass ihre Tochter nicht wieder nach Hause kommt.

Goddard zieht die Umhängetasche vom Straßenrand aus dem Spurensicherungsbeutel und zeigt sie den Eltern. »Können Sie uns sagen, ob die vielleicht Annie gehört?«

Edna starrt die Tasche kurz an und nimmt sie ihm dann aus der Hand. Ihr Mund zittert. »Es ist ihre.« Sie betrachtet sie eingehend, dreht und wendet sie in den Händen, untersucht jeden Zentimeter des Stoffes, als enthielte er die Antworten, die wir so dringend brauchen. Sie blickt auf, sieht vom Sheriff zu Tomasetti zu mir. »Wo haben Sie die gefunden?«

Der Sheriff antwortet. »Auf der County Road 7.«

Ich bin froh, dass er nichts von dem Blut sagt. Solange nicht feststeht, dass es von einem Menschen stammt – oder als das von Annie identifiziert wurde –, gibt es keinen Grund, die Familie mit Informationen zu quälen, die womöglich irrelevant sind.

»Wir beten für ihre gesunde Heimkehr.« Edna schließt die Augen, drückt die Tasche an ihr Herz. »Vielleicht ist das ein Zeichen, dass sie bald zu uns zurückkommt.« Ihr Gesicht fällt zusammen, doch kein Ton kommt aus ihrem Mund. »Annie fehlt uns«, flüstert sie. »Wir machen uns Sorgen. Wir wollen sie wiederhaben.«

Levi starrt den Sheriff an. »Gab es da noch andere Hinweise auf sie?«

Der Sheriff schüttelt den Kopf. »Wir nehmen den Fundort genau unter die Lupe.«

Ich höre ein Geräusch an der Tür und wende den Kopf, sehe ein kleines amisches Mädchen hinter dem Türrahmen hervorlugen. Ihr blaues Kleid sieht aus, als hätte sie es von ihrer älteren Schwester geerbt, ihre nackten Füße sind schmal, gebräunt und schmutzig.

Levi hebt die Hand und zeigt nach draußen. »Ruthie, geh und hilf deiner Schwester im Garten.« Er spricht mit fester Stimme, doch der traurige Unterton sagt mir, dass es ihm kaum um die Arbeit im Garten geht – er will nicht, dass sie das Gespräch mit anhört.

Das Mädchen beäugt uns noch einen Moment misstrauisch, dann läuft es weg, wobei ihre nackten Füße auf den Eichenboden klatschen.

»Wie viele Kinder haben Sie, Mrs King?«, fragt Tomasetti.

»Acht«, erwidert Edna. »Gott hat uns mit vier Mädchen und vier Jungen gesegnet.«

Wie nebenbei hole ich meinen Notizblock hervor. »Und wie alt sind sie?«

»David ist unser Jüngster. Er ist drei.« Ein freudloses Lachen entweicht ihrem Mund. »Ich glaube, Sie haben ihn kennengelernt, als er Ihnen die Tür aufgemacht hat. Gegenüber Fremden ist er schüchtern, bei Englischen ganz besonders. Annie ist die Älteste.« Ihre Stimme versagt, doch nach einem Moment spricht sie weiter. »Sie ist fünfzehn … Lydia ist dreizehn …« Sie lässt die Worte gedankenverloren ausklingen, als gäbe es zu viele Kinder, um sie alle aufzuzählen. »Sie machen sich Sorgen um ihre Schwester.«

»Wann genau haben Sie gemerkt, dass Annie verschwunden ist?«, frage ich.

Die Frau wirft ihrem Mann einen kurzen Blick zu, sieht dann auf ihre geröteten, rissigen Hände mit Fingernägeln, die bis zum Nagelbett abgekaut sind. »Gestern Nachmittag. Wir haben sie einkaufen geschickt, Mais und Tomaten. Sie wird manchmal unruhig … sie ist in dem Alter.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Vor dem Abendessen.« Sie blickt geistesabwesend auf die alte Kaminuhr im Regal neben der Tür. »So um zwei, denke ich.«

»War sie zu Fuß?«

»Ja. Sie läuft gern.«

»Wann haben Sie angefangen, sich Sorgen zu machen?«

Sie blickt ihren Mann an, als fiele ihr die Antwort zu schwer, und er sagt: »Wir haben angefangen, uns Sorgen zu machen, als sie nicht rechtzeitig zum Tischgebet vor dem Abendessen zu Hause war.«

»Die Annie isst doch so gern.« Ednas Lachen klingt wie ein Seufzer.

»Und was haben Sie dann gemacht?«, fragt Tomasetti.

»Ich habe natürlich nach ihr gesucht«, erwidert Levi.

»Allein?«

»Mein Sohn und ich haben den Buggy genommen.« Er schüttelt den Kopf. »Wir sind die Straße entlanggefahren, die sie hätte gehen müssen, aber sie war weit und breit nicht zu sehen. Wir haben mit Amos Yoder gesprochen, dem der Gemüsestand gehört, und er hat gesagt, sie sei schon vor einer ganzen Weile da gewesen und dass es ihr anscheinend gutging.«

Ich sehe Goddard an. »Liegt der Straßenabschnitt, an dem wir die Umhängetasche gefunden haben, zwischen hier und dem Gemüsestand?«

Goddard schüttelt den Kopf. »Nein.«

Niemand spricht es aus, aber das bedeutet, dass Annie entweder einen anderen Weg genommen hat oder zu jemandem ins Auto gestiegen ist. »Und wie ging’s dann weiter?«, frage ich Levi.

»Ich bin mit dem Buggy zum Bischof gefahren. Er hat ein Telefon. Wir haben einen Suchtrupp organisiert.« Er stöhnt, als kämpfe er gegen ein Gefühl an, das er nicht zulassen darf. »Alle gesunden Männer und Jungen sind gekommen, um zu helfen. Auf Pferden, mit ihren Buggys. Unsere englischen Nachbarn haben ihre Autos genommen, um mitzuhelfen.«

»Darf ich fragen, warum Sie so lange gewartet haben, um die Polizei zu rufen?«, sagt Goddard behutsam.

»Die Ordnung verbietet gemeinsame …« Er lässt den Satz unvollendet, als wäre ihm gerade klargeworden, dass religiöse Vorbehalte keine Rolle spielen sollten, wenn ein Kind verschwunden ist. »Ich dachte, wir würden sie schnell finden.« Seine geflüsterten Worte klingen harsch. »Wenn ich es noch einmal …«

Goddard nickt verständnisvoll.

»Sie hat gestern Abend nichts zu essen gehabt«, sagt Edna mit kaum wahrnehmbarer Stimme. »Sie hat kein Bett zum Schlafen gehabt.«

Ich wähle meine Worte mit Bedacht. »Mrs King, Sie sagten, Annie würde manchmal unruhig. Gab es vielleicht einen Streit? Oder hat sie sich über irgendwas geärgert? Wäre es möglich, dass sie absichtlich nicht nach Hause gekommen ist?«

Levi schüttelt entschieden den Kopf. »Nein. Sie ist ein gutes Mädchen. Das würde sie uns niemals antun.«

Edna bleibt stumm, schüttelt nicht einmal den Kopf. Doch manchmal ist Schweigen vielsagend, und so registriere ich im Stillen ihre Reaktion. Vielleicht ist sie in etwas eingeweiht, wovon ihr Mann nichts weiß. Manchmal vertrauen sich Töchter ihrer Mutter an …

»Gab es nicht vielleicht doch Probleme mit Annie?«, beharre ich sanft. »Hat sie gegen Regeln verstoßen? Oder war sie in letzter Zeit wegen etwas unglücklich?«

Der Blick, den die beiden jetzt wechseln, ist so unmerklich, dass er mir fast entgangen wäre. Doch etwas stimmt hier nicht, ich spüre, dass sie mir Informationen vorenthalten. »Wir sind nicht hier, um über Sie zu richten«, sage ich. »Oder über Annie.«

»Wir wollen einfach nur Ihre Tochter finden«, fügt Tomasetti hinzu.

Doch Edna und Levi King hüllen sich weiter in Schweigen. »Hören Sie«, sage ich schließlich, »ich weiß, dass Teenager manchmal Fehler machen. Auch amische Teenager.« Ich sehe Edna eindringlich an. »Selbst gute Mädchen«, füge ich auf Pennsylvaniadeutsch hinzu, und schließe damit Tomasetti und Goddard bewusst aus.

Kurz darauf nickt Levi. »Annie ist sehr eigenwillig.«

»Sie ist ein gutes Mädchen«, sagt Edna schnell.

Bei mir läuten sofort die Alarmglocken. Denn ich weiß, dass Eltern meist nicht grundlos die Tugendhaftigkeit ihres Sprösslings hervorkehren. Wenn sich zum Beispiel das Kind nicht ganz so wohlverhält, wie sie es die anderen glauben machen wollen – wie sie es sich gern selbst einreden wollen.

Plötzlich bedeckt Edna mit zitternden Händen ihr Gesicht. »Sie ist ein gutes Kind.«

Ich habe wirklich nicht die Absicht, mir ihren Unwillen zuzuziehen, denn momentan sind die Eltern unsere beste Informationsquelle. Doch wenn ich sie nur mit Glacéhandschuhen anfasse, werde ich nicht das bekommen, was ich brauche, nämlich die Wahrheit – und zwar die ganze.

Ich lasse das erneute Schweigen bewusst zu, damit sie einen Moment nachdenken können. Schließlich wende ich mich wieder an Edna. »Haben Sie schon mit Annies Freunden gesprochen?«

»Sie ist meistens für sich.«

»Hat sie eine beste Freundin?«, beharre ich, denn egal, ob amisch oder englisch, Mädchen in diesem Alter haben immer eine Vertraute.

Ednas Gesicht hellt sich auf. »Sie hat sich mit dem Mädchen der Stutz’ angefreundet. Letzte Woche sind sie nach dem gemeinsamen Gebet zu einem Singen gegangen. Sie heißt Amy.«

Ich notiere den Namen. »Wissen Sie, wo die Familie Stutz wohnt?«, frage ich den Sheriff.

Er nickt. »Nur ein Stück weiter unten an der Straße.«

Ich wende mich wieder Edna zu. »Fällt Ihnen noch etwas anderes ein, das uns helfen könnte, sie zu finden?«

Als die Frau meinem Blick ausweicht, sehe ich Levi an. Er starrt auf den Tisch, weiß auch etwas. Ich sehe es an seinen hängenden Schultern, den angespannten Nackenmuskeln. Tomasetti und Goddard bemerken es sicher auch, und wir können nichts weiter tun, als ihnen Zeit zu lassen und zu hoffen, dass sie sich uns gegenüber doch noch öffnen.

Eine ganze Minute lang sind das Zischen des Dochtes in der Lampe und das Ticken der Uhr im Regal die einzigen Laute im Raum. Dann hebt Levi den Kopf und sieht mich an. »Sie hat Umgang mit Englischen gehabt.«

Edna sieht ihn ruckartig an. »Levi …«

»Kennen Sie ihre Namen?«, frage ich schnell.

»Nein.«

»Hat sie einen festen Freund?«

Den Blick, den sich das amische Ehepaar jetzt zuwirft, kenne ich nur zu gut. Und auch seine Bedeutung. Es ist der gleiche Blick, den ich in den Augen meiner Eltern gesehen habe. Scham. Das Bedürfnis, die Sünden des Kindes totzuschweigen. Ich weiß das, denn ich war auch einmal so ein sündiges Kind. Und das ist genau die Frage, die sie nicht hören wollten, denn die Antwort ist ihnen äußerst unangenehm. Weil sie eine Realität manifestiert, die sie nicht wahrhaben wollen, weder sich selbst noch Außenstehenden gegenüber. Das ist allerdings auch der Grund, warum wir in dieses amische Haus gebeten wurden.

Levi presst die Lippen zusammen, als wolle er die Worte nicht hinauslassen, die ihn so bedrücken. »Wir glauben, dass ein englischer Junge ihr den Hof gemacht hat.«

»Hat Annie Ihnen das erzählt?«

Der amische Mann schüttelt den Kopf. »Dan Beiler hat sie zusammen in der Stadt gesehen.«

»Kennen Sie den Namen des Jungen?«

»Nein.« Er sieht überall hin, nur nicht mir in die Augen. »Er hat ein Auto. Sie verschwindet manchmal, ohne uns dann zu sagen, wo sie war.«

»Wissen Sie, was für ein Auto das ist?«

»Wir wissen das nicht«, sagt er.

»Sie spricht nicht mit uns über ihn«, bricht es aus Edna heraus.

»Wir haben ihr verboten, mit den Englischen zu reden«, sagt Levi. »Aber sie hört nicht auf uns.«

»Unsere Annie meint zu wissen, was sie will.« Ednas Stimme bricht. »Und wenn sie etwas will, kann sie niemand davon abbringen.«

»Aber ihr Glaube ist stark«, fügt Levi hinzu. »Sie liebt ihre Familie. Sie ist freundlich und gottesfürchtig.«

Doch auch Gläubige müssen manchmal mit dem Teufel kämpfen.

Ich stehe auf. »Mr und Mrs King, ich danke Ihnen. Sie haben uns sehr geholfen.« Ich schüttele beiden die Hand. »Wir werden alles tun, um Ihre Tochter zu finden.«

Auch Tomasetti und Goddard verabschieden sich. Auf dem Weg zur Tür setze ich in Gedanken noch Amy Stutz auf die Liste der Informationsquellen. Doch es ist Annies Freund, auf den ich wirklich gespannt bin. Denn wenn eine Frau vermisst wird, ist der Hauptverdächtige immer der Mann, der behauptet, sie zu lieben. Das weiß jeder Polizist, der sein Geld wert ist.

* * *

Zehn Minuten später stehen Goddard, Tomasetti und ich auf der vorderen Veranda des Hauses der Familie Stutz. Goddard hat schon zweimal geklopft, doch niemand macht auf. »Wir haben Pech«, sagt Goddard und stößt einen Seufzer aus.

Tomasetti späht durchs Fenster, als lauere vielleicht jemand hinter den Gardinen. »Ich hab immer gedacht, die Amischen verbringen den Abend zu Hause«, knurrt er. »Gehen früh ins Bett und so.«

Goddard sieht mich an, die Amisch-Expertin vor Ort. »Irgendeine Idee, wo sie sein könnten?«

»Vielleicht besuchen sie Nachbarn.« Ich blicke mich um, bemerke die langen Schatten des späten Nachmittags.

»Wir könnten warten«, schlägt Goddard vor. »Vielleicht kommen sie ja bald zurück.«

»Wir brauchen den Namen des Freundes«, sagt Tomasetti.

Ich trete ans Verandageländer und blicke zur Weide, wo acht Jersey-Rinder und zwei junge Pferde sich am saftigen Gras laben. Über den niedriger liegenden Feldern schwebt ein dünner Nebelschleier. Vogelgezwitscher und das Zirpen von Grillen vermischen sich mit der Kakophonie der Ochsenfrösche vom nahen Teich, wo Rohrkolben in Fülle stehen. Wie oft habe ich in meiner Jugend nachts bei offenem Fenster im Bett gelegen und genau diesen Klängen gelauscht? Wie oft habe ich mich gefragt, wie wohl die Welt jenseits der Grenzen unserer Farm aussieht? Ich spüre, wie die Erinnerungen an die Tür klopfen, doch ich lasse sie nicht herein.

Goddard räuspert sich. »Wir gehen kurz was essen und kommen dann zurück.«

»Gute Idee«, sagt Tomasetti.

Kurz darauf sitzen wir wieder im Tahoe und folgen Goddard in einer Wolke aus weißem Staub die unbefestigte Straße entlang.

Eine Frage geht mir nicht aus dem Kopf. »Wenn Annie wirklich einen festen Freund hat und er weiß, dass sie vermisst wird, warum hat er sich dann noch nicht bei uns gemeldet?«

»Vielleicht hat er Dreck am Stecken.«

»Oder sie ist bei ihm.«

»Das halte ich bei dem vielen Blut am Tatort für extrem optimistisch.«

Wir haben schon fast das Ende der Straße erreicht, als ich aus dem Augenwinkel heraus etwas Blaues in der Staubwolke aufblitzen sehe. Beim Blick zurück erkenne ich ein amisches Mädchen im blauen Kleid, das mit einer braunen Papiertüte in der Hand auf dem Seitenstreifen steht und sich tapfer mit dem prallvollen Brombeerstrauch abmüht.

»Stopp«, sage ich unvermittelt.

Tomasetti steigt voll in die Bremsen, und ich werde in den Sicherheitsgurt geschleudert. Der Wagen rutscht kurz, dann fassen die Räder, und er bleibt abrupt stehen. Tomasetti schiebt den Schalthebel auf Parken und sieht mich fragend an. »Amy Stutz?«

»Das Alter kommt hin.«

Ein paar Meter vor uns leuchten Goddards Bremslichter auf. Er fährt an den Straßenrand und hält ebenfalls.

Ich steige aus dem Wagen und gehe auf das Mädchen zu, das mich mit großen Augen ansieht. »Hallo«, sage ich freundlich. »Wei bisch du heit?« Wie geht es dir?

»Ich bin zimmlich gut.« Doch gleichzeitig sieht sie mich an wie einen Axtmörder – und überlegt wohl, schnell nach Hause zu laufen.

»Ich heiße Kate. Ich wollte dir keine Angst einjagen. Ich bin Polizistin.«

»Oh. Guten Tag.« Der Gruß eines wohlerzogenen Mädchens. Sie will nicht mit mir reden, ist aber zu höflich, eine Antwort zu verweigern, wenn ein Erwachsener – selbst ein Englischer – sie anspricht. Ich schätze sie auf etwa fünfzehn Jahre. Sie trägt ein schlichtes blaues Kleid, eine weiße Kapp aus dünnem Stoff, die nicht im Nacken zusammengebunden ist, und ein paar billige Turnschuhe.

»Ich bin auf der Suche nach Mr und Mrs Stutz«, sage ich.

»Sie besuchen gerade die Familie Beiler weiter unten an der Straße. Um sich das Baby anzusehen.«

»Wie heißt du?«

»Amy.«

Ich tue, als interessiere ich mich für die Beeren. »Wie sind denn die Brombeeren?«

»Sehr saftig.« Sie späht in die Tüte. »Nicht allzu viel Ungeziefer.« Sie blickt zum Tahoe. »Sie sind nicht zu verkaufen. Mamm macht Marmelade.«

Sie ist ein hübsches Mädchen, mit haselnussbraunen Augen und Sommersprossen auf der Nase. Ihre Hände sind schmutzig von den Beeren, und am Mund hat sie einen violetten Fleck.

»Kennst du Annie King?«, frage ich.

»Ja.«

Von den dornigen Büschen hat sie Kratzer am Arm, und ich muss an die unzähligen Male denken, als meine Mamm mich zum Pflücken von Brombeeren und Himbeeren schickte. Ich bin immer verkratzt und blutig zurückgekommen, doch die Schmerzen habe ich gern ertragen für den Genuss, den die Beeren mir bereiteten.

»Weißt du, dass sie vermisst wird?«, frage ich.

Das Gesicht des Mädchens ist ganz starr. »Ich habe es gehört.«

»Wir versuchen sie zu finden.«

Sie blickt hinab auf die Tüte in ihrer Hand.

Ich entdecke eine reife Beere unten am Busch, pflücke sie ab und stecke sie mir in den Mund. »Die sind gut.«

»Mein Datt sagt, das liegt am vielen Regen.«

Ich pflücke noch ein paar Beeren und lasse sie in ihre Tüte fallen. »Ich habe gehört, dass du und Annie Freundinnen seid.«

»Sie ist meine beste Freundin.«

Ich nicke. »Ihre Mamm und ihr Datt haben mir gesagt, dass Annie englische Freunde hat. Hat sie dir davon erzählt?«

Das Mädchen weicht ein paar Schritte zurück, als würde ich mit meinen Fragen verschwinden, wenn sie sich selbst entfernt. »Ich weiß nichts darüber.«

Ich lege den Kopf zur Seite und sehe ihr direkt in die Augen. »Bist du sicher?«

Sie fängt an, wie besessen Beeren zu pflücken, reißt Blätter und kleine Zweige mit ab und wirft alles in die Tüte.

»Du bekommst keine Schwierigkeiten«, versichere ich ihr. »Und Annie auch nicht. Wir wollen sie einfach nur finden. Ihre Eltern machen sich große Sorgen.« Wieder pflücke ich ein paar Beeren und lasse sie in ihre Tüte fallen.

Meine Worte scheinen zu ihr durchzudringen. Sie hört auf zu pflücken und senkt den Kopf. »Sie hat zu viele englische Freunde. Sie fährt mit ihnen im Auto. Sie raucht, macht Sachen, die die Englischen machen. Ich hab ihr gesagt, es ist gegen die Ordnung, aber …«

Ich nicke. »Junge Menschen sind manchmal so. Sie machen Fehler.«

Jetzt sieht sie mich zum ersten Mal an, als wäre ich vielleicht doch nicht der Feind.

Mir ist bewusst, dass Tomasetti nur ein paar Meter weiter weg im Tahoe sitzt und uns beobachtet, wartet. »Hat Annie dir von ihrem Freund erzählt?«, frage ich.

Sie schiebt einen dicken Zweig beiseite und löst eine große, violette Beere vom Strauch. »Ja

»Kennst du seinen Namen?«

Sie hört auf zu pflücken und sieht mich an. In ihren Augen sehe ich Kummer und Verwirrung und das furchtbare Gewicht einer Angst, die sie nicht begreift – und über allem die Hoffnung, dass es ihrer Freundin gutgeht. »Sie hat mich gebeten, es niemandem zu erzählen.«

»Wir glauben, dass Annie in Gefahr sein könnte.« Ich warte, doch als sie nichts sagt, wiederhole ich meine Worte von vorher: »Amy, du bekommst keine Schwierigkeiten, okay? Wir wollen sie nur finden. Wenn du etwas weißt, sag es mir bitte.«

Sie zieht die Augenbrauen zusammen, und zum ersten Mal wird mir das ganze Ausmaß ihres Gewissenskonflikts bewusst: das Bedürfnis, loyal gegenüber ihrer Freundin zu sein; das Gebot, sich mit mir, einer Englischen, nicht einzulassen; das Verlangen, zu erzählen, was sie weiß, denn Annie könnte in Gefahr sein. »Er heißt Justin Treece«, sagt sie schließlich.

»Ich danke dir, Amy.« Ich hole den Notizblock hervor und schreibe den Namen auf. »Gibt es sonst noch etwas, das uns helfen könnte, sie zu finden?«

Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Annie hat ein Telefon«, platzt es aus ihr heraus. »Ich hab sie damit telefonieren sehen.«

»Ein Mobiltelefon?«

Sie nickt. »Ich habe Angst um sie.«

»Warum?«

»Ist einfach so.«

Ich strecke die Hand aus, um sie zu berühren, zu beschwichtigen, und ihr für die Hilfe zu danken. Doch sie greift blitzschnell nach ihrer Umhängetasche und läuft so dicht an den Büschen entlang, dass ihr Kleid an den Dornen hängen bleibt. Ohne zurückzublicken, rennt sie nach Hause.

Ich sehe ihr nach, bis sie seitlich am Haus verschwindet, dann steige ich zu Tomasetti in den Wagen und berichte ihm, was ich herausgefunden habe. »Warum erfahren die Eltern immer alles zuletzt?«, brummt er.

»Weil sie vermutlich nicht genug Fragen stellen.«

»Oder weil manche Teenager krankhafte Lügner sind?«

»Das ist echt zynisch.« Ich gebe einen Zischlaut von mir. »Du könntest versuchen, ein bisschen mehr Vertrauen in unsere Jugend zu haben.«

»Könnte ich, wenn da nicht dieses lästige kleine Detail namens Realität wäre.« Er hat bereits Goddards Nummer gewählt und hält das Telefon ans Ohr. »Wir haben einen Namen«, sagt er ohne Vorrede. »Justin Treece.« Ein Schatten huscht über Tomasettis Gesicht, hinterlässt eine finstere Miene. »Mist. Gibt es eine Adresse?« Er lauscht einen Moment und legt dann auf.

»Das klingt nicht gut«, sage ich.

Tomasetti legt das Telefon in die Konsole und startet den Wagen. »Treece hat ein Jahr in Mansfield gesessen, weil er seine Mutter krankenhausreif geschlagen hat.«

Toedliche Wut
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