18.

Kapitel

Frustriert rase ich durch die waldreiche und mit Wiesen und saftigen Weiden durchzogene Landschaft Richtung Monongahela Falls. Wieder einmal kann ich nicht da sein, wo ich sein müsste, nämlich in Buck Creek, und das ärgert mich total. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum die Masts uns nichts vom Selbstmord ihrer Tochter erzählt haben. Zwar glaube ich nicht, dass es relevant ist oder dass sie etwas mit den verschwundenen Teenagern zu tun haben, aber eine Erklärung sind sie mir schuldig.

In den letzten beiden Stunden habe ich mir das Hirn zermartert auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner, einer Verbindung zwischen den verschwundenen Teenagern: Annie King, Bonnie Fisher, Ruth Wagler, Sadie Miller und schließlich Noah Mast.

Was hatten diese fünf jungen Leute – außer, dass sie Amische waren – noch gemeinsam? Bis jetzt haben wir nicht herausgefunden, ob sie sich gekannt oder untereinander Kontakt hatten. Angesichts der räumlichen Entfernung und ihrer begrenzten Mobilität ist es aber eher unwahrscheinlich. Unseres Wissens nach hatte keiner der Teenager Zugang zu einem Computer oder Laptop, so dass sie sich wahrscheinlich auch nicht online begegnet sind. Natürlich hätten sie öffentliche Computer benutzen können, zum Beispiel in einer Bücherei, aber das kann ich mir kaum vorstellen.

Die zweite augenfällige Gemeinsamkeit ist das Alter. Alle sind zwischen vierzehn und achtzehn, und ich überlege, was im Leben eines amischen Teenagers in diesen Jahren alles passiert. Da die meisten Kinder nur bis zur achten Klasse zur Schule gehen, sind sie mit vierzehn damit fertig und haben bereits überlegt, der Glaubensgemeinschaft beizutreten. Einige arbeiten schon, entweder auf der Farm oder, je nachdem, wo sie leben, außerhalb von zu Hause. Andere sind in ihrer Rumspringa, die ein bis zwei Jahre dauern kann. Danach müssen sie sich entscheiden, ob sie sich taufen lassen oder nicht.

Mein Bauchgefühl sagt mir, dass das Alter zwar wichtig, das letztlich verbindende Element jedoch persönlicher Natur sein muss – etwas Einzigartiges, das diese Teenager gemeinsam haben. Aber was ist das? Was übersehen wir? Warum scheint sich bei diesem Fall alles so falsch anzufühlen?

Ich weiß, dass auch Amische Geheimnisse haben, die konservativen Amischen sind da nicht ausgenommen. Meine eigene Familie war, obwohl sie nicht der Alten Ordnung angehörte, auch konservativ. Meine Mamm und mein Datt stellten selbst für amische Verhältnisse ziemlich hohe Anforderungen an meine Schwester, meinen Bruder und an mich. Jacob und Sarah sind mit deren Erziehungsmethode der eisernen Hand gut zurechtgekommen, beide haben sich immer an die Regeln der Ordnung gehalten.

Doch ich hatte Probleme damit. Schon mit zwölf Jahren rebellierte ich gegen die Einschränkungen, denen mein Leben unterworfen war, obwohl ich da noch nicht die leiseste Vorstellung von Freiheit hatte. Doch ich fand, dass alles in meinem Leben bis ins Kleinste vorbestimmt war – von meinen Eltern, vom Bischof, von der Gemeinschaft und der amischen Kultur im Allgemeinen. Ich weiß noch, dass ich meinen Bruder beneidete, weil er – wie alle Männer bei den Amischen – mehr Freiheiten hatte als ich und meine gleichaltrigen Geschlechtsgenossinnen. Selbst damals hat mich diese Ungerechtigkeit schon irritiert.

Meine Unzufriedenheit mündete im Alter von vierzehn Jahren in einer Katastrophe, als ein amischer Mann namens Daniel Lapp in unser Farmhaus eindrang und mich vergewaltigte. Ich war allein an jenem Tag, und ich lernte, was Gewalt ist. Aber auch, wie weit ich gehe, um mich zu schützen. Ich musste erleben, dass ich zu extremer Gewalt fähig bin. Ich lernte, was es heißt, zu hassen – nicht nur einen anderen Menschen, sondern auch mich selbst. Besonders mich selbst.

Als meine Eltern sahen, dass ich meinen Vergewaltiger erschossen hatte, entdeckte ich zudem, dass selbst anständige, gottesfürchtige Leute das Gesetz brechen. Dass sie, um ihre Kinder zu schützen, zu Lügnern werden. Und mir, dem wütenden Teenager, wurde klar, dass sie – unter all dem selbstgerechten Gehabe verborgen – Sünder waren, so wie alle anderen auch.

In den darauffolgenden Jahren widersetzte ich mich jeder Regel, die mir nicht passte – also ziemlich allen. Ich bot meinen Eltern die Stirn, zog über die rigiden amischen Grundsätze her. Ich rebellierte gegen Gott und mich selbst, mischte meine Geschwister auf, brachte meine Eltern in Verlegenheit, enttäuschte den amischen Bischof. Als Mamm und Datt Bedenken bekamen, dass ich einen schlechten Einfluss auf meine Geschwister ausübte, war es Zeit für mich zu gehen. Die Vorstellung jagte mir große Angst ein, doch ich wäre eher gestorben, als das zuzugeben. Und so verließ ich mit achtzehn Jahren Painters Mill und ging nach Columbus, Ohio.

Dabei war meine große Angst immer gewesen, dass ich es nicht schaffen und demütig nach Painters Mill zurückkehren würde. Doch das ist nicht passiert. Meine Mamm kam zu meiner Abschlussfeier an der Polizeiakademie nach Columbus gereist. Meinen Datt habe ich leider nie wiedergesehen. Er starb sechs Monate später an einem Schlaganfall. Als meine Mutter an Brustkrebs erkrankte, wollte ich bei ihr sein und zog zurück in meinen Geburtsort. Sie verzichtete auf eine konventionelle Krebstherapie und entschied sich stattdessen für traditionelle amische Heilmittel. Diese halfen natürlich kaum, so musste sie bis zu ihrem Tod furchtbar leiden. Ich bin immer noch traurig darüber, wie die Dinge damals gelaufen sind.

Ich war sicher keine typische amische Jugendliche, aber das ist nun einmal der einzige Blickwinkel, den ich habe, also vergleiche ich mein Leben mit dem der verschwundenen Teenager. Gibt es da etwas, das uns verbindet?

Die Einzige von ihnen, die ich persönlich kenne, ist Sadie Miller. Die hübsche, rebellische Sadie. Als ich sie das letzte Mal sah, hatte sie bemalte Jeans und ein freizügiges Tanktop an, trug zu viel Make-up und rauchte. Fluchte, weil sie die Macht der Schockwirkung entdeckt hatte. Sadie und ihre Begeisterung für Stoff und Kunst, mit all ihren großen Plänen für die Zukunft. Sadie, die die Regeln bricht.

Die Regelbrecherin.

Etwas macht Klick in meinem Kopf.

»Mist«, sage ich laut. »Das ist es.«

Im letzten Moment sehe ich das Schild für einen Rastplatz, schere nach rechts aus und parke vor dem Picknickbereich. Einen Moment lang sitze ich da, umklammere das Lenkrad und denke nur: Warum sehe ich das erst jetzt?

Ich steige aus dem Wagen, steuere den nächsten Picknicktisch an, ziehe gleichzeitig das Handy aus dem Gürtelclip und drücke die Kurzwahltaste für Tomasetti. Es klingelt einmal, zweimal, ich laufe hin und her, frage mich, ob Tomasetti mir aus dem Weg geht, und bin total erleichtert, als er abnimmt.

»Ich hab die Verbindung gefunden«, falle ich mit der Tür ins Haus. »Alle vermissten Teenager haben die Regeln gebrochen. Sie haben sich unanständig benommen, ihre Gefühle ausgelebt.«

»Weiter, was fällt dir sonst noch ein«, sagt er.

»Jemand hat rebellische amische Teenager im Visier. Bonnie Fisher hatte Sex mit mehreren Partnern. Sie war schwanger, unverheiratet und wollte abtreiben. Annie King hatte einen englischen Freund, einen ›schlechten Jungen‹, und verkehrte mit toughen Jugendlichen. Sie hatte Zweifel, was ihren Glauben betraf, und überlegte, sich gegen eine Zukunft bei den Amisch zu entscheiden.«

Die Worte purzeln mir nur so aus dem Mund. »Sadie Miller ist stolz und individualistisch, trägt Make-up und enge Jeans. Sie raucht Zigaretten, trinkt Bier, hängt mit den Englischen ab. Ihr sind Dinge wichtig, die ihr nicht wichtig sein dürften, so wie ihre Stoffkunst. Sie prügelt sich mit anderen, verdammt nochmal. Und auch sie überlegte, dem amischen Leben abzuschwören.«

Ich halte inne, und Tomasetti sagt: »Ich spiele mal den Advocatus Diaboli, Kate, aber alle diese sogenannten Untugenden gehören zum typischen Verhalten vieler amerikanischer Teenager.«

»Aber nicht amischer Teenager. Natürlich hört man immer wieder von Jugendlichen, die sich während ihrer Rumspringa danebenbenehmen. Aber etwa achtzig Prozent von ihnen lassen sich danach taufen und treten der Gemeinschaft bei. Die vermissten Jugendlichen schlagen nicht einfach nur über die Stränge. Sie verletzen wichtige amische Grundsätze und zeigen absolut keine Reue. Sie weichen von der Norm ab, und jemand hat es sich zur Aufgabe gemacht, etwas dagegen zu tun.«

»Klingt ziemlich gewagt«, sagt er. »Was ist mit Ruth Wagler? Noah Mast?«

»Ich kann noch nicht alle Fragen beantworten, aber ich halte es für wichtig, diesem Zusammenhang nachzugehen.« Ich denke einen Moment darüber nach. »Haben Ruth Waglers Eltern vielleicht irgendwelche Probleme mit ihr erwähnt, bevor sie verschwand?«

»Nein, aber sie waren auch nicht gerade gesprächig.«

»Ich werde mit ihnen sprechen.«

»Nicht so einfach, wenn sie alle kein Telefon haben«, brummt er.

Ich atme tief durch, erleichtert, dass er mit im Boot ist – zumindest mit einem Bein. »Ich weiß nicht, ob ich richtigliege, aber ich hab das Gefühl, dass wir … nahe dran sind.«

»Wobei es von Vorteil ist, dass du dich mit Regelverletzungen gut auskennst.«

Ich lasse die Worte einen Moment im Raum stehen, dann räuspere ich mich und erzähle ihm, dass Irene und Perry Mast vor zehn Jahren eine Tochter verloren haben.

»Komisch, dass sie das nicht erwähnt haben«, sagt er.

»Ich bin gerade unterwegs nach Monongahela Falls – wenn du ein paar Stunden warten kannst, würde ich gern zu den Eltern von Ruth Wagler mitgehen.«

»Ich warte.« Er greift meine Behauptung von vorher auf. »Passt Gideon Stoltzfus auch irgendwo in deine Regelbrecher-Theorie?«

Mit den roten Haaren und Sommersprossen sieht Gideon Stoltzfus zwar freundlich aus wie ein Hundebaby, aber Tomasetti hat recht, was die äußere Erscheinung betrifft: Ob einer harmlos aussieht, heißt nicht, dass er nicht zu den grauenvollsten Taten fähig wäre. »Er selbst ist in einer Position, in der er einen direkten Kontakt mit jungen Leuten herstellen kann, die die amische Glaubensgemeinschaft verlassen wollen.«

»Und das Motiv?«, fragt er.

Ich überlege einen Moment, und ein hässlicher Gedanke schleicht sich in meinen Kopf. »Er ist exkommuniziert. Seine Familie redet nicht mehr mit ihm, er darf nicht mal mehr bei den Mahlzeiten zusammen mit ihnen am Tisch sitzen. Seine Eltern verbieten ihm den Umgang mit seinen Geschwistern – alles Dinge, die einem zusetzen können. Und die Wut erzeugen, enorme Wut.«

»Besonders, wenn die Familie der Lebensmittelpunkt ist.«

»Was auf die meisten Amischen zutrifft«, sage ich. »Und zwar in jeder Beziehung.«

In dem nachfolgenden Schweigen spielen wir beide die Möglichkeiten im Kopf durch.

»Er ist also sauer auf die Amischen«, sagt Tomasetti nach einer Weile. »Er bekommt mit, dass andere Jugendliche einfach das tun, was ihm verboten war, und auch noch damit durchkommen. Sein Leben ist ruiniert, er musste einer anderen Kirche beitreten. Vielleicht ist das sein Weg, um es ihnen heimzuzahlen – er will die Amischen insgesamt leiden sehen.«

»Also ich weiß nicht«, erwidere ich. »Aber deswegen Leute umzubringen ist schon sehr extrem.«

»Na, Wut als eine extreme Emotion gemischt mit noch ein bisschen Irrsinn und/oder soziopathischem Verhalten, und du hast eine beschissene Zeitbombe.«

»Wie findet er die Teenager?«

»Laut eigener Aussage haben die meisten durch Mundpropaganda von ihm gehört und kontaktieren ihn.«

»Und wie erfahren Teenager aus anderen Städten von seiner Existenz?«

»Vielleich hat er eine Art Netzwerk aufgebaut«, erwidert Tomasetti.

Ein solches Szenario scheint mir nicht gerade zwingend und lässt eine Menge Fragen offen.

»Glaubst du, das reicht für einen Durchsuchungsbeschluss?«, frage ich.

»Ich werde es auf jeden Fall versuchen.«

»Wir müssen mit Teenagern sprechen, denen er mal geholfen hat. Vielleicht gab es ja irgendwas, das sie stutzig gemacht hat«, sage ich.

»Ich sehe zu, dass ich ein paar Namen kriege«, erwidert er.

Am liebsten würde ich umkehren und ihm dabei helfen, aber ich bin schon fast bei den Masts. Es wäre Unsinn, jetzt nicht mit ihnen zu reden, wo ich schon mal hier bin. »Ich beeile mich und komme dann sofort zu dir.«

* * *

Als ich diesmal in den schmalen Weg zur Mast-Farm einbiege, nehme ich kaum den Schweinegeruch wahr, noch sehe ich den hohen Mais, der bis an den Wegrand wächst. In Gedanken bin ich noch immer bei dem Gespräch mit Tomasetti. Je länger ich darüber nachdenke, dass Gideon Stoltzfus etwas mit den verschwundenen Teenagern zu tun haben könnte, desto überzeugter bin ich, dass er auf die Liste der Verdächtigen gehört.

Menschen, die ein Kind entführen wollen, unternehmen meist große Anstrengungen, eine Beziehung mit ihrem anvisierten Opfer aufzubauen, indem sie sich als Berater oder Helfer anbieten. Stoltzfus hat direkten Kontakt mit amischen Teenagern, die überlegen, dem amischen Leben abzuschwören. Aus Erfahrung weiß ich, dass ein Großteil dieser jungen Menschen nicht nur unzufrieden, sondern zutiefst unglücklich ist – womit sie in unser Vermisstenprofil passen. Sie sind in gewisser Weise hilfsbedürftig und deshalb aufgeschlossen für jemanden, der behauptet, alle ihre Probleme lösen zu können.

Ich weiß ebenfalls, dass der Buschfunk ein machtvolles Kommunikationsmittel in amischen Gemeinden darstellt, und kann mir gut vorstellen, dass sich Gideon Stoltzfus’ Ruf so verbreitet hat. Es war bekannt, dass er abtrünnige Teenager aufnehmen und ihnen helfen würde, ein neues Leben zu beginnen. Er würde ihnen Geld leihen, ihnen zu essen und ein Dach über dem Kopf geben. Er würde sie beraten und ihnen helfen, Arbeit zu finden.

Und wenn das alles nur der Deckmantel für einen teuflischen Plan war? Wenn Gideon Stoltzfus die perfekte Strategie entwickelt hatte, seine Opfer zu finden?

Bei der Vorstellung bekomme ich eine Gänsehaut. Das Szenario passt – und weder Tomasetti noch ich haben es bis jetzt gesehen. Nur das Motiv ist mir noch unklar. Unseres Wissens steckt kein sexueller Beweggrund hinter den Entführungen. Und die Tatsache, dass sein Ruf einwandfrei ist und er tatsächlich einer Handvoll Teenagern zu einem Neubeginn verholfen hat, ohne dass uns auch nur eine einzige Beschwerde zu Ohren gekommen ist, macht die Suche danach nicht leichter. Oder gab es noch andere Opfer, von denen wir nur nichts wissen? Kann es sein, dass er einigen hilft und andere aus dem Weg räumt? Nach welchen Kriterien entscheidet er, wem er hilft und wen er eliminiert?

Die Amischen erwarten von einem Menschen, der sich unmoralisch verhalten hat, dass er oder sie vor der ganzen Kirchengemeinde um Vergebung bittet. Wer sich dieser Prozedur unterwirft, ist in den Augen der Gemeinde rehabilitiert, unabhängig davon, wie schwerwiegend das Vergehen war.

Und wenn es hier um Bekehrung geht? Wenn Gideon Stoltzfus es sich zur Aufgabe gemacht hat, die »schlechten Amischen« einer Gemeinde zu bekehren? Auf eine perverse, fanatische Weise macht das sogar Sinn – rette die, die du bekehren kannst, eliminiere die, die sich nicht bekehren lassen.

Ich parke hinter einem schwarzen vierrädrigen Buggy. Beim Aussteigen umhüllt mich Schweinegestank wie eine unsichtbare Decke. Inzwischen ist es heiß und schwül, kein Lüftchen weht mehr. Im Westen ziehen schwarze Wolken über den Baumwipfeln auf, was bedeutet, dass ich heute Nachmittag im Regen nach Buck Creek fahren werde.

»Klasse«, murmele ich und blicke mich um. Es ist so ruhig hier, dass ich die grunzenden Schweine hinter der Scheune rumlaufen höre. Im Garten neben dem Haus sitzt ein einsamer Blauhäher im Ahornbaum und beschimpft mich auf dem Weg zum Haus. Ich gehe die Verandastufen hoch und klopfe an die Tür.

Nach einer Weile klopfe ich wieder, diesmal mit dem Handballen. Als sich immer noch nichts tut, überkommt mich absolute Frustration. Verdammt. Die Hände rechts und links um die Augen gelegt, spähe ich durchs Türfenster, aber der Eingangsbereich ist dunkel und still. Ich drehe mich um und lasse den Blick schweifen, überlege, ob sie vielleicht gerade das Vieh füttern und/oder auf dem Feld Heu bündeln. Nicht zum ersten Mal verfluche ich die Amischen, weil sie sich modernen Hilfsmitteln verweigern. Ein Telefon würde alles viel einfacher machen.

Ich gehe zurück zum Wagen, mache die Tür auf und bleibe mit dem Griff in der Hand einen Moment unentschlossen stehen. Es wäre gut, noch vor dem Regen in Buck Creek zu sein, andererseits muss ich wissen, warum mir die Masts nichts vom Tod ihrer Tochter vor zehn Jahren erzählt haben.

»Verdammt.« Ich knalle die Tür zu und mache mich auf den Weg zur Scheune, vorbei am Schlachtschuppen, in dem Tomasetti und ich erst vor zwei Tagen mit Perry Mast gesprochen haben. Die abgetrennten Schweineköpfe sind weg, doch die Vertiefungen im Gras sind noch zu sehen, auch die ölige Blutschmiere. Da die Tür geschlossen ist, gehe ich weiter, vorbei an einem Hühnerstall aus Hasendraht, in dem etwa ein Dutzend Hennen auf dem Boden rumpicken.

Der Gestank nimmt zu, je näher ich der Scheune komme. Im Pferch zu meiner Rechten stecken mehrere Schweine ihre rosa Schnauze zwischen den Holzlatten durch und hoffen auf einen Snack. Ich schiebe die große Tür auf und trete ein, warte einen Moment, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Überall sind Schatten, und es riecht nach muffigen Leinensäcken und Schweinemist. Auf der Westseite tanzen Staubflocken im trüben Licht des schmutzigen Fensters.

»Hallo?«, rufe ich. »Mr und Mrs Mast?«

Oben auf dem Dachsparren sitzt eine gurrende Taube. Neben einem uralten Dungstreuer steht ein großer Heuwagen, dem ein Rad fehlt, an der Wand lehnt ein rostiger Handbohrer, an einem Nagel darüber hängt Ledergeschirr. Ich rieche Sattelseife. In der Ecke liegen mehrere leere Leinensäcke über den Boden verstreut, die Maiskörner drum herum heben sich leuchtend gelb von dem schmutzigen Untergrund ab.

»Hallo? Mr Mast? Hier ist Kate Burkholder.«

Ich gehe zu dem Fenster im hinteren Bereich und sehe hinaus. Direkt darunter befindet sich ein kleiner Pferch mit mindestens einem Dutzend Hampshire-Schweinen, einige liegen im Schatten, andere suhlen sich im Matsch. Rechts davon, auf einer relativ großen Weide, stehen dösend zwei alte Zugpferde sowie ein Wallach mit glänzendem Fell im Schatten eines Walnussbaumes, halten sich schwanzwedelnd die Fliegen vom Leib.

Mein Blick wandert zu dem Feld hinter der Weide, in der Hoffnung, dass dort jemand Heu mäht, aber ich sehe weder Drescher noch Wagen, noch Pferde. Die Masts sind nicht zu Hause, aber ich kann nicht nach Buck Creek fahren, bevor ich mit ihnen gesprochen habe.

»Verdammt«, stöhne ich, denn der ganze Tag ist futsch.

Ich verlasse die Scheune und schließe die Tür hinter mir. In dem Moment fällt mein Blick auf das Gewächshaus zu meiner Rechten. Manche Amischen ziehen in solchen Glashäusern ihre Setzlinge, solange der Boden im Freien noch nicht warm genug dafür ist. Obwohl ich mir kaum Chancen ausrechne, dort jemanden zu finden, mache ich mich auf den Weg dorthin. Inzwischen habe ich auch beschlossen, hier nicht tatenlos auf die Masts zu warten, sondern zum Sheriffbüro zu fahren und dort mit jemandem zu sprechen. Wenn möglich auch mit dem Bischof, falls ich ihn ausfindig machen kann. Irgendjemand wird hoffentlich ein bisschen Licht ins Dunkel um Rebecca Masts Tod bringen können.

Auf dem Weg zum Gewächshaus komme ich an einer Feuerstelle mit einer niedrigen Backsteinumrandung vorbei. In der Mitte steht ein Fünfzig-Gallonen-Fass mit zahllosen Schusslöchern, die zur Luftzufuhr dienen. In meiner Kindheit haben wir auch alles, was nicht kompostierbar war, in ein großes Fass geworfen und verbrannt. Und mit etwas Glück erlaubte unser Datt meinen Geschwistern und mir, Marshmallows über dem Feuer zu rösten.

In der Ferne grollt der Donner wie ein leise knurrender Hund. Der leichte Wind dreht die silbrige Unterseite der Ahornblätter nach oben, so dass sie sich jetzt schimmernd vom schwarzen Himmel abheben. Der beißende Geruch von Asche hängt in der Luft, aber auch von etwas anderem. Und das macht mich stutzig.

Ich atme tief ein, um den Geruch zu identifizieren – er hat etwas Erdiges, Würziges und ein bisschen Exotisches, und er erinnert mich an den Weihnachtsschinken in meiner Kindheit. Nelken, wird mir klar, und bei dieser Erkenntnis fängt mein Herz heftig an zu schlagen. Ich gehe zurück zu der Feuerstelle, trete über das Mäuerchen hinweg und sehe in das Fass, das bis zur Hälfte mit halbverbranntem Müll gefüllt ist. Mein Blick fällt auf die Reste einer Müslibox, eine angekokelte Brotverpackung, doch der Duft nach Nelken herrscht vor und kommt definitiv aus dem Fass.

Mit dem Fuß stoße ich das Fass um, und Asche fliegt auf, als der Inhalt sich über den Boden ergießt. Mit einem leicht verkohlten Ast stochere ich in den Resten herum, finde ein kleines Stück Gartenschlauch, einen Plastikblumentopf. Als ich mich vorbeuge, um das Fass umzustülpen, fällt mein Blick auf eine halbverbrannte Zigarettenschachtel.

Nelkenzigaretten.

Mit klopfendem Herzen starre ich die Schachtel an, während mein Verstand sich abmüht, mit der Entdeckung klarzukommen. Es ist die gleiche Marke, die Sadie auf der Brücke geraucht hat. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein amisches Ehepaar ein Päckchen Nelkenzigaretten in seinem Müll hat? Die gleiche seltene Marke, die ein verschwundenes Mädchen geraucht hat?

Ich ziehe mein Handy aus dem Gürtelclip und rufe Tomasetti an. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden«, sage ich ohne lange Vorrede.

»Ich höre.«

Ich erzähle ihm von den Nelkenzigaretten. »Sadie Miller hat die gleiche Marke geraucht.«

»Wo sind die Masts?«

»Hier jedenfalls nicht.«

Er sagt nichts, schiebt wahrscheinlich die neue Information im Kopf umher auf der Suche nach dem schwer fassbaren Bindeglied, das alles zusammenfügt. »Tomasetti, sie könnten wirklich etwas damit zu tun haben.«

»Du musst dort weg.« In seiner Stimmte klingt Sorge mit, weil ich allein hier bin. »Ich kümmere mich um einen Durchsuchungsbeschluss.«

Ein Donnerkrachen lässt mich zusammenzucken. »Tomasetti, hier fängt’s jeden Moment an zu schütten«, sage ich und mache mich auf zum Explorer. »Ich rufe dich vom Sheriffbüro aus an.«

»Sei vorsichtig.«

»Das weißt du doch«, antworte ich, doch er hat schon aufgelegt.

Lächelnd schüttele ich den Kopf. »Dieser Mann«, murmele ich, öffne die Wagentür und schiebe mich hinters Lenkrad. Ich will gerade starten, als mein Blick auf die offene Tür des Schlachtschuppens fällt.

Toedliche Wut
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